For I live free and unfettered

Die Studie »Einheit und Differenz« fragt nach der Rolle der Migration für das Selbstverständnis der USA. Von Klaus Thörner

In Europa ist die politische und gesellschaftliche Besonderheit Amerikas bis heute kaum verstanden worden. Amerika muss als »terra incognita« im europäischen und vor allem im deutschen Bewusstsein bezeichnet werden. Wo liegen z.B. die Ursprünge des Pluralismusprinzips in den USA und inwiefern ist dieses bis heute gültig? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der am Simon-Dubnow-Institut in Leipzig forschende Wissenschaftler Sebastian Voigt in seiner im Herbst 2007 erschienenen Studie »Die Dialektik von Einheit und Differenz«. Das Buch greift in die politische Diskussion über die USA der vergangenen Jahre ein und versucht einen Kontrapunkt zum weit verbreiteten Antiamerikanismus in Europa und zur Unkenntnis über die amerikanische Revolution und der sich auf ihrer Basis vollziehenden politischen Entwicklung im Zufluchts­land von Millionen europäischer Migranten zu setzen. Es geht der Frage nach, warum deutsche Revolutionäre in Amerika zu loyalen citizens wurden. Am Beispiel der jüdischen Einwanderung wird die Herausbildung eines ethnischen Pluralismus im Melting Pot USA dargestellt.

Der Autor charakterisiert die Vereinigten Staaten als Nation von Einwanderern, gegründet von religiösen Dissidenten. Bis heute wächst die Bevölkerung der USA im Gegensatz zu den meisten anderen Industriestaaten beständig. Im Jahr 1915 wurde die 100-Millionen-Marke und 1967 die 200-Millionen-Marke überschritten. Gegenwärtig beträgt die Einwohnerzahl etwa 300 Millionen. Im Gegensatz zum häufig artikulierten Vorurteil sind die USA keine junge Nation, sondern das Land, dessen »Institutionen der Freiheit« länger bestehen als die der europäischen Demokratien. Ohne die Last einer feudalen Vergangenheit bildete sich unter dem Vorzeichen der Moderne ein religiöser Pluralismus und eine politische Toleranz heraus, die ein Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen und Migrationsgruppen ermöglichten, die in Europa unbekannt war und bis heute weitgehend ist. Die amerikanische Revolution von 1776 ermöglichte ein Experiment radikaler Toleranz, das auf gemeinsamen abstrakten Werten und Ideen wie Freiheit, Gleichheit und dem Streben nach Glück basiert.

Der Charakter der amerikanischen Nation ist nicht durch die Faktoren »Blut und Boden«, sondern durch die Kraft dieser Ideen geprägt worden, und da diese Ideen universal waren, spielte die Abstammung für die Staatsbürgerschaft keine Rolle. Keineswegs negiert werden dürfen jedoch die Widersprüche zwischen der Theorie und Praxis dieser Ideen bzw. die uneingelösten Versprechungen, die sich insbesondere in der Vertreibung und Ermordung der Native Americans und der Versklavung und sozialen Exklusion der schwarzen Bevölkerung zeigen. Letzt­genannte nimmt insofern eine Sonderrolle ein, da sie als einzige Gruppe nicht freiwillig in die USA kam, sondern dorthin verschleppt wurde. Für Voigt war der Rassismus, der Amerika im Bürgerkrieg fast zerstört hätte, das größte Hindernis auf dem Weg zur Realisierung des Pluralismus. Obwohl die ehemaligen Sklaven seit 1866 staatsrechtlich citizens sind, wird eine struk­turelle Diskriminierung bis in die heutigen Tage perpetuiert. Dennoch beziehen sich auch die schwarzen Amerikaner auf die Ideale der Bill of Rights, um gegen ihre Benachteiligung zu kämpfen. Paradigmatisch hierfür ist die Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Die sich in den Bill of Rights manifestierenden Vorstellungen von Pluralismus, Toleranz, Meinungsfreiheit und politischer Gleichberechtigung gehen, so Voigt, zurück auf die Einwanderung religiöser Dissidenten aus Europa, vornehmlich aus England, die den repressiven Zuständen in der Alten Welt zu entgehen suchten. Durch das vielfältige Sektenwesen war die amerikanische Gesellschaft von Anfang an gezwungen, sich mit divergierenden Überzeugungen auf eine andere Art auseinanderzusetzen, als dies in Europa der Fall war. Die religiöse Toleranz bildete sich als bestimmendes Moment heraus. Die Kirchengemeinden selbst beruhten auf dem Prinzip des Voluntarismus, was bedeutet, dass religiöse Organisationen auf der Basis freiwilliger Zustimmung und freiwilliger Abgaben ihrer Mitglieder existieren und nicht etwa durch eine, wie auch immer geartete, staatlich erzwungene oder organisierte Mitgliedschaft des Einzelnen. Die puritanischen und calvinistischen Einwanderer propagierten ein unmittelbares Verhältnis des einzelnen Gläubigen zu Gott und lehnten deshalb eine Priesterschaft und eine Staatskirche vehement ab. Auf dieser Basis entwickelte sich in den kirchlichen Gemeinden eine Form der demokratischen Partizipation, die den Grundstein bildete für die Transformation des religiösen in den politischen Pluralismus, die sich im Laufe der amerikanischen Revolu­tion vollzog. Die völlige Freiheit des Glaubens wurde gewährt, dieser aber zugleich rigoros aus der öffentlichen, politischen Sphäre fern­gehalten. Die gesellschaftlichen Strukturen wurden so eingerichtet, dass die Hegemonie einer Gruppe unmöglich und zugleich die Geltung des Pluralismusprinzips verbürgt war. Das bis heute in Amerika wegweisende und nie angetastete First Amendment der Verfassung von 1791 lautet: »Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsaus­übung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich fried­lich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Misständen zu ersuchen.«

