Geht doch nach drüben!

Ostdeutschland zu ignorieren, ist ein Geburtsfehler der Jungle World. Er ist historisch verständlich, sollte aber korrigiert werden. von richard rother

Du bist durch den Osten gefahren / Du sagst, es war teilweise schön / Du bist durch den Osten gefahren / und Du hast Störche gesehn«, singt Funny van Dannen. Der großartige Liedermacher bringt mit diesem Refrain ein Gefühl auf den Punkt, das im Westen Deutschlands und in Westberlin – auch in der Jungle World, die in Berlin-Kreuzberg residiert – weit verbreitet ist: Im Osten gibt es schöne Landschaften und häss­liche Menschen, wobei die Hässlichkeit nicht die Physiognomie, sondern das Outfit und vor allem die Einstellungen der Bevölkerung meint.

Die FAZ findet die Jungle World »unberechenbar«. Das ist, auch wenn es anders gemeint sein sollte, ein großes Lob – hat doch die Jungle World nicht nur wichtige Debatten angestoßen, sondern auch jour­nalistische Neuerungen kreiert: etwa den Small Talk, die regelmäßige Disko, ein ganzes Euro-Ressort oder eine jährliche Sommerreisensondernummer über ein ausgewähltes Land, in das man reiste. In einem aber blieb sich die Jungle World seit zehn Jahren treu: in ihrer reservierten bis ablehnenden Haltung gegenüber dem Osten des Landes.

Dafür gab es in der Gründungsphase der Jungle World gute politische und emotionale Gründe. Die schweren xenophoben Ausschreitungen von Hoyerswerda und Lichtenhagen, die von einem Großteil der ansässigen Bevölkerung getragen wurden, waren Mitte der neunziger Jahre in linken Kreisen noch in schlech­ter Erinnerung, zumal damals wie heute das Problem der Nazi-Gewalt im Osten deutlich größer ist als im Westen.

Emotional kam für die Gründer und Gründerinnen der Jungle World noch etwas anderes hinzu. In der jungen Welt, bei der sie zuvor arbeiteten und aus der sie Mitte 1997 nach großem Streit und einem Streik hinausgeworfen wurden, hatte sich ein nicht unbedeutender Rest an autoritärem DDR-Denken gehalten, auch wenn zahlreiche westdeutsche Linke zur Auffrischung und Radikalisierung des ehemaligen FDJ-Blattes eingekauft worden waren. Die Furcht vor einem Rückfall in autoritäre Strukturen, in denen Sympathisanten der Kommunistischen Plattform der PDS das Sagen haben könnten, war auch ein wichtiges Motiv für die späteren Gründer der Jungle World, in den Konflikt mit der Geschäftsführung des Blattes zu gehen. Nach Streik, Betriebsbesetzung und Gründung eines neuartigen Produktes wollte man mit dem Osten nichts mehr zu tun haben. Dass man sich neue Räume in Kreuzberg – auf gar keinen Fall aber im ungeliebten Treptow, wo die junge Welt ihren Sitz hatte – suchen würde, war von Anfang an unumstritten.

So verständlich es anfangs war – das weitgehende Ignorieren Ostdeutschlands ist ein Geburtsfehler der Jungle World, der auch zum zehnjährigen Jubiläum nicht behoben ist. Ostdeutsche Regionen kamen und kommen in der Zeitung zumeist nur vor, wenn es neue Umtriebe von Neonazis oder klammheimliche Allianzen zwischen dem Rechtsextremismus der Bevölkerung und der Lokalpolitik zu berichten gibt. So verdienstvoll das ist, weil das Nazi-Projekt, national befreite Zonen zu schaffen, gestört und behindert werden muss, so engt diese Sicht das Abbild einer Realität ein, die mindestens genauso vielfältig und widersprüchlich ist wie die in den alten Bundesländern. Im Übrigen ist das auch publizistisch fragwürdig – leben doch noch rund 16 Millionen Menschen in Ostdeutschland, von denen zumindest einige Leser oder Abonnenten der Jungle World sein könnten.

Selbstverständlich dürfte Leser und Sympathisanten der Jungle World, die in Ostdeutschland wohnen, weil sie dort herkommen oder zum Studieren oder Arbeiten (selbst das soll es geben!) dorthin gezogen sind, stark interessieren, was die lokale Neonazi-Szene so treibt. Aber, ihr lieben Kreuzberger Dschun­gelbewohner, fahrt doch mal nach drüben, mal raus aus der Stadt – und nicht nur zum Baden –, und ihr werdet sehen, es gibt im Osten noch viele andere Realitäten, die ebenso berichtens- und analysierenswert sind wie die braune, weil sie mitunter exemplarisch sind für das, was die gesamte Republik betrifft.

