Seemanns Braut ist die Globalisierung

Ted Gaier und Peter Ott haben einen schlauen Zombiefilm über Zukunft und Vergangenheit des Hafengewerbes gedreht und rufen zur Meuterei gegen die Prekarisierung auf. Von Kerstin Stakemeier

Im Hamburger Hafen ist ein Schiff von seinen Eignern verlassen worden. Die Mannschaft ruft die Geisterkader der Komintern zur Hilfe, die vom Bewusstsein einer Dokumentarfilmerin Besitz ergreifen. Das Agitprop betritt wieder die Bühne, und in den Jahren seiner Abwesenheit ist es wild geworden.«

So beschreiben Peter Ott und Ted Gaier in wenigen Sätzen die Handlung ihres Films »Hölle Hamburg«. Die Geschichte scheint zunächst recht rabiat: Der Film erzählt von der prekären Arbeits- und Lebenssituation der allein erziehenden Dokumentarfilmerin Vera (Martina Schiesser), die im Hamburger Hafen auf eine zurückgelassene Schiffscrew trifft; sie wird hineingezogen in die Versuche der Crew, durch mechanistische Voodoorituale mit der 1930 gegründeten Hamburger Zelle der ISH, der Internationalen der Seefahrer und Hafenarbeiter, Kontakt aufzunehmen. Und tatsächlich gelingt es, für kurze Momente Mitglieder der ISH in der Journalistin und der Schiffscrew wiederzuerwecken. Doch die magische Anrufung der revolutionären Garden der stalinistischen Vergangenheit bleibt nicht verborgen – ein undurchsichtiger britischer Consulter bekommt Wind davon und mischt sich in die Interviews ein, welche Vera mit HPA (Hamburg Port Authority), HHLA (Hamburger Hafen und Logistik AG), HPC (Hamburg Port Consulting) und ITF (International Transport Workers Federation) führt und die als Fragmente ihrer geplanten Fernsehdokumentation über den Hamburger Hafen in den Film »Hölle Hamburg« eingehen. Schließlich entpuppt sich der Consulter, der sich als Mitarbeiter des »Maritime Security and Risk Management« vorstellt, als Geheimdienstler auf der Jagd nach der Kartei der ISH – einer schwarzen Box, die durch den Film getragen wird; sein Name Ian Kraus ist übrigens im Nachnamen identisch mit dem Nazischergen, der damals die ISH in Hamburg zerschlagen hat. Kurzum: Gejagt wird in »Hölle Hamburg« die Vergangenheit. Schauplatz ist die Gegenwart.

Es fällt schwer, »Hölle Hamburg« einem ­Genre zuzuordnen, am ehesten ist es wohl ein Zombiefilm. Nur dass hier die Zombies nicht wie bei George Romero als vereinzelte Masse auf Shoppingtour gehen oder wie bei John Carpenter nur ferngesteuerte Wiedergänger der kapitalistischen Warenwelt sind. In »Hölle Hamburg« sind die Untoten der ISH die eigentlichen Akteure – ihre uneingelöste Vergangenheit ist das einzige, was den Protagonisten des Films noch Freiheit verspricht. Und im Gegensatz zur Gegenwart gibt es in dieser Vergangenheit, dem Arbeiterkampf der ISH, von dem die Matrosen im Film berichten, klare Fronten, Feinde, Freunde und eine Sache, für die gekämpft wird: »Wat schall dat ööverhaupt sin: Ick. Du bis nich din Egendom. Dat büst du erst, wenn de Revolutschon siegt het.« Plattdeutsch ist die Sprache dieser Revolution. Die im heute vollautomatisierten Contai­nerhafen Altenwerder gestrandeten Seeleute können durch die Globalisierung des Reederei- und Transportschifffahrtswesen auf keine Hilfe mehr hoffen; Solidarisierung scheint nicht mehr möglich. Die verlassene Schiffscrew spricht ein Gewirr aus unterschiedlichen Sprachen – ein­zige gemeinsame Sprache ist das Platt: eine heu­te fast tote Sprache, aber ehedem von den Arbeitern der ISH gesprochen.

Vera erfährt in den Zeiten der Globalisierung nicht weniger Entsolidarisierung: Zwischen Tagesmutterdasein und freiberuflicher Arbeit, in der das eigene Interesse ebenso undurchschaubar bleibt wie das ihrer Auftraggeber, bietet erst die »Rheinland« eine Richtung, einen Ausweg an.

