Aufstände in Kamerun

Aufstand der Zauberlehrlinge

In Kamerun hat sich ein Streik der Taxifahrer zu einem gewalttätigen Aufruhr gegen die hohen Lebensmittelpreise ausgeweitet.

»Die Politik des Bauchs« ist ein aus der politischen Metaphorik Kameruns stammender Ausdruck, der sich nicht nur auf den körperlichen Umfang vieler Politiker des Landes bezieht. Die Metapher verweist vor allem auf das Prinzip des Konsums, das das politische und wirtschaftliche Handeln in weiten Teilen Afrikas prägt, wie der französische Autor Jean-François Bayart in einer Studie zum »Staat in Afrika« erläutert. Der Konsum der verfügbaren Mittel statt ihrer Investition, ihre Verwendung in der Gegenwart statt einer Wette auf zukünftige Rendite: Was bereits ver­braucht wurde, kann weder durch politische Intri­gen noch gewaltsame Umstürze abhanden kom­men. Die Metapher hat in den vergangenen Wochen eine weitere Bedeutung erhalten. Die städtischen Armen, die in Kamerun in der Tat von der Hand in den Mund leben, sahen sich in den vergangenen Monaten mit ständig neuen Preissteigerungen konfrontiert und reagierten darauf wie überall in Westafrika mit Protest als einer sehr direkten Form der Politik der leeren Bäuche.

Ende Februar rief der Verband der Kameruner Sammeltaxifahrer seine Mitglieder zum Streik auf, eigentlich nur, um gegen eine erneute Erhöhung der Benzinpreise zu protestieren. Doch schnell gewann der Protest eine eigene Dynamik und verband sich mit dem Unmut über steigende Lebensmittelpreise. Innerhalb von fünf Monaten hatte sich etwa der Preis für Weizenmehl um 45 Prozent erhöht. Ein weiterer Grund für die kurzlebige, aber heftige Protestbewegung war die Absicht von Staatspräsident Paul Biya, sich durch eine Verfassungsänderung eine weitere Verlängerung seiner bereits 25jährigen Amtszeit zu ermöglichen.
In der Hauptstadt Yaoundé und vielen anderen Städten West- und Zentralkameruns war für vier Tage von den kleinen gelben Taxis, die üblicherweise die Straßen dominieren, nichts mehr zu sehen. Die Fünfsitzer, in die sich oft bis zu sieben Personen zwängen, sind normalerweise das Hauptverkehrsmittel. Aber während des Streiks war die alltägliche Geräuschkulisse aus Anfahren, Hupen zum Werben potenzieller Kunden, Türenschlagen und Wiederanfahren verstummt. Auch für die staatlichen Busse standen die Menschen vergeblich an: Durch Blockaden war es den Taxifahrern gelungen, sie am Fahren zu hindern. Schließlich solidarisierten sich auch die Betreiber von Überlandbussen. Motorisiert waren nur noch die wenigen, die sich ein eigenes Auto leisten können. Alle anderen gingen zu Fuß oder blieben, wo sie waren.
Raymond freut sich darüber: »Sogar die feinen Frauen gingen zu Fuß.« Für ein paar Tage schienen alle gleich: Ob auf Stöckeln, in Lederschuhen oder Flipflops, ob mit oder ohne Aktentasche – wer in Yaoundé irgendwohin wollte, musste zu Fuß gehen. Raymond ist bereits viel zu Fuß gegangen: Bei seiner Odyssee von Kamerun nach Nord-afrika, bei seinen zahlreichen Versuchen, den Zaun zwischen marokkanischem und spanischem Territorium zu erklimmen. Er hat dubiose Geschäfte betrieben und dafür eingesessen. Jetzt ist er 30, wieder in Kamerun und sitzt zwischen allen Stühlen. Reiche Verwandte haben ihn aufgenommen: »Damit ich mich ausruhe.« In ihrer Residenz, europäischen klassizistischen Bauwerken nachempfunden, ist er »Mädchen für alles«. Mal kauft er ein, mal kocht er, mal serviert er. Bezahlt wird er nicht – »Es ist doch Familie« –, dafür hat man ihm eine Wohnung besorgt, und er darf sich vom Essen nehmen. Das Leben der Oberklasse befremdet ihn: Die Kinder sprechen nur Französisch, die Familie pflegt gute Kontakte zur Regierung und besitzt mehrere Autos.
Von den Protesten ließ sich Raymonds Onkel zunächst nicht aus der Ruhe bringen. In seiner Residenz stieg am zweiten Tag des Streiks ein großes Fest. Raymond musste das opulente Buffet arrangieren. Als grotesk empfand er das, angesichts der Tatsache, dass der Streik der Taxifahrer sich bereits zu einem breiten Protest gegen hohe Lebenshaltungskosten ausgeweitet hatte. Einen Abend später hatte sich die Stimmung auch in der Oberklasse gewandelt: Raymonds Onkel lud sein Gewehr. Erst spätabends war er, von seiner Arbeitsstelle nach Hause zurückgekehrt, weil er immer wieder Straßenblockaden umfahren muss­te. Auf den leer gefegten Hauptstraßen waren überall kleine Gruppen junger Männer an Barrikaden aus brennenden Reifen postiert. Das Radio meldete, dass einer der zentralen Märkte der Stadt geplündert und in Brand gesteckt worden sei. In einer Provinzstadt hätten sich, hieß es, Demonstranten vor der scharf schießenden Polizei in einem Internat verschanzt und die Schüler als Geiseln genommen. Von den zahlreichen Hügeln Yaoundés aus konnte man an mehreren Orten Rauch aufsteigen sehen.
Abends hielt der Präsident im Fernsehen eine mit Spannung erwartete Ansprache. Er beschuldigte die politische Opposition, den Taxistreik für ihre Zwecke zu missbrauchen. Biya fügte der po­litischen Sprache Kameruns ein weiteres geflügeltes Wort hinzu, indem er die vermeintlichen Anführer der Proteste als »apprentis sorciers«, Zauberlehrlinge, bezeichnete. Schnell avancierte der Ausdruck zum Lieblingsschimpfwort der Kameruner: Jeder, der sich auch nur den kleinsten Fauxpas leistet, