Instanbuls Armenviertel wird saniert

Istanbuls neues Disneyland

Das Istanbuler Armenviertel Tarlabasi wird saniert. Das ist zwar dringend nötig, allerdings werden die jetzigen Bewohner von der Erneuerung wohl kaum profitieren.

Gefährlich, dreckig, unzumutbar. Brutstätte von Kriminalität und Terrorismus. Sumpf, Ort unmoralischster Ausschweifungen. Kaum ein anderes Viertel ist im kollektiven Istanbuler Bewusstsein so negativ besetzt wie das zentral in der Nähe des Taksimplatzes gelegene Tarlabasi. Seit Jahren ist es Sammelplatz und Zufluchtsort für Außenseiter und Randgruppen der Großstadt, der Istanbuler Hinterhof.
Jetzt hat die Stadtverwaltung von Beyoglu beschlossen, das historische Viertel im Rahmen der zügig voranschreitenden Stadterneuerung fast komplett abzureißen. Entstehen sollen luxuriöse Wohnkomplexe und Bürogebäude. Die große Mehrheit der Wohnbevölkerung wird vertrieben. Nach dem spekulativen Kahlschlag im Romaviertel Sulukule, auf der historischen Halbinsel und an vielen anderen Orten der Metropole droht jetzt Tarlabasi Opfer der auf Profit ausgerichteten Bulldozerstrategie der Istanbuler Stadtverwaltung zu werden.
Tarlabasi war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Viertel der griechischen, armenischen und levantinischen Mittelschicht. Dort lebten Leute, die sich keine der großbürgerlichen Wohnungen im luxuriösen Stadtteil Pera, dem heutigen Beyoglu, leisten konnten. Schmale, höchstens vierstöckige Erkerhäuser entlang enger, verschlungener Straßen bestimmen das Bild des Viertels. Tarlabasi besteht vor allem aus Gebäuden griechischer Architekten der Jahrhundertwende.
Mit den großen Fluchtwellen, dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, nach den Pogromen gegen nicht­mus­li­mi­sche Bürger am 6. und 7. September 1955 und den Abwanderungen infolge der Zypernkrise verwaiste das Viertel zusehends. Der jetzige Zustand von Tarlabasi ist auch das Resultat der minderheitenfeindlichen Politik der Türkischen Republik. In die verlassenen und verfallenden Häuser zogen ab den vierziger Jahren Migranten aus Anatolien, die sich in Istanbul Arbeit und einen höheren Lebensstandard versprachen. In den achtziger und neunziger Jahren folgten große Migrationswellen aus den kurdischen Gebieten, wo die Bevölkerung die im türkisch-kurdischen Bürgerkrieg zerstörten Dörfer verlassen musste. Später kamen Migranten aus den afrikanischen Ländern, aus dem Irak, aus Afghanistan, aus dem Iran hinzu, die auf eine Weiterreise nach Europa hofften. Aus Bulgarien, Russland und Rumänien kamen Tagelöhner und Zeitarbeiter, die sogar noch billiger als türkische Arbeitskräfte auf den Baustellen arbeiten.
Als letzte Gruppe unter den Binnenmigranten kamen die Transsexuellen und Transvestiten, die sich nach der Gentrifizierung des Viertels Cihangir dort keine Wohnung mehr leisten konnten und so gezwungen waren, auf die billigere, dunklere Seite von Beyoglu auszuweichen. Viele der Istanbuler Sexarbeiter arbeiten in den Clubs und Stundenhotels, die den Tarlabasi Boulevard säumen, der das gute Beyoglu vom bösen Tarlabasi trennt. Die mehrspurige Straße war in den achtziger Jahren unter dem damaligen Istanbuler Bürgermeister Bedrettin Dalan als großangelegte Verkehrsverbesserungsmaßnahme quer durch Beyoglu gelegt worden. 368 historische, zum Teil denkmalgeschützte Häuser fielen den Baumaßnahmen zum Opfer. Damit wurde Tarlabasi endgültig sich selbst überlassen. Abgetrennt vom aufstrebenden Viertel Beyoglu, stehen viele Häuser jetzt vor dem Einsturz; Drogenhandel und Kleinkriminalität florieren.
Das soll sich ändern. 2006 wurde Tarlabasi vom Kabinett offiziell als zu erneuerndes Gebiet definiert. Im April 2007 unterschrieb die Firma Çalik Grubu, die die Ausschreibung um das lukrative Projekt gewonnen hatte und in deren Vorstand der Schwiegersohn des Premier­ministers Recep Tayyip Erdogan sitzt, den Vertrag mit der Stadt. Er sieht vor, dass die Hausbesitzer nach Abschluss der Renovierungsarbeiten nur 42 Prozent ihres Eigentums zurückerhalten, die restlichen 58 Prozent bleiben bei Çalik Grubu und ihrer Tochterfirma, dem Bauunternehmen GAP Insaat. Bereits Mitte diesen Jahres soll die erste Etappe, die 20000 Quadratmeter und insgesamt 278 Gebäude umfasst, in Angriff genommen werden. Laut Plan soll der erste Abschnitt des Bauvorhabens in zwei Jahren fertiggestellt sein. »Der Tarlabasi Boulevard wird zu den Champs Elysées von Istanbul werden!«, so der Bürgermeister von Beyoglu, der AKP-Politiker Ahmet Misbah Demircan.
