Die Zeichen auf der Tasse

Graffiti sind dabei, erfolgreich domestiziert zu werden. Entscheidende Impulse dafür kommen auch aus den Reihen der Sprayer selbst. Ein Beispiel ist die Berliner Street-Art-Ausstellung »Backjumps«, die konventionelle Graffiti zeigt und Senioren zu Senior Writers machen möchte. Von Diana Artus

An volle Vernissagen hat man sich mittlerweile gewöhnt. Der Be­su­cher­andrang bei der vor einigen Wochen eröffneten Ausstellung »Backjumps«, die dieses Jahr zum dritten Mal im Berliner Künstlerhaus Bethanien stattfindet, überrascht also nicht, um so weniger, da es sich um eine Graf­fiti- bzw. Streetart-Ausstellung handelt. Denn »Graffiti ist in« – das hat mittlerweile sogar die Landeskommission Berlin gegen Gewalt erkannt, die in einem Brief an die Schüler unter dieser Überschrift schreibt: »Graffiti findet nicht nur Ihr gut, sondern auch Erwachsene: wenn es auf Krawatten auftaucht, auf Postern oder in der Krankenkassenwerbung. Ein bisschen Graffiti-Design auf den Espresso-Tassen ist auch o.k.«

Ein ästhetischer Wert wird mittlerweile gar nicht mehr geleugnet. Gerne kann Graffiti nun auch Kunst sein – es muss nur alles seine Ordnung haben, und das hat es im Bethanien. Nach­dem im Verlauf der ersten »Backjumps«-Ausstellung 2003 dort die Gänge und der Eingangsbereich spontan und fast lückenlos zugetaggt worden waren und so einer der interessantesten und auf jeden Fall »authentischsten« Ausstellungsbeiträge entstanden war, fallen an der diesjährigen Ausstellung die akkurate Präsentation und saubere Wandgestaltung auf. Die »Bitte nicht taggen«-Schilder braucht man gar nicht mehr aufzuhängen. Nachdem 2005 bei »Backjumps« Nummer zwei die Besucher am Eingang nach Eddings durchsucht worden waren, ist die Message offenbar angekommen.

Aber nicht nur Besucherzahlen und Ausstellungsaufbau lassen starke Assoziationen zu her­kömmlichen Kunstveranstaltungen aufkommen. Auch inhaltlich bleibt man auf der sicheren Seite, also konventionell. Die Erwachsenen werden daran bestimmt ihre Freude haben. Andere dagegen werden – enttäuscht oder auch nicht – feststellen müssen, dass so genannte Streetart auch ganz schön vorhersehbar und langweilig sein kann. Das kann man der Ausstellung aber nicht zum Vorwurf machen, denn das erklärte Ziel des Projekts ist es ja, neben der Präsentation verschiedener ur­baner Ausdrucksformen insbesondere die Entkriminalisierung von Graffiti voranzutreiben. Und etwas zu entkriminalisieren, heißt letztlich nichts anderes, als es als harmlos zu erkennen und auch so darzustellen.

Dass Graffiti, solange es illegaler »Vandalismus« bleibt und damit die gängigen Verhaltens­regeln in Frage stellt, durchaus nicht als harmlos angesehen und deshalb ständig mit neuen und härteren Sanktionen belegt wird, zeigt, welch subversives, die öffentliche Ordnung gefährdendes Potenzial ihm offenbar immer noch innewohnt. Und zwar genau durch die Kompromisslosigkeit, Absichtslosigkeit, Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit, die verlorengeht, wenn Graffiti zu Kunst oder Design wird und sich damit wieder klar in herkömm­liche Strukturen und Schub­laden einordnen lässt. Der insbesondere unter Sprayern beliebte Slogan »Graffiti is art, not a crime« gleicht eigentlich einer Entschuldigung. Man rechtfertigt sich. Man sucht Verständnis. Man macht doch bloß Kunst.

Wird dann aber aus den von Baudrillard einst­mals beschriebenen aufständischen Zeichen nicht ganz schnell reine Dekoration, die nicht mehr gegen die Langeweile unserer Städte gerichtet ist, sondern diese letztlich mitproduziert? Wenn man schon morgens Graffiti auf seiner Espressotasse ertragen muss, stört es einen in den Straßen dann nicht mehr oder weniger als jede x-beliebige Stadtmöblierung.

