Die Beziehungsweise

Eine Kritik der besitzergreifenden Liebesbeziehung darf das Moment der Sehnsucht in ihr nicht ignorieren. Zum Verhältnis von Disziplin, Monogamie, offenen Beziehungen und Kritik. Eine Antwort auf das Dossier »Dem Leben Schönes schenken« von Oliver Schott. von sebastian winter

Die Polarisierung von Erfahrung in einen Modus des konkreten Erlebens und einen des abstrakten Denkens ist das treibende Element in der Dia­lektik der Aufklärung. Das passive Sich-vom-Gegenüber-ergreifen-lassen steht antagonistisch zu dem autonomen Gedanken, der sich aktiv und herrisch seinem Objekt nähert, da er der Nähe, die er begehrt, als Preis für seine Autonomie entsagt hat. Diese Kluft charakterisiert sowohl den Blick positivistischer Naturwissenschaften und Neospiritualitäten als auch die bürgerliche Liebe. Während die – männlich assoziierte – öffentliche Sphäre der politischen Ökonomie sich als eine vom Besonderen des Einzelnen abstrahierende und autonome Subjekte erfordernde entwickelte, wurde die – weiblich assoziierte – private und leibliche Sphäre zum Hort von Irrationalität erklärt, aber auch von naiver Moral und Identität stiftendem Sinn. Ganzheit schien in diesem Dualismus erreichbar über Vermählung. In der pa­triarchalen Ehe als von Liebe gestifteter Gemeinschaft sollten beide Pole – in heterosexueller Verkürzung des Mythos des Aristophanes – zusammenfinden. Als Entgegensetzung zur tauschvermittelten Gesellschaft wurde Liebe insbesondere von der Romantik zum Refugium unmittelbarer Begegnung idealisiert. Die »geschwätzige Sexualität« (Michel Foucault) dieser Zeit verwarf die leiblichen Regungen dabei durchaus nicht, sondern widmete ihnen vielmehr Aufmerksamkeit, Hege und Pflege, damit sie sich richtig entwickelten.

Der ideologische Charakter ist so offensichtlich wie die Sehnsucht, die die Ideologie speist. Liebe versprach eine Versöhnung, die sie als bloßes Negativ der Spaltung nicht einlösen konnte. Nichtsdestotrotz hat die Utopiesuche in Liebe und Sexualität auch in den Neuen Sozialen Bewegungen eine lange, nicht immer glanzvolle Geschichte. Von »Lest Wilhelm Reich und handelt danach!« (Graffito an der Uni Frankfurt) bis zum »Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!«-Flugblatt mit Reichs abgehacktem Penis als Trophäe an der Wand (Wei­ber­rat Frankfurt) war das Ziel die Re­etablie­rung einer verschütteten Tiefenschicht authen­tischer Sexualität, die ihre konformistischen Verformungen durchdringen und so die Grundfesten der bürgerlichen Gesellschaft erschüttern sollte.

In der Folge von Foucaults Kritik an der Suche nach der »richtigen« Sexualität, der Illusion, mit ihr gegen die Macht zu opponieren, und der Verleugnung des gewaltförmigen Charakters der Selbstzurichtung und verdinglichten Selbstinterpretation wurde es allerdings stiller um das Thema. Mit der zunehmenden Hegemonie dekons­truktivistischer Ansätze war der Bezug auf eine »wahre« Sexualität desavouiert.

Vor zwei Wochen fand sich nun in der Jungle World (35/07) ein Dossier – »Dem Leben Schönes schenken« von Oliver Schott –, in dem die Frage nach Emanzipation und Liebe neu aufgeworfen wurde. Das monogame »romantische Beziehungsmodell« stellt demnach ein »rätselhaftes Überbleibsel vergangener Zeiten« dar, das, obwohl es nach wie vor das weitaus am häufigsten praktizierte sei, »niemand mehr recht versteht«. Demgegenüber preist Schott ein »offenes«, »vernünftiges« und »rationales Beziehungsmodell« an, das sehr viel »fortschrittlicher« sei. Er formuliert, und darin ist dieser Text tatsächlich auf der Höhe der Zeit, keine Kritik mehr, die die bürgerliche Liebe mit ihrem uneingelösten Versprechen konfrontiert, sondern ein Optimierungskonzept systemtheoretisch gefasster Beziehungsmodelle. Schott fragt nicht nach dem Wahren, sondern pragmatisch nach dem optimalen Funktionieren als einzigem Kriterium des Richtigen.