Die Vergangenheit wird in der »Hölle Hamburg« zu so etwas wie einem »Abstandshalter« in der Gegenwart. Der Film zeigt so das prekäre Leben als fragmentierten Gewaltzusammenhang, der erst durch den Eingriff der Vergangenheit ein Ziel bekommt: die Vergangenheit endlich einzulösen, die Kartei der ISH vor dem Geheimdienstler in Sicherheit zu bringen und damit die Geschichte, letztlich auch die Gegenwart, von ihrem Zombiestatus zu befreien.

Ein »Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« (Alexander Kluge) wird in »Hölle Hamburg« abgewehrt – die Vergangenheit schlägt zurück. Die Verkehrung von Vergangenheit und Gegenwart bestimmt nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form des Films. Linearität verliert die Oberhand und wird von genau abgestimmter Asynchronität abgelöst. So bewegt sich die Tonspur eigenständig zu den Bildern, nämlich mal parallel, mal verschoben, aber immer genau rhythmisiert und getaktet. Die von Ted Gaier, Peter Ott, dem Schwabinggrad Ballet, Melissa Logan, Mense Reents und anderen für den Film produzierte Musik schiebt sich als Verstärker vor die Bilder, die in harten Schnitten und stetigen Nahaufnahmen den Betrachter in den Rhythmus des Films, den Rhythmus des Rituals zwingen. Der Schlachtruf hierzu – »Gib dich der reflektorischen Erregung hin!« – wird stets am Einstieg ins Ritual auf Plattdeutsch wiederholt und stammt von dem bolschewistischen Theaterregisseur Wsewolod E. Meyerhold (1874 bis 1940).

»Hölle Hamburg« beschwört nicht die besseren, sondern die kämpferischeren Zeiten. Und auch Meyerhold täuschte keine glorreiche Vergangenheit vor. Seine revolutionäre Praxis war durchzogen vom wachsenden Stalinismus der zwanziger und dreißiger Jahre in Russland, dem er 1940 selbst zum Opfer fiel, und mehr noch von der fatalen Begeisterung für den Taylorismus, dem Glauben daran, dass sich soziale Probleme durch ein wissenschaftlich fundiertes Management lösen ließen. Eine Theorie, der sich so viele revolutionäre Künstler und Künstlerinnen schon kurz nach der Oktoberrevolution hingaben, in der Hoffnung auf eine utilitaristische Kunst. Meyerholds Biomechanik, die Praxis der »reflektorischen Erregung«, die in der »Hölle Hamburg« mit dem afrikanischen Haouka-Kult gepaart wird, versucht die »Organisierung des Materials« (Meyerhold), des Schauspielers als Arbeiters, voranzutreiben. Hierbei gilt es, die Mechanik des Körpers zu optimieren, auf überflüssiges Beiwerk zu verzichten, die Einfühlung durch die Agitation der Körper zu ersetzen und so die »natürliche Begabung zur reflektierenden Erregbarkeit« (Meyerhold) zu realisieren. Die »Entstehung von Gefühl« bekommt eine physische Basis.

In »Hölle Hamburg« wird diese Biomechanik in die Gegenwart gebracht. Aus der »reflektierenden« wird eine »reflektorische« Erregung, denn die Gegenwart ist ihrer selbst nicht mehr Herr, und die Spätfolgen des Taylorismus bestimmen heute Arbeit und Leben im Hafen, in dem die Schauspieler gefangen sind. Aber Meyerholds Taktung, seine Effizienz der Kunst, durchzieht den Film und dessen Zuschauer.

Darüber hinaus führt »Hölle Hamburg« sozusagen zombiehafte, also untote Potenziale des Mediums Film vor. Die historische Bedeutung des Hamburger Hafens wird hier zu seinem gegenwärtigen Symptom: Mangel an verbindlicher Politisierung. Die Prekarität, die die kapitalistische Gegenwart bestimmt, wird im Fall der Seeleute als gewalttätige Ohnmacht dokumentiert, und im Falle der Dokumentarfilmerin als gehetzte Ziellosigkeit. In Otts und Gaiers Montage aus aktueller Hafenpolitik, vergangenem Arbeiterkampf, verfemten Ritualen und prekärem Leben brennt sich in die Iris, dass die politische Dringlichkeit nie aufhörte, sondern sich nur verschob. Schließt man nach dem Film die Augen, wiederholt sie sich als Nachbild.

»Hölle Hamburg« (D 2008). Buch und Regie: Peter Ott und Ted Gaier

Startet bundesweit in verschiedenen Städten. Termine unter www.hoellehamburg.org