Zuhause verkriechen

Weder die einen noch die anderen! Wer für die Freiheit ist, ist in diesen Tagen zuhause geblieben. von hatice meryem

Die Herzen schlagen sehr unterschiedlich in diesem Land. Manche schlagen zackig im Gleichschritt, andere erwärmen sich für Allah. Wieder andere schla­gen für Lebensfreude und Mitgefühl, für Freiheit und Frieden. In diesen Tagen aber sind sie sehr bedrückt.

Diese Herzen hassen es, früh aufzustehen. Weil sie sich in jungen Jahren mindestens einmal die Knie blutig gerissen haben, weil sie es gelernt haben, stumm zu weinen, weil sie das gekochte Ei in ihrem Brotbeutel zu teilen wus­s­ten, haben sie sich etwas von dem Kind bewahrt, das sie einst waren. Vielleicht halten sie »Béchamelsauce« für den Namen eines fremden Schiffes im Hafen, aber Empathie ist ihnen kein Fremdwort. Sie lieben es, ziellos durch die Straßen zu schweifen, sie berauschen sich an der Schönheit und an der Kunst. Sie glauben nicht, dass man das Unglück mit Gewalt und Zwang abwenden kann; sie empfehlen Bewegung und Heiterkeit, Lesen und Schreiben. Und natürlich aus­giebiges Essen und Trinken.

Sie schätzen den Dichter, der gesagt hat: »Wir werden schöne Tage erleben, Kinder!« Die meis­ten von ihnen sind Romantiker. Weil sie keine Ideologie wollen oder finden, unter deren schützenden Schirm sie sich stellen könnten, durchnässt sie der Regen. Sie frieren. Sie ermüden schnell und sterben jung.

Anders die Herzen, die im Gleichschritt schlagen. Sie erwachen früh am Morgen. Sie wissen nicht wie es ist, bis zum Mittag zu schlafen. Hunde, Katzen und alle unartigen Herzen zu maß­regeln, halten sie für ihre Pflicht. Sie sind Erzieherseelen. Gewiss sind sie gebildet, und sie verabscheuen die Ungebildeten. Sie schätzen das Maßvolle, das Beherrschte. Die Angst davor, sie könnten verlieren, was sie ihr Eigen nennen, raubt ihnen zuweilen den Schlaf. Weil sie wissen, dass ohne ihr Zutun alles in Unordnung gerät, über­lassen sie nichts dem Zufall. Niemals hat man sie im Rausch, niemals ziellos durch die Straßen ziehen sehen. Es ist, als seien sie nie Kinder gewesen, als hätten sie schon im Mutter­bauch ihre Schulterklappen getragen.

Sie fürchten den körperlichen Kontakt. Sie geben alles, um sich und die anderen vor Schädlingen zu schützen. Unermüdlich ermahnen sie zur Wachsamkeit. Wenn sich einer allzu sorglos zeigt, wissen sie ein Memoran­dum auf­zusetzen, das sich gewaschen hat. Natürlich nur, um Unheil zu verhindern. Um die Einigkeit und die Ein­tracht zu wahren, ist ihnen alles gestattet. Dafür entwickeln sie ohne Unterlass geeignete Mit­tel. Ein sehr wirk­sames ist die Angst. Wenn dennoch einer aufzubegehren wagt, ken­nen sie auch schmerzhaftere Kuren.

Noch früher erwachen die Herzen, die für Allah schlagen. Sie fürchten sich panisch davor, von der Morgensonne im Bett erwischt zu werden. Ihre Angelegenheiten erledigen sie im Dunklen. Mit Gespenstern, Dämonen und Hexen sind sie vertraut. Auch sie halten es für ihre vornehmste Pflicht, die Gesundheit zu wahren; auch sie glauben an die Angst. Wenn sie in Bedrängnis geraten, blät­tern sie mit angefeuchteten Fingern in ihrem Buch, das sie in allen Belangen für maß­­geblich halten. Jenen, die ihm folgen, verspricht dieses Buch traumhaften Lohn. Und seitenlang berichtet es von den Qua­len, welche die erwarten, die ihm nicht huldigen. Wenn sie keiner daran hindert, finden diese Herzen nichts dabei, jenen die Kehlen durchzuschneiden, die ihrem hei­ligen Buch keinen Respekt erweisen. Auf Strafen und Schlagen, auf Zurichten und Hinrichten versteht sich niemand so gut wie sie.

Sie erklimmen Tür­me, um sich an Ihresgleichen zu wenden und sind besonders empfindlich, wenn es um weibliche Herzen geht. Um sie vor Unheil zu bewahren, haben sie ein vortreffliches Mittel erfunden: ein verhüllendes Laken. Alles nur, damit sich die weiblichen Herzen sorglos bewegen können. Nur wenn sie den Gleichschritt-Herzen begegnen, erstar­ren die gottgefälligen Herzen, als hätten sie den Leibhaftigen getroffen. Sie verkriechen sich. Wie in diesen Tagen.

Dann gibt es noch die übermütigen Herzen. Leicht verlieren sie die Beherr­schung, stürzen sich auf die Straße und schießen ein friedliebendes Herz nieder.

Wir hatten von der Schwermut gesprochen, die die friedliebenden Herzen erfasst hat. Wir hatten gesagt, dass die im Gleich­schritt schlagenden wie die für Allah schlagenden Herzen sich und allen anderen nichts als die Hölle zu bieten haben. Wir sagen es und geben zu, dass wir uns in unseren Häusern verschlossen haben; dass wir Angst haben. Dafür muss man sich ja nicht schämen. Und was anderes als Angst könnten wir vor denen haben, die ohne Bedenken töten, wenn sie es für nötig halten, und die um ihrer Sache willen noch ihren eigenen Tod klaglos hinnehmen?

Hatice Meryem lebt als Journalistin und Schriftstellerin in Istanbul.