Mach dir ein Bild!

In jedem Jahrzehnt bastelt sich die Gesellschaft ein eigenes Bild von »68«. Was von der Geschichte bleibt, ist die Anekdote, nicht die Utopie. von Roger Behrens

Geschichte schreiben heißt, Jahreszahlen ihre Physiognomie geben«, sagte Walter Benjamin. Will man nun dem Jahr 1968 eine Physio­gno­mie geben, dann geht es nicht um die historizistische Isolierung des Datums, sondern um den Zeitkern der Wahrheit, das heißt, um die Aktualisierung der sozialen Verhältnisse, die als Vergangenheit in die Gegenwart reichen. Mit jedem Jahrzehnt ändert sich nämlich dieser Zeitkern: gar nicht einmal, weil die Geschichte voranschreitet und sich demnach das Gewesene immer weiter entfernt, sondern weil es mit jedem Jubiläum ein anderes »68« ist, das als »Geschichte« entworfen wird. So unterscheidet sich das »68« von 1978 entscheidend von dem von 1988, und auch das »68« von vor zehn Jahren ist ein anderes als das, was uns in diesem Jahr präsentiert wird.

Bereits im November des vergangenen Jahres eröffnete die Illustrierte Stern eine Serie zum Thema »Die 68er. Wie eine Generation die Welt veränderte«. Das Cover zeigte eine lieblose Montage ikonografischer Fotoausschnitte: im Zentrum das laszive Porträt einer jungen Frau, die mit Cut & Paste zum Blumenmädchen verwandelt wurde. Um sie herum die Männer, die die Welt damals bewegt haben sollen: US-Soldaten in Vietnam, Rudi Dutschke, Jimi Hendrix und die »Easy-Rider«-Protagonisten Dennis Hopper und Peter Fonda. Im Heft beginnt die Serie selbstverständlich mit dem Foto der Kommune I, auf dem alle wie bei einer Polizeidurchsuchung nackt an der Wand stehen, die Hände erhoben, nur ein kleiner Junge schaut sich frech um. Dann eine Aufnahme von einer Demonstration, kontrastiert vom nächsten Bild, das deutsche Wohlstandsspießer zeigt. Weiter geht es mit einer der schrecklich-berühmten Aufnahmen aus dem Vietnam-Krieg, gefolgt von Woodstock und Benno Ohnesorg, Twiggy gefolgt vom Berliner Vietnam-Kongress und von Jimi Hendrix. Eine Momentaufnahme aus einem Kinderladen beschließt die Bildstrecke. Der eigentliche erste Teil der Serie ist dann ein Text mit allerhand Erlebnisberichten und Anek­doten, im Stil einer durchaus informierten wie informativen Chronik. Hier wird auf Herbert Marcuses »Buch« (tatsächlich ist es ein Essay) »Repressive Toleranz« verwiesen, »eine Bibel der 68er«.

Zentrale These Marcuses war: Die bestehende Gesellschaft ist nicht länger darauf angewiesen, oppositionelle Kräfte mit Gewalt zu unterdrücken, sondern vermag ohne weiteres den Protest zu integrieren und sogar in ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung umzukehren. Die These bewahrheitet sich in dem Verfahren, das der Stern in seiner Reportage­serie anwendet: Die radikale Kritik wird lächerlich gemacht oder als Wahnsinn überzeichnet, Theodor W. Ador­no wird zum »Propheten der Bewegung«, »die soziologischen, psychologischen, marxistischen und maoistischen Wegweiser …  wurden jetzt verschlungen wie Krimis«, die USA führten einen »hochtechnisierten Vernichtungskrieg gegen kleine Männer in Plastiksandalen und schwarzen Pyjamas«. Die politischen Forderungen werden zur Selbstverständlichkeit nivelliert.

Dadurch wird weniger ein Bild von 1968 gezeichnet als vielmehr ein Bild der Gegenwart: »Die 68er sind heute selbst Väter-Generation. Alle satt, viele arriviert, manche angekommen an den Spitzen der Institutionen.« Einer von ihnen, Maoist, Makler und Verleger, wird zum Abschluss zitiert: »Die Revolution wird über Einsicht erfolgen, friedlich wie die deutsche Wiedervereinigung. Irgendwann werden die Menschen …  in den Ruf einstimmen: ›Wir sind das Volk‹, aber vielleicht tun sie es per Internet. Und vielleicht werden sie dann die Deutsche Bank per Maus-Klick enteignen.« Dann kommt im Stern eine als Bericht getarnte Anzeige über die Qualitätsproduktion bei McDonald’s, dann eine Seite »Pro/Contra« mit Olaf Scholz und Guido Westerwelle: »Müssen Politiker wirklich so viel verdienen?«