Dabei verwehrten sich die Gründungsväter der USA im Gegensatz zu den französischen Revolutionären einer Apotheose des Volks und verfielen nicht dem Glauben, das Volk könne direkt herrschen. Der politische Einfluss des Volks müsse über Institutionen vermittelt sein, um einen Despotismus der Majorität zu unterbinden. Die wichtigste dieser Institutionen, der Supreme Court, hat die Funktion der Kontrolle der Rechtsprechung. Zugleich legt er in seinen Urteilen die Verfassung aus, die durch Interpretation ständig neu formuliert und dadurch leben­dig gehalten wird.

Woodrow Wilson sagte mit Recht, der Oberste Gerichtshof sei eine Art verfassunggebender Versammlung, die in Permanenz tagt. Die Verfassung legte den Grundstein für eine dezentrale politische Struktur mit Gewaltenteilung und einer Machtbalance zwischen den verschiedenen Institutionen, die eine Konsolidierung der errungenen Freiheit bewirkte, kulturelle Diversität ermöglichte, Minderheiten schützte und die »Tyrannei der Mehrheit«, die in einer Demokratie immer droht, zu verhindern suchte. Bis heute in ihren Kernelementen erhalten, ist die US-amerikanische die am längsten gültige demokratische Verfassung der Neuzeit. Voigt resümiert: »Es ging um die Dialektik von Einheit und Differenz, um die Herstellung einer heterogenen Unität. Diese Problematik ist das perennierende Moment der amerikanischen Gesellschaft. Materialisiert hat sich dies im Motto des Staatssiegels der Vereinigten Staaten: »E Pluribus Unum«, aus den Vielen Eines. Dies verlangt von allen Beteiligten eine große Kompromissbereitschaft und eine Toleranz gegenüber Dissidenz, die sich in einer alltagspraktischen Indifferenz gegenüber Herkunft, Abstammung und individuellen (Glaubens‑)Überzeugungen zeigt.

Die Integrationskraft der amerikanischen Gesellschaft erwies sich um 1848, als viele Deutsche, die sich aktiv an der gescheiterten bürgerlichen Revolution beteiligt hatten, gezwungen waren, in die USA zu fliehen. Einer dieser Flüchtlinge, der sich als Farmer niedergelassen hatte, beschrieb seine Gefühlslage mit den Worten: »I am not exactly happy, but not unhappy either, for I live free and unfettered. I am independent of everyone except my oxen and the weather. No one prevents me in my plans and projects except the lack of money. No one prevents me from expressing my revolutionary sentiment except the absence of an audience.« Nach einem anfänglich sehr affirmativen Bezug auf die deutsche Kultur und dem Scheitern der Hoffnung, von Amerika aus die Veränderung der Verhältnisse in Deutschland bewirken zu können, wandten sich die Revolutionäre zunehmend der amerikanischen Politik zu und beteiligten sich z. B. an der Gründung der Republikanischen Partei im Jahre 1854.

Die Auseinandersetzung um die Sklaverei zog die deutschen Einwanderer in die politische Debatte hinein. Als Lincoln 1860 Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei wurde, erhielt er massive Unterstützung von den Deutsch-Amerikanern. Dabei sahen sie den Kampf gegen die Sklaverei in einer Kontinuität mit dem Kampf gegen den Despotismus in Eu­ropa. Charakteristisch für die Immigranten war die Absage an ethnischen Separatismus unter Beibehaltung des eigenständigen kulturellen Hintergrunds. Exemplarisch steht hierfür Karl Heinzen, dessen Schrift »Die Deutschen und die Amerikaner« von 1915 Voigt zitiert. Für Heinzen war es kein Widerspruch, sowohl amerikanischer Bürger zu werden als auch Deutscher zu bleiben. Dies sei möglich, weil sich die Gemeinschaft der Amerikaner nicht über eine mythologisierte Vergangenheit oder eine Blutsverwandtschaft herstelle, sondern über Ideen. Er schrieb: »Wann haben die Amerikaner sich selbst amerikanisiert? Nach meiner Ansicht in dem Augenblick, wo sie ein gewisses Dokument unterschrieben, welches die Worte enthält: ›Alle Menschen sind gleich geboren und mit unveräußerlichen Rechten begabt, zu denen das Leben, die Freiheit und das ungehinderte Streben nach Glück gehört.‹ Wer am treuesten an dieser Lehre festhält, ist nach meiner Ansicht der beste Amerikaner.«

