Über Sex und den König darf niemand lachen

Die Wahlen in Marokko gelten als Schritt zur Demokratisierung. Doch die Grenzen der Freiheit zieht weiterhin Mohammed VI. von david siebert

Lahcen Daoudi hatte sich ein besseres Ergebnis erhofft. In den Umfragen war seiner konservativ-islamischen »Partei der Gerechtigkeit und der Entwicklung« (PJD) vorhergesagt worden, sie werde als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen. Doch der monarchistische Parti de l’Istiqlal (Partei der Unabhängigkeit) wird 52 Abgeordnete stellen, der PJD nur 46. »Es ist schmutziges Geld geflossen«, behauptet Daoudi. »Das können wir beweisen.« Internationale Beobachter stellten bei den Wahlen am vergangenen Freitag jedoch keine größeren Unregelmäßigkeiten fest.

So dürften die Wahlen als Bestätigung dafür gewertet werden, dass Marokko sich auf dem Weg der Demokratisierung befindet, auch von der EU-Kommission, die für die nächsten vier Jahre Hilfszahlungen in Höhe von 654 Millionen Euro angekündigt hat. Marokko gilt als eines der liberalsten Ländern der arabischen Welt. Seit der Einführung der Mudawana, des neuen liberaleren Familienrechts, genießen auch die Frauen größere Rechte und Freiheiten. König Moham­med VI. hat sogar die Menschenrechtsverletzungen während der »bleiernen Jahre« unter der Herrschaft seines Vaters, König Hassan II., zum Thema gemacht.

Die Freiheit hat allerdings Grenzen, der König behält sich das letzte Wort vor. »Die Verfassung stellt der Monarchie einen Freibrief aus: Sie kann sich über alles hinwegsetzen. Alle Verfassungsänderungen gingen bisher alleine vom König aus, nie vom Parlament«, sagt der Menschenrechtler Abdelhamid Amine. Den Veränderungswillen der Parteien beurteilt er skeptisch: »Sie wollen die Verfassungsfragen im Einvernehmen mit dem König klären.«

In den Monaten vor den Wahlen hatte der makh­zen, wie die Seilschaften zwischen Königshaus, Wirtschaft und Staatsapparat in Marokko genannt werden, zunehmend nervös auf Kritik reagiert und versucht, Oppositionelle in ihre Schranken zu verweisen. Anfang August beschlagnahmten die Behörden 100 000 Exemplare des französischsprachigen Wochenmagazins Tel Quel und seiner arabischsprachigen Ausgabe Nichane. Der Journalist und Herausgeber, Achmed Benchemsi, hatte im Editorial der beiden Magazine gewagt, eine Thronrede Mohammed VI. zu den Parlamentswahlen zu kritisieren. Nun wird gegen ihn wegen »Beleidigung des Königs« ermittelt.

Kritische Wochenmagazine haben sich auf dem Zeitschriftenmarkt etabliert und mit Aufmachern wie »Die Marokkaner und der Alkohol«, »Homosexualität in Marokko« oder »Das Vermögen des Königs« für Aufsehen gesorgt. Doch die Klagen von Journalistenverbänden häufen sich, ein Bericht des Committee to protect Journalists (CPJ) beschreibt Marokkos Pressefreiheit als »Fas­sade«. »Die Behörden üben den Druck indirekt über die Justiz aus«, meint Joel Campagna, Verfasser des CPJ-Berichts. »Gegen eine Reihe von unabhängigen Medien wurden extrem hohe Scha­denersatz­forderungen wegen angeblicher Verleumdungen verhängt. Die marokkanischen Journalisten, mit denen wir gesprochen haben, lassen keinen Zweifel daran, dass mit den Urteilen regimekritische Journalisten bestraft werden sollen.« So verhängte die Justiz im April 2006 gegen Aboubakr Jamaï, den Herausgeber des Journal Hebdo, eine Strafe von umgerechnet 270 000 Euro.

Statt vormals 26 führt das neue Pressegesetz nur noch vier Tatbestände auf, für die Haftstrafen verhängt werden können. Wer die Königs­familie kritisiert, die »Moral der Armee untergräbt«, den Islam oder die Integrität des Nationalstaats in Frage stellt, kann weiterhin mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der Artikel »Wie die Marokkaner über Sex, Politik und Religion lachen« brachte zwei Journalisten Anfang des Jahres drei Jahren Gefängnis auf Bewährung und 7 200 Euro Geldstrafe wegen Verletzung der »heiligen Werte« der Monarchie und des Islam ein, gegen ihr Magazin Nichane wurde ein zweimonatiges Publikationsverbot verhängt.