Ein paar Beispiele: Ein Großteil der Betriebe im Osten zahlt keinen Tariflohn, das ganze perfide System von Dumpinglöhnen plus Hartz IV wird im Osten vorexerziert. Die Entvölkerung, die im Osten weit fortgeschritten ist, wird auch westdeutsche strukturschwache Regionen treffen. Eine Entwicklung, die das Neonazi-Problem an Ort und Stelle verschärft: Wer kann, geht weg – meist sind das auch die antifaschistischen Jugendlichen, sobald sie aus der Schule kommen –, und die Dumpfen und Braunen bleiben. Und dort gehen dann Neo­nazi-Kader gezielt hin. Insofern begünstigt der wirtschaftliche Niedergang ganzer Landstriche, so schön sie von der Natur her sein mögen, die Entstehung brauner Zonen. Ein Gegenbeispiel scheint diese These zu bestätigen: Im Nordwesten Berlins, um Ora­nien­burg herum, entsteht derzeit eine Bewegung gegen Rechts – und das in einer traditionellen Nazihochburg. Verbesserte S- und Regionalbahnverbindungen haben in den vergangenen Jahren allerdings zu einem Aufschwung in diesen Vororten mit viel Grün geführt. Und viele der Zugezogenen sind offenbar nicht mehr bereit, die kulturelle Vorherrschaft der Neonazis zu dulden.

Auch gibt es im Osten gesellschaftspolitische Entwicklungen, die aus der DDR-Tradition kommen und die für die aktuellen Debatten in diesem Land hoch interessant sind. So ist die Erwerbs­beteiligung von Frauen im Osten deutlich höher als im Westen; konservative Arbeits­marktforscher führen die hohe Arbeitslosenquote im Osten darauf zurück. Zwar ist die Arbeit der Frauen oft notwendig, da ein Lohn gar nicht reichen würde, eine Familie zu ernähren – die hohe Arbeits­bereitschaft von Frauen hat aber tiefere Gründe: Sie wollen nicht materiell abhängig sein von einem Mann, weil sie das in 40 Jahren DDR auch nicht waren. Diese Einstellung geben Mütter ihren Töchtern weiter, und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass ostdeutsche Mädchen bessere Schulabschlüsse haben als Jungs. Diese Differenz gibt es im Westen zwar auch, aber nicht so ausgeprägt. Nach der Schule dann verlassen junge Ostfrauen ihre Herkunftsregionen, wenn sie dort keine Berufschancen haben, und lassen junge Männer in großer Zahl zurück.

Zudem ist es für die allermeisten Ostdeutschen selbstverständlich, dass Frauen, die Kinder haben, arbeiten gehen. Daher haben selbst konservative Bundesländer im Osten die vergleichsweise sehr gute Ausstattung mit Kinderkrippen und -gärten erhalten und in Boom­regionen sogar noch verbessert. Anders gesagt: Baden-Württemberg hat geteerte Feld­wege, aber kaum Kindergärten; Brandenburg hat ungepflasterte Dorfstraßen, aber Kinderbetreuungseinrichtungen.

Noch ein Wort zur Schulpolitik: Das selektive Schulsystem, das Arbeiter- und Ausländerkinder aussortiert, damit der Nachwuchs der bürgerlichen Mittelschicht keine Konkurrenz auf dem Gymnasium, der Universität und dem Arbeitsmarkt bekommt, wurde den ostdeutschen Ländern nach der Wende übergestülpt – und dort stößt es auf viel größere Skepsis als im Westen. Immerhin ist die Ostpartei »Die Linke« die einzige, die dieses System durch eine Gemeinschaftsschule abschaffen will, in der alle bis zur zehnten Klasse gemeinsam lernen.

Kurz gesagt: Im Osten passiert so viel Interessantes, das es wert ist, in den Blick genommen zu werden. Auch und gerade von den skeptischen Redakteuren und Autoren der Jungle World. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Vorschlag: Macht doch eure nächste Auslandssommerreise, bei der Ihr eine Sondernummer mit Themen von dort produziert, nach Ostdeutschland! Es lohnt sich.

Richard Rother wurde in Ostberlin geboren, wuchs in Brandenburg auf und war Mitgründer der Jungle World. Er ist seit mehreren Jahren Redakteur im Berliner Regionalteil der taz.