Obwohl die Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft die deutschen Revolutionäre für zu radikal (also zu europäisch) hielt, bot sie ihnen die Möglichkeit, sich zu beteiligen, ihre Interessen zu artikulieren und sich aktiv einzumischen. Dies führte zur allmählichen Assimilation dieser Einwanderungsgruppe. Heutzutage zeigen sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Grundbedingungen in den USA und in Europa hinsichtlich der Integration muslimischer Einwanderer. Während sich in Europa ein gefährlicher Radikalisierungsprozess vor allem unter jungen Muslimen vollzieht und Muslime im allgemeinen in schlechteren sozialen Verhältnissen leben als der Durchschnitt der Bevölkerung, ist die Situation in Amerika anders. Trotz einer leicht rückläufigen Tendenz in den vergangenen Jahren sind Muslime in den USA deutlich besser integriert und sowohl sozial als auch finanziell erfolgreicher als in Europa.

Um als Individuum Amerikaner zu werden, sind alle Einwanderer gehalten, ihre Herkunft hinter sich zu lassen. Das bedeutet nicht, sie völlig aufzugeben oder zu verleugnen, sondern sie als eine Art folkloristisches Moment, als eine strikt private Angelegenheit zu betrachten und kollektive Identitäten als veränderbar wahrzunehmen. Damit dies funktionieren kann, muss es eine klare Trennung zwischen der Staatsbürgerschaft auf der einen und der religiösen und ethnischen Herkunft auf der anderen Seite geben.

Mit dem Sieg der Nordstaaten im Bürgerkrieg von 1866 erfolgte nicht nur die Abschaffung der Sklaverei, sondern auch die endgültige Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft. Gegen viele Widerstände, Anfeindungen und Vorurteile in der amerikanischen Gesellschaft behaupteten sich die Juden und etablierten ein vielfältiges religiöses und kulturelles Leben. Amerika bot den Juden Gelegenheit, sich zu bewähren und sozial aufzusteigen, ohne die in Europa erlittenen Restriktionen, wie etwa das Verbot, bestimmte Berufe auszuüben. In Amerika lebten sie zum ersten Mal in einer Gesellschaft, in der sie sich offen zu ihrer jüdischen Identität bekennen und zugleich loyale Staatsbürger sein konnten. Während die Emigration vieler Deutscher auf die gescheiterte bürgerliche Revolution zurückging, war die Auswanderung der Juden eine Folge des Antisemitismus und der fehlenden Emanzipation in Europa. Die Zahl der Juden in Amerika stieg von ca. 2 000 um 1776 auf 50 000 um 1850 und schließlich auf 250 000 um 1880. Von diesen waren etwa 80 Prozent aus Deutschland gekommen. Ab 1881 emigrierten dann infolge der Pogromwellen in Russland und der Wirtschaftskrisen vor allem osteuropäische Juden in die USA. Bis zum Ersten Weltkrieg erreichten rund zwei Millionen Juden die USA. Dies entsprach 15 Prozent aller Juden Europas und acht Prozent aller Einwanderer nach Amerika.

In den USA konnten sie ein Leben als Bürger in einer säkularen Republik nahezu frei von Diskriminierung und Verfolgung und ohne staatlichen Antisemitismus führen. Da Amerika ihnen diese Möglichkeiten bot, wurden sie häufig zu Protagonisten im Kampf um den Erhalt der amerikanischen Ideale. Sie kämpften für die Neutralität des Staates in religiösen und ethnischen Angelegenheiten und setzten sich für andere minoritäre Gruppen ein.

Vielleicht ist Sebastian Voigt in einigen Punkten zu emphatisch, vielleicht kontrastiert er an manchen Stellen zu wenig die Widersprüche zwischen den Idealen der US-amerikanischen Revolution und Staatsgründung und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität. Dennoch hat er ein überzeugendes und wichtiges Buch geschrieben. Der europäischen Linken, die sich in Theorie und Praxis auf die französische und russische, aber nie auf die amerikanische Revolution bezogen hat, könnte es nicht schaden, sich damit zu beschäftigen.

Sebastian Voigt: Die Dialektik von Einheit und Differenz. Über Ursprung und Geltung des Pluralismusprinzips in den Vereinigten Staaten von Amerika. Trafo-Verlag, Berlin 2007, 214 Seiten, 22,80 Euro