No way out

Kapitalismuskritik und die Kritik sozialer Ungerechtigkeit haben nichts gemeinsam. Ein nicht regressiver Antikapitalismus muss das fetischisierte Verständnis von der Naturgegebenheit von Staat, Markt und Waren produzierender Arbeit durchbrechen. Das geht nicht ohne eine Kritik des bürgerlichen Staats. von der gruppe theorie. organisation. praxis. berlin

Im Jahr 1990 war das Ende der Geschichte erreicht. Nach 50 Jahren Blockkonfrontation mit mal mehr, mal weniger kaltem Krieg hatte sich der freie kapitalistische Westen mit seiner überlegenen Ökonomie und demokratischer Herrschaft als Sieger im Systemvergleich durchgesetzt. Doch der strahlende Glanz des Sieges verblasste schnell: Neue Kriege, Naturkatastrophen und das Weiterbestehen der sozialen Ungleichheiten drangen ins öffentliche Bewusstsein; eine neue globalisierte antikapitalistische Bewegung entstand und schuf der von Niederlagen und Ohnmachtsgefühlen getriebenen radikalen Linken ein neues revolutionäres Subjekt.

Eine der praktischen Intervention vorauszusetzende genaue Untersuchung des zu negierenden Gegenstands versuchten aber nur wenige und so tadelten die Dichter und Denker von FAZ bis Lettre International die Bewegung für ihre gedanklichen Unzulänglichkeiten. Die Kritik am und der Wunsch zur Überwindung des Kapitalismus ist ein hehres Anliegen, der getroffene Entschluss zur Gegnerschaft ist zu begrüßen. Das vor allem subkulturell bestimmte Andienen an den Antikapitalismus auf der Basis eines Lebensgefühls jedoch und die Bedienung dieses Gefühls durch linksradikale Gruppen ist problematisch und wirft einige Fragen auf.

Grundannahme dieses Textes, der sich an der Bestimmung einer nicht regressiven Kapitalismuskritik versucht, ist die Diagnose des Vorhandenseins eines »regressiven Antikapitalismus«, auch wenn fraglich scheint, ob diese Formulierung das Phänomen treffend beschreibt. Dass in Teilen der Linken ein Rückfall hinter die Ergebnisse bereits geführter theoretischer Auseinandersetzungen stattgefunden hat, ob als Sehnsucht nach dem fordistischen Sozialstaat oder als Verklärung des Realsozialismus, scheint offensichtlich. Resultat ist ein »Antikapitalismus«, der sich – der kritisierte Gegenstand bleibt in der Regel unbegriffen – auf das Dagegen-Sein und infolgedessen auf eine Kritik einzelner Erscheinungsformen innerhalb der kapitalistischen Entwicklung beschränkt.

Während gegen spekulative Hedgefonds, imperialistische Kriege, multinationale Konzerne oder westliche Dekadenz gewettert und demonstriert wird, erfreuen sich Warenproduktion, Lohnarbeit, Geld und Eigentum – allesamt Konstitutiva kapitalistischer Vergesellschaftung – quasi naturhafter Unschuld. Auch Neonazis mit ihrem Ideal einer organischen, natürlich gewachsenen völkischen Gemeinschaft treten als antihegemonial zum neoliberalen Diskurs auf und verstärken seit einigen Jahren ihre Straßenmobilisierungen gegen das »internationale Finanzkapital«. Ein Grund für aufgeklärte Linke, sich deshalb zum Fürsprecher derer zu machen, denen Antikapitalismus generell ein Dorn im Auge ist, ist dies freilich nicht.

Ihr im Jahre 2002 erschienenes und zu den Theo­rie­schlagern der globalisierungskritischen Szene avanciertes Buch »Empire« beendeten Antonio ­Negri und Michael Hardt mit folgenden Worten: »Wir setzen dem Elend der Macht die Freude am Sein entgegen. Diese Revolution wird keine Macht kontrollieren können – weil Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe, Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben. Darin zeigen sich die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein.« Die Selbstherrlichkeit des Großen Versuchs endete auf dem Archipel Gulag, jene von Negri und Hardt in einer kindlichen Tugendbewegung. Das selbstzufrieden und widerspenstig konstruierte Selbstbild, das die eigenen Widersprüche als lieb, einfach und unschuldig beschreibt, ist Ausdruck des regressiven Wunsches, Kind zu sein. Zur Überwindung des Kapitalismus allerdings, der Gesellschaft von Ware, Eigentum und Markt, bedarf es nicht der Banden bildenden Infantilität einer Pippi Langstrumpf, sondern der rationalen Einsicht aller, dass die paar kleinen praktischen Probleme, wie zum Beispiel der sich selbst hackende Wert, überflüssiger Schaden sind. Wer Antikapitalismus, also die Überwindung der »auf dem Wert beruhenden Produktionsweise« (Marx), als zweckgerichtetes Denken begreift, kann kein Interesse an der romantisch verklärten Gemeinschaft der Linken haben.

»Die einzige Strategie, die die herrschende Politik kennt, besteht darin, die Reichen noch reicher zu machen, auf dass vielleicht ein paar Krümel vom großen Kuchen für die Armen abfallen«, schrieb die Antifaschistische Linke Berlin (ALB) in ihrem Aufruf zum 1. Mai 2007. Einer radikalen Kritik des Bestehenden allerdings ist mit dem moralischen Verweis auf Ungerechtigkeit nicht geholfen. Moral ist das Verweisen auf allgemein anerkannte Regeln. In der politischen Auseinandersetzung wird ein Sachverhalt bemängelt, der sich des unmoralischen, also nicht gesellschaftlich legitimierten, Über­schreitens dieser Regeln schuldig gemacht hat.

Am Beispiel Rassismus: Rassist zu sein, gilt mitt­lerweile als unanständig und in den angesagten Bereichen der Gesellschaft nicht gerade als Referenz. Rassistische Äußerungen werden in der öffentlichen Sphäre mit Ächtung und Sanktion bestraft. Dem als rassistisch Kritisierten bleiben als Reaktion auf diese Schelte zwei Möglichkeiten: Ist er ein anständiger Bürger, wird sein Schamgefühl verletzt, und er behauptet, es müsse sich bei dem Vorwurf um ein Missverständnis handeln. Ist es mit dem Anstand nicht so weit her, wird er das ihm Vorgeworfene nicht leugnen, sondern antworten, dass dem wohl so sei. Wie auch immer die Reaktion ausfällt: Durch Appell an die Konformität und das Fehlen einer unvoreingenommenen Auseinandersetzung finden eine Klärung des Sachverhalts und eine Kritik rassistischen Denkens nicht statt. Herrschaftsverhältnisse können durch eine moralische Kritik nicht überwunden werden; eine Kritik, die lediglich auf Konformität, also Einhaltung der allgemein als verbindlich anerkannten Regeln, verweist, bleibt notwendigerweise an der Oberfläche.

Der demokratische Staat ist die derzeit adäquate Form der politischen Herrschaft der kapitalistischen Ökonomie. Er konstituiert den Bürger als formal gleiches Rechtssubjekt und freien Marktteilnehmer. Als ideeller Gesamtkapitalist ist er den freien Marktteilnehmern als Souverän gegenübergestellt. Der Staat unterwirft die Bürger gleichermaßen dem Prinzip des Rechts und abstrahiert dabei von Kapital und Besitz. Einfach unter einer Brücke zu schlafen, wird Obdachlosem und Millionär gleichermaßen versagt. Das Rechtssystem ist allumfassend und überprüft jede Handlung seiner Bürger auf Legalität. Die Großmut des Gewährens bestimmter Rechte, wie zum Beispiel dem, die eigene Sicht auf die Dinge öffentlich zu verlautbaren, gilt im gesetzlich festgeschriebenen Recht auf freie Meinungsäußerung als vorbildlich. Dem Verzicht auf politische Partizipation geht die alle Jahre wieder vollzogene Stimmabgabe des Bürgers voraus, mit der nicht nur der speziell von ihm gewählte Repräsentant, sondern ebenfalls das demokratische System seine Legitimation erfährt. Ein Antikapitalismus, der »Gleichheit und Freiheit (als) die Antriebskräfte für eine revolutionäre Neuerfindung von Demokratie« (Negri) sieht und nicht stattdessen die Spielregeln, die Einbindung des Menschen in die Herrschaft über den Menschen, angreift, greift zu kurz. Eine radikale Kritik der politischen Sphäre des Kapitalismus ist ohne die Kritik des bürgerlichen Staats nicht zu denken.

Zur Transformation der Gesellschaft in den »Club freier Menschen« bedarf es keiner linken Identität, keiner kommunistischen Moral und keines sozialistischen Staats. Wie sich dem Ziel genähert werden kann, die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen und den mit ihnen zwingend verbundenen Schaden für die zu vernutzenden Menschen aufzuzeigen, soll in den nächsten Ausgaben der Jungle World und auf dem im Dezember in Frankfurt/Main stattfindenden Kongress »No way out – von Postoperaismus bis Wertkritik« gezeigt werden. Dort diskutieren wir mit zahlreichen Referenten anhand von Kategorien wie Arbeit, Staat, Klasse und Imperialismus die Form und den Inhalt der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit. Darüber hinaus stellt sich für uns die Frage, in welcher Form der kritische Gehalt dieser Einsichten sich über praktische Agitation ins Bewusstsein der geschädigten Subjekte einschreiben lässt. Das fetischisierte Verständnis von der Naturgegebenheit von Staat, Markt und Waren produzierender Arbeit jedenfalls muss durchbrochen werden. Die Frage ist dabei nicht, ob eine radikale Linke interventionistisch sein soll, sondern vielmehr, mit welchen Inhalten interveniert wird. Gegen das Anrufen neuer Identitäten gilt es, eine Praxis zu entwickeln, die Irritationen und Störungen erzeugt, in der Hoffnung, dass die Subjekte die Richtigkeit der sozialen Ordnung in Frage stellen – radikal und heimatlos.

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