Zu Anfang dieses Jahres genehmigte die Kommission für Denkmalschutz das Projekt der Stadtverwaltung, das Viertel zu sanieren, sprich abzureißen. Denn der Name des Projekts »Tarlabasi yenileniyor (Tarlabasi wird erneuert)« ist irreführend, schließlich geht es nicht um eine Sanierung bestehender Strukturen. Die jetzigen kleinparzelligen historischen Häuser sollen abgerissen werden, an ihrer Stelle sollen großflächige Wohnkomplexe entstehen, deren Fassaden nur noch entfernt an die Erkerhäuser von einst erinnern.
Ugur Tanyeli, Professor für Geschichte der Architektur an der TU Yildiz Istanbul, erläutert: »Unter Erneuerung versteht man hier die Illu­sion eines historischen Gebäudes. Es soll sauber sein, ordentlich, neu. Die Häuser sollen nur oberflächlich so aussehen, als wären sie alt. Ein bisschen wie Disneyland.«
Das Gesetz, auf dem das Vorhaben beruht, ist das umstrittene »Gesetz Nr. 5366«, das am 5. Juli 2005 in Kraft getreten ist. Es war speziell für Stadterneuerungsprojekte wie das in Tarlabasi abgefasst worden und trägt deswegen den Beinamen »Beyoglu-Gesetz«. Es gesteht der Stadtverwaltung besondere Befugnisse zu, im Namen der Eigentümer zu entscheiden, was mit ihren Häusern und Grundstücken geschieht. Wenn die Hausbesitzer selbst nicht über genügend Mittel verfügen, ist die Stadtverwaltung befugt, Investoren einzuschalten. Die Begründung für das Gesetz: Man wolle baufällige Substanz erdbebensicher machen. Doch von zahlreichen Kritikern wird es als eine ausschließlich auf Profit ausgelegte Lizenz zur Plünderung bezeichnet, die stadtplanerische Katastrophen nach sich ziehen wird.
Demircan spricht gegenüber der Presse von der Zufriedenheit der Einwohner. »Wir haben mit den Anwohnern gesprochen und hatten bis jetzt keine Probleme. Sie wollen, dass alles so schnell wie möglich gemacht wird. Sie sind glücklich.«
Wen auch immer der Bürgermeister gefragt haben mag, die Reaktionen der Anwohner von Tarlabasi spiegeln eine andere Wirklichkeit.
Hassan Ata, Kurde aus Sirnak, zog 1996 mit seiner Familie nach Tarlabasi, nachdem sein Haus im Bürgerkrieg zerstört worden war. Er kaufte billig zwei kleine dreistöckige Häuser, die er und seine Familie aus eigener Tasche renovierten. Er lebt von der Miete. Die Stadt bietet ihm an, beide Häuser zu verkaufen. Dafür soll er nach Beendigung des Projekts eine Wohnung in dem sanierten Haus bekommen. Die restlichen Wohnungen des Hauses gehören dann der Baufirma. »Ich werde auf keinen Fall verkaufen. Was soll ich mit nur einer Wohnung? Von den Mieteinnahmen lebt meine ganze Familie.« Wie er denken viele Eigentümer. Man fühlt sich übervorteilt. »Für alle fünf Wohnungen haben sie mir insgesamt 212 000 Lira (rund 120 000 Euro; d. Red.) angeboten. Nach der Renovierung werden sie eine Wohnung für mindestens 300 000 Lira (rund 170 000 Euro; d.Red.) verkaufen. Was soll das?«
Der Schustermeister Yusuf Karapinar lebt seit 47 Jahren in Tarlabasi, seit 30 Jahren betreibt er im selben Gebäude seine kleine Werkstatt. In den übrigen Wohnungen leben seine Familie und einige seiner Angestellten. GAP Insaat bietet ihm in einer der hinteren Straßen eine Wohnung an; seinen Werkstattraum wird er verlieren. »Wo soll ich für das Geld, das sie mir bieten, Arbeitsräume finden? Wo sollen die Angestellten wohnen? Das ist unmöglich.«
Allerdings wird es für die zahlreichen kleinen Geschäfte und Werkstätten im neuen, modernisierten Tarlabasi weder Bedarf noch Platz geben. Die Stadtverwaltung spricht von einem Einkaufszentrum, Büroräumen und Parkhäusern.
Härter noch trifft es die Mieter. Mit knapp 70 Prozent ist der Prozentsatz derjenigen, die zur Miete wohnen, in Tarlabasi vergleichsweise hoch. In der restlichen Sadt liegt er bei 25 Prozent. Die Wohnqualität ist schlecht, aber die Mieten sind auch für diejenigen noch erschwinglich, die sonst nirgends in der Stadt Wohnraum finden. Istanbul gehört zu den Metropolen, in denen die Immobilienpreise in den letzten Jahren einen drastischen Anstieg erlebet haben.