Zunächst beschreibt er, wieso die herkömmliche Beziehungsform in sich dysfunktional sei. Insbesondere die Gleichzeitigkeit von »Sexual- und Lebenspartnerschaft«, die eine »Romantische Zweierbeziehung« (RZB) (im Slang ihrer Verächterinnen und Verächter) erfüllen solle, führe zu Widersprüchen: Lebenspartnerschaft impliziere empathische Nähe, Sexualpartnerschaft dagegen eine gewisse Distanz, die das Begehren wach halte. Es folgen Allgemeinplätze: Mit Freundinnen und Freunden lasse sich vertrauensvoller reden als mit Sexpart­nerin­nen und ‑partnern, im Laufe einer engen Beziehung lasse das Begehren nach, zumindest den »Appetit« müsse man sich woanders holen, und Seitensprünge könnten durchaus entlastend wirken, seien aber verboten. Intimität und Begehren würden so tendenziell zu sich ausschließenden Gegensätzen und letztlich aufgespalten in sexuelle Beziehungen einerseits und »platonische« Freundschaften andererseits, was aber dem Anspruch zuwiderlaufe, Intimität und Sexualität in einer monogamen Beziehung zu erleben. Besonders übel sei an dem »romantischen Modell«, dass es durch diese Spaltung dort, »wo Verlangen nicht durch ›Liebe‹ entgiftet wird«, den/die Andere(n) zwangsläufig in ein »Sexobjekt« verwandele. Während Freundschaften einer »Enterotisierung« unterlägen, litten sexuelle Beziehungen an einer »Entplatonisierung«. Hier sieht Schott den Ursprung der in Sexualität eingelagerten Erniedrigung und Dominanz.

Obwohl dieses Liebeskonzept also »jeden Nutzen, den es erzielen könnte, sogleich wieder zunichte macht«, benutze kaum jemand die vielfältigen Möglichkeiten des nicht auf der sexuellen Exklusivität einer einzigen Beziehung beruhenden Liebens, die in der postmodernen Gesellschaft zur Verfügung ständen. Warum nicht? Schott stellt die Diagnose: Eine tiefsitzende, qua »Sozialisation« und »Massenmedien« vermittelte Verkrustung der Affektstrukturen sei schuld an der mangelnden Umstellungsbereitschaft. Eifersucht macht er dabei als Hauptstörfaktor aus.

Auf die Diagnose folgt die Therapie. Als »praktische Konsequenz« führt Schott den Klassiker an: Selbstdisziplin. Zunächst müsse sich jeder selbst befragen, was er denn eigentlich wolle. »Was ist meine Façon?« Wenn dann die richtigen von den störenden, den in der schlechten Gesellschaft generierten Gefühlen geschieden seien, sollten letztgenannte »überwunden« werden: »Natürlich wird Eifersucht nicht einfach dadurch verschwinden, dass man sich tausendmal vorsagt, warum sie unvernünftig ist. Echte Selbstkritik erschöpft sich nicht in der Einsicht, dass Eifersucht dumm ist; man muss auch entsprechend handeln. Das kann dazu führen, dass man sich eine Weile ziemlich schlecht fühlt, aber das gilt auch für den nächsten Zahnarztbesuch.«

Die Belohnung für diese Selbstbehandlung, die Eifersucht wie einen faulen Zahn zieht, sei eine optimierte, zeitgemäßere Möglichkeit, Sexua­lität und Liebe zu handhaben. Erst dann könne man »in einem ernsthaften Sinne als beziehungsfähig gelten« und sich an seinen »menschenfreundlichen, lust- und liebevollen« Beziehungen erfreuen. Die aufgespaltenen Ansprüche an »Beziehungen« fänden so, aus ihrer sie auseinander treibenden Zwangsgemeinschaft entlassen, entspannt zusammen.

Im Gegensatz zu Schotts fortschrittlich getunten Beziehungen wohnte den großen »RZB« der Literatur seit Romeo und Julia immer ein tragisches Moment inne. Was Schott als ihre abzustellende Dysfunktionalität beschreibt, macht gerade das Erschütternde an ihnen aus. Der liebende »Kampf um Anerkennung« (Axel Hon­neth) innerhalb der Ambivalenz von Nähe und Distanz, Ähnlich- und Anderssein, Dominanz und Unterordnung, Verbot und Begehren ist ein Spiel mit hohem Einsatz. Eben die Dynamik ihrer grenzüberschreitenden Tollkühnheit verleiht der Liebe aber ihr widerspenstiges Moment, das sie der gesellschaftlichen Ordnung (auch der Ehe – aber was wäre an Werther so verstörend, wenn er einfach mit Lotte ins Bett gegangen wäre?) entgegenhält. Liebe fügt sich in ihrer Widersprüchlichkeit, ihrem Hin- und Hergerissensein, ihrer Unmöglichkeit keinen Beschreibungen, Bedienungsanleitungen oder Flussdiagrammen.

Die monogame, heterosexuelle und herrschaftsförmige Ruhigstellung dieser bürgerlichen Leidenschaft ist so wenig eine Lösung wie die Reich’sche Orgasmusmystik oder ihre flexible Abmilderung durch die Schaffung von Ausweichmöglichkeiten à la Schott. Das abgewehrte Wissen um diese Vergeblichkeit schlägt sich nieder in dem Abtun von Schwierigkeiten bei der Verwirklichung des neuen Modells. Schott sieht durchaus, dass es Menschen geben könnte, die Probleme damit haben, die nötige Disziplin aufzubringen. Doch das seien dann halt »Extremfälle« oder »pathologische Fälle«. Eine Kritik des besitzergreifenden Sadomasochismus in der Liebe (Jessica Benjamin) aber darf das Moment von Sehnsucht in ihm nicht ignorieren. Nur durch die in der Entfremdung konstituierten Formen hindurch ist das Bessere erahnbar. Ihr (scheinbar) reibungsloses Zusammenspiel aber führt in die Hoffnungslosigkeit. Liebe verliert mit der Einebnung ihrer Widersprüche jenes Element, das auf Anderes verwies, ohne doch selbst mit ihm identisch zu sein.