Trotzdem hält sich hartnäckig das Image von Graffiti als spontaner Ausdrucksform des Under­grounds, der Subversion und Revolte. Das Verbotene, das trotzdem gemacht wird, die Revanche der Underdogs – so stellt man sich das Sprayen immer wieder gerne vor. Früher wäre vielleicht der Begriff der »Guerilla« noch eine passende Beschreibung für das wahllose Markieren öffentlichen Raums gewesen, heute denkt man dabei schon eher an Guerilla-Marketing. Denn wie bei jeder schleichenden Vereinnahmung ehemals widerständiger Subkulturen profitiert vor allem die Werbung davon. Tatsächlich haben zahlreiche Marken, insbesondere Mode- und Lifestylelabels, längst die vermeintlich authentische Formensprache des Graffiti für sich entdeckt und problemlos ins eigene Repertoire übernommen, den Mythos vom Widerstand inklusive.

Es ist das alte Spiel: Aus einer spontanen, selbst­bestimmten und die Regeln missachtenden Aktion wird das konsumierbare Bild einer spontanen, selbstbestimmten und die Regeln missachtenden Aktion, mit dem man sich über genau deren Abwesenheit zumindest eine Zeit lang ganz gut hinwegtrösten kann. In diesem Sinne sind Tags auf Werbe­tafeln, wie sie derzeit im Rahmen des Projekts »Domestication« am Moritzplatz zu sehen sind, weniger als subversiver Akt zu verstehen. Vielmehr sind sie eine logische Schlussfolgerung aus den gegenwärtig zu beobachtenden Tendenzen. Die werden mit den Tags, die an Ort und Stelle fotografiert, originalgetreu reproduziert und ohne die Zustimmung ihrer Autoren auf Werbeflächen plakatiert wurden, auf einfache Weise noch einmal konkret und sichtbar gemacht.

Dabei ist es jedoch nicht so, dass die Ästhetik von Graffiti ihren Produzenten einfach nur entwendet, in neue Kontexte gestellt und öko­nomi­schen Verwertungslogiken unterworfen wird, sondern die Sprayer arbeiten des Öfteren auch fleißig mit. Eine ganze Reihe von Akteuren treibt den Prozess der Domestizierung durch freundliches Entgegenkommen und eine hohe Bereitschaft zu Kompromissen selbst mit voran. Legale Flächen und die damit verbundene Legitimation, der Eintritt in den Kunstkontext oder die Akquise bezahlter Aufträge sind für nicht wenige Sprayer Ziele, die es zu erreichen gilt, da sie Sicherheit, Anerkennung und bestenfalls sogar ein Einkommen versprechen. Und sind es nicht auch durchaus verständliche und rea­lis­tische Ziele? Shepard Fairey, der mit seiner »Obey«-Kampagne mittlerweile richtig gut verdient, hat schon Recht, wenn er sagt: »Von seiner Kunst zu leben, ist viel besser, als irgend­einen langweiligen Job machen zu müssen.«

Genauso realistisch sind allerdings die Befürch­tungen anderer Sprayer angesichts solcher Tendenzen. »Wenn wir um Freiraum bitten, wird unsere Arbeit ihre Substanz verlieren. Unsere Interventionen sind spontan und kommen von innen, wenn wir diese Wurzeln verlieren, werden wir nur noch einfache Hausbemaler sein«, schreibt einer in einem Internetforum. »Wer will schon, dass Graffiti akzeptiert wird?« fragt ein anderer.

Ja, wer will das eigentlich? Vielleicht am ehes­ten die, die in Graffiti zwar noch immer eine potenzielle Bedrohung sehen, weil es sich ihrer Kontrolle entzieht, jedoch mittlerweile erkannt haben, dass es sich auch als nütz­liches Ventil gebrauchen läßt, mit dem man gefährlichen Druck mindern kann, wenn man es nur vorsich­tig und in Maßen bedient. Denn wenn etwas erst einmal allgemein akzeptiert ist, lässt es sich auch ganz leicht integrieren. Und wenn es integriert ist, dann lässt es sich umso besser kanalisieren, kontrollieren und für eigene Zwecke gebrauchen. Ein allgemeiner Hype um die Graffitikultur trägt wesentlich mehr zu ihrer Zerstörung bei, als es ein simples Verbot je könnte.

Banksy, aus dem man gerade und offenbar leider erfolgreich versucht, auch eine Kunst­ikone zu machen, veröffentlichte vor einiger Zeit eine an ihn adressierte E-Mail, in der ihn zwei Leute aus einer einfachen Wohngegend Londons bitten, seine Sachen in Zukunft woanders zu sprühen, da mehr und mehr Yuppies und Studenten, angelockt von seinen Schablonengraffiti, ins Viertel zögen in der Annahme, es sei jetzt cool. Die durchaus nahe liegende Befürchtung der beiden war, dass sie sich bald keine Wohnung mehr in der Gegend leisten können. So sieht sie also heute aus, die viel­­beschwo­­rene Broken Windows Theory, nach der das Auftauchen von Graffiti nur der Anfang eines beginnenden Zerfallsprozesses ist. Wer dann wie und warum welche Stadt zurückerobert, bleibt eine offene Frage.