Havva Isik aus Bitlis ist Hausfrau, kümmert sich um drei Kinder, während ihr Mann, Sakir Isik aus Mus, für den Mindestlohn von umgerechnet rund 230 Euro in einem Krankenhaus in Taksim arbeitet. Ihr jüngstes Kind hat Bronchitis und Asthma, die Wohnung ist feucht, aber die Familie kann sich eine Behandlung und die nötigen Medikamente nicht leisten.
»Ich hasse Tarlabasi«, erzählt sie, »es ist keine gute Gegend. Wenn ich könnte, würde ich gern woanders wohnen. Aber nirgendwo sonst können wir uns die Miete leisten. Jedes Jahr wird alles teurer, nur der Mindestlohn bleibt gleich.« Ihr Mann denkt anders: »Ich wohne hier. Das ist mein Viertel. Selbst wenn sie uns eine Villa anbieten, werde ich hier nicht ausziehen. Unser Dorf haben sie zerstört, wir haben kein Haus, in das wir zurückkehren könnten. Jetzt droht uns hier das Gleiche.« Die Stadtverwaltung macht vage Versprechungen, Mietzuschläge zu zahlen, beim Umzug behilflich zu sein. Die Vermieter weist man an, sich selbst mit den Mietern zu einigen. Auf konkrete Nachfragen reagiert die Stadtverwaltung abweisend, viele Mieter sind verunsichert. »Wahrscheinlich werden sie eines Morgens mit Bulldozern und Polizei vor der Tür stehen.« Sakir Isik macht sich keine Illusionen, er weiß, dass Familien wie die seine im neuen Tarlabasi unerwünscht sein werden.
Der Anwalt Erbay Yücak, der die Opfer der rücksichtslosen Stadterneuerung vertritt, sagt: »Da in Tarlabasi sowieso größtenteils Mieter wohnen, wird die Frage sein, ob die Stadt den Abriss nach dem Grundbuch oder nach den Leuten, die seit Jahren in dem Viertel wohnen, plant.« Um dem Vorhaben der Stadt geschlossen und organisiert entgegentreten zu können, gründeten die Anwohner jetzt den »Verein für Entwicklung und sozialen Beistand für die Eigentümer und Mieter von Tarlabasi«. Der Vorsitzende, Ahmet Gün, erläutert: »Die Stadtverwaltung und die Baufirma gehen nach einem einfachen Prinzip vor. Teile und herrsche. Die Hausbesitzer werden einzeln eingeladen, um über einen Verkaufspreis zu verhandeln. Können sie 70 Prozent der Hausbesitzer zu einer Unterschrift bewegen, erlaubt ihnen das Gesetz, die restlichen 30 Prozent einfach rauszuschmeißen. Viele Bewohner des Viertels können kaum lesen und schreiben. Sie sind sehr arm. Wir raten ihnen, ja nichts zu unterschreiben, nicht zu verkaufen. Die Stadtverwaltung arbeitet mit Versprechungen und Drohungen. Aber wir werden uns nicht so einfach betrügen lassen.«
Die erste Forderung des Vereins: eine Offenlegung der genauen Projektpläne. Das mag verwundern, doch trotz der Hochglanzbroschüren, der Pressekonferenzen und der Internetauftritte weiß niemand, was genau auf den 20 000 Quadratmetern, die GAP Insaat aufzukaufen versucht, entstehen soll. Fehlende Transparenz ist eines der Hauptprobleme der Istanbuler Stadtplanung. So wird jede konstruktive Diskussion von vornherein verhindert.
Der Stadtplaner Erhan Demirdizen findet, dass zwar die richtigen Fragen gestellt, aber die falschen Antworten auf die Probleme gegeben werden. Er kritisiert, dass keine professionellen Analysen erstellt wurden, was Tarlabasi und das soziale Gefüge in dem Viertel angeht. »Res­tauration eines Stadtviertels muss immer auch ökonomischer und sozialer Aufschwung heißen. Die Leute zu schützen, die in Tarlabasi leben, ist mindestens genauso wichtig, wie die Häuser zu sanieren«, betont er. Nese Erdilek, die im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Binnenmigration an der Bilgi Universität für das Stadtteilzentrum Tarlabasi arbeitet, kri­tisiert: »Bis jetzt wurde das gesamte Projekt ohne die Menschen geplant.«
Der Architekturprofessor Ugur Tanyeli bringt das Problem auf den Punkt. »Die Stadt ist ein Ort für Menschen, nicht für Gebäude. Aber ich habe das Gefühl, dass in der Türkei diejenigen, die renovieren wollen, die Gebäude über die Menschen stellen. Man muss anfangen, gemeinsam nach Kompromissen zu suchen. Und diese Kompromisse müssen zuallererst beinhalten, dass die Menschen, die jetzt in Tarlabasi wohnen, auch weiterhin dort bleiben können.«