Auch Proteste auf der Straße werden bekämpft. Täglich demonstrieren die »Arbeitslosen Akademiker« – 30 Prozent der Hochschulabsolventen in Marokko finden keinen Job – auf dem Boulevard Mohammed V. in Rabat. »Wir haben viel Repression und Gewalt seitens der Polizei erleben müssen. Es gab Verletzte, Knochenbrüche, an einem einzigen Tag wurden mehr als 30 Demons­tranten verletzt«, berichtet Samira. Nach einer Demonstration am 1. Mai wurden zahlreiche Mitglieder der marokkanischen Menschenrechtsorganisation AMDH festgenommen. »Sie sollen Parolen gerufen haben, die den König kritisieren. Das gilt in Marokko als Strafbestand«, erklärt Abdelhamid Amine, Vizepräsident der AMDH. Die Aktivisten wurden zu Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren und zusätzlichen hohen Geldstrafen verurteilt. Teilnehmer einer Kundgebung der AMDH am 15. Juni, die die Freilassung der Gefangenen forderten, wurden von der Polizei niedergeknüppelt. Mehr als 30 Personen mussten ins Krankenhaus gebracht werden.

Probleme können liberale Dissidenten auch mit konservativen Muslimen und Islamisten bekommen. Der PJD präsentiert sich als »saubere Partei«, er kritisiert die Korruption, aber auch die »Verwestlichung« Marokkos. Veranstaltungen wie das Gawa-Weltmusikfestival in Essaouira werden von der PJD-nahen Zeitung al-Tajdid schon mal als Hort der »Ausschweifungen, der Drogen und der Homosexualität« bezeichnet. Während des Fastenmonats Ramadan forderte die Zeitung in einem »offenen Brief« Homosexuelle dazu auf, sich »von Satan abzuwenden«.

Für den makhzen ist der PJD eine willkommene Alternative zu radikaleren Gruppierungen wie der islamistischen Bewegung »Gerechtigkeit und Wohlfahrt«. Sie nimmt nicht an den Wahlen teil und ist formell verboten, ihre Aktivitäten werden jedoch toleriert. Mit Suppenküchen und Alphabetisierungskampagnen hat sich die Bewegung von Sheikh Yassine vor allem unter den Armen in den Slums der Großstädte einen Namen gemacht. Allerdings treten die Islamisten auch als moralische Ordnungshüter auf. An einigen Stränden in Marokko versuchten sie, Badegäste, die sich nicht an die strenge islamische Kleiderordnung halten wollten, zu vertreiben.

Die Bewegung »Gerechtigkeit und Wohlfahrt« kritisiert offen die Monarchie. So forderte Sheikh Yassine vom König, dass er mit seinem Vermögen Marokkos Auslandsschulden bezahlen soll. Dem Wirtschaftsmagazin Forbes zufolge beträgt das Vermögen Mohammed VI. fünf Millarden Euro. Mit Nadia Yassine, der Tochter des greisen Sheikhs, steht mittlerweile eine Frau an der Spitze der Bewegung. Sie fordert nicht nur eine Rückbesinnung auf den Islam, sondern auch eine Umverteilung des Reichtums in Marokko. Als sie in einem Zeitungsinterview den König kritisierte und sich für eine »Republik« einsetzte, wurde gegen sie ein Strafverfahren wegen »Majestätsbeleidigung« eingeleitet.

»Die Jugend ist frustriert. Die Politiker überzeugen sie nicht mehr, deswegen wenden sie sich den fundamentalistischen Parteien zu«, sagt Sbai Said, Jurist und Aktivist der Gruppe »Doktoranden ohne Arbeit«. Obwohl das Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren durchschnittlich fünf Prozent betrug, ist die soziale Situation Marokkos immer noch desolat. Die tatsächliche Arbeitslosenquote dürfte derzeit erheblich höher liegen als die in offiziellen Statistiken ausgewiesenen elf Prozent.

Im vergangenen Jahr konnten 40 000 Beamte in den vorzeitigen Ruhestand gehen, bisher wurden aber nur 2 000 der frei gewordenen Arbeitsplätze neu besetzt. Die Stellenreduzierung ist Teil der »Strukturanpassungsmaßnahmen«, die internationale Finanzinstitutionen von Marokko verlangen. Der Monarch muss allerdings nicht sparen. Tel Quel deckte vor einiger Zeit auf, dass das Budget des Königshauses 210 Millionen Euro beträgt. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich hingegen auf nur 1 460 Euro, und rund 50 Prozent der Erwachsenen sind Analphabeten.

Eine Opposition, die dem makhzen gefährlich werden könnte, gibt es derzeit nicht. Das komplexe Wahlsystem verhindert, dass eine Partei das 325 Abgeordnete zählende Parlament dominiert. Die bislang stärkste Partei, die USFP (­Union der Sozialistischen Volkskräfte), verlor 12 Sitze. Solange sie sich in der Opposition befand, hatte sie demokratische Verfassungsänderungen gefordert, seit sie mit dem Istiqlal regierte, war davon nicht mehr die Rede. Mit dieser Politik waren die Wähler offenbar unzufrieden. Weit größer noch ist der Anteil der Unzufriedenen, die sich von keiner Partei etwas versprechen. Die Wahlbeteiligung war mit 37 Prozent niedriger als jemals zuvor.