LeserInnenworld

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Jungle World 4/08: Selbstverklärung bis zum Autismus

Kampf gegen Windmühlen

Als Autist, zumal als linker Autist, kommt sich unsereins vor wie Don Quichotte, der gegen die Windmühlen der unbedachten Phrasen kämpft. Nachdem sich antisemitische oder schwulenfeindliche Phrasen – um Beispiele zu nennen – verbieten, werden zielgerecht andere Personengruppen gefunden, die man in nämlicher Weise als Schimpf­wortobjekte missbraucht. Schade, dass so viel Gedankenlosigkeit vergisst, dass eben auch hinter Autisten Menschen stecken, die vielleicht nicht alles Übel dieser Welt verkörpern wollen. Ich empfehle daher den Verantwort­lichen, sich zum Thema Autismus zu informieren, damit sie merken, dass Autismus etwas völlig anderes ist, als das, was die zur Phrase »verunglückte« Überschrift des Artikels suggeriert.

hajo seng

Fröhliches Achtundsechziger-Bashing

Richtig ist: Das, was mit »1968« assoziiert wird, lässt sich nicht auf diese eine Jahreszahl reduzieren, sondern war eine Bewegung, die sich über fast anderthalb Jahrzehnte hinzog. Richtig ist zudem, dass es sich dabei v.a. außerhalb Deutschlands nicht um eine Studentenbewegung, son­dern um einen globalen Zyklus des Klassenkampfes handelte. Innerhalb dessen war zumindest eine nicht unbedeutende Minderheit in der Lage, zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder eine radikale antagonistische Kritik von Kapital und Staat zu entwickeln. Vollkommen unterschlagen wird aber, dass z.B. die zum Teil in dem Artikel benannten Traditionen linkskommunistischer Kritik, wie z.B. Korsch, erst durch die Bewegungen der Sechziger/ Siebziger geborgen und für eine radikale Gesellschaftskritik fruchtbar gemacht wurden, nachdem sie über Jahrzehnte fast vollkommen verschüttet waren. Man vergleiche hierzu nur mal die Herausgabedaten der Texte Panne­koeks (zum Teil als Raubdrucke), von Lukacs’ »Geschichte und Klassenbewusstsein« oder der »Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses« von Marx. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es im Moment eine neue Tendenz innerhalb der radikalen Linken gibt, nämlich die des fröhlichen »Achtundsechziger«-Bashings – nach dem Motto »Alle in einen Sack und drauf« –, deren Protagonisten sich die Bälle gegenseitig zuspielen. Das Ergebnis ist eine eigentümliche Mischung aus blankem Unwissen, solider Halbbildung und bewusster Kolportage. Dass es freilich immer noch Genossen gibt, die nicht die klassische Achtundsechziger-Laufbahn (wenn es die überhaupt gibt) eingeschlagen haben und in nicht selbstgefälliger Weise versuchen, ihre Erfahrungen für eine radika­le Gesellschaftskritik produktiv zu machen, wird dabei geflissentlich unterschlagen. Es ließe sich darüber spekulieren, ob bei einigen momentan das Bedürfnis besteht zur Kompensation der eigenen Unfähigkeit, eine sozialrevolutionäre Kritik (Kritik verstanden als dialektische Einheit der Kritik der Waffen und der Waffen der Kritik) zu entwickeln, ihr Mütlein an einem Ersatzobjekt zu kühlen.

uwe koralla