Die historische Wahrheit, die im Stern ausgesprochen und damit zugleich zurückgenommen wird, ist die Lüge, mit der man der Leserschaft die Titelgeschichte als Weltgeschichte schmackhaft machen will; die Antwort auf die Frage, wie die Achtundsechziger die Welt veränderten, ist zynisch und hämisch: gar nicht. Nur so kann eine Verbindung hergestellt werden, die von der Apo, den Grünen, der Linkspartei bis zur antikommunistischen Volksgemeinschaftslinken reicht: indem all dies immer schon die Normalität bezeichnet, die zu kritisieren bloß heißt, eine andere Meinung zu haben, deren Standpunkt nie das System überschreiten darf. Das definiert zugleich den Konsens im Blick auf »68«: »Revolution« bedeutet in diesem Geschichtsbild nicht mehr die Abschaffung der herrschenden Verhältnisse, sondern ihre Durchsetzung.

Dabei wird im Jahr 2008, wenn es um »68« geht, der Beginn der gesellschaftlichen Durchsetzung der Postmoderne 1978, vor allem der nahende Zusammenbruch des Realsozialismus 1988 und die folgende »Wiedervereinigung« und das Ende der Postmoderne 1998 immer schon mitgedacht. Ebenso wie die historischen Perspektiven ändern sich auch die politischen Interessen: 1978 war »68« noch zu präsent und gefährlich (»heißer Herbst«), um das Geschehen des Jahres zu kanonisieren; irritierend war darüber hinaus die sich formierende, radikale Kritik an »68«, die vor allem im Punk ihren Ausdruck fand. 1988 waren es dann erstmals die nun erwachsen gewordenen Akteure von damals, oder zumindest diejenigen, die gerne dabei gewesen wären, die sich nun selbst die »68er-Generation« nannten. Und was zuvor eine Stigmatisierung war, wurde nun offensiv zur Verteidigung gewendet: »68« war eine Studentenbewegung, die positive Auswirkungen wesentlich auf die zentralen Institutionen der Gesellschaft hatte – insbesondere in der Politik (»Die Grünen«) und im Erziehungs- bzw. Bildungswesen. Mit einem Wort: Die »Achtundsechziger-Generation« war eine Lehrergenera­tion. Verhältnismäßig ruhig blieb es dann 1998, zumindest was die bundesdeutschen Medien angeht; tatsächlich gab es 1998 auch keine Generation, die gezwungen war, sich zu »68« zu verhalten. Zudem hatte die Mode die Symbole von damals reklamiert, Che Guevara und Peace-Zeichen wurden zu Derivaten einer unpolitischen Spaßkultur; und daran seien schließlich, so kam damals der Verdacht im Windschatten der New Economy, die Achtundsechziger mit ihrer antiautoritären Erziehung und den Kinderläden selbst schuld.

Das Neue in der Historisierung von »68« ist nun der Austausch der Alt-Achtundsechziger durch die Neu-Achtundsechziger: Diejenigen sind um die Deutungsmacht bemüht, die das Jahr beziehungsweise die Zeit allerhöchstens als Kleinkinder erlebt haben. Und in dieser Perspektive des Kindes wird dann – der Stern macht es vor – berichtet: immer ein wenig naiv am Thema vorbei und doch nah genug, um es glaubwürdig zu verkaufen. Immerhin ist diese Generation der Neu-Achtundsechziger mittlerweile auch in den entsprechenden Positionen der Gesellschaft, in denen es darauf ankommt, für Gegenwart und Zukunft die ökonomischen und politischen Pfründe zu sichern. Die Kinderperspektive passt dabei im Übrigen zur allgemeinen Infantilisierung, die mehr und mehr den herrschenden Sozialcharakter bestimmt.

Dagegen wäre der Jahreszahl 1968 eine Physio­gnomie zu geben, mit der die Geschichte eben nicht zu einem bloßen Sammelsurium von Abziehbildern wird, sondern mit der sich ein echtes Bild einstellt: Geschichte als Erfahrung. Das wäre zugleich ein Bild der Rettung, in dem nämlich die »Revolution« nicht als bloße Anekdote auftaucht, sondern als eine bislang noch unabgegoltene, konkrete Möglichkeit der Geschichte selbst. Damit ginge es aber schließlich um das, was im offiziellen Rückblick auf die Sechziger immer schon unterschlagen wurde, nämlich die Dimension einer Geschichte der Zukunft, mit einem Wort: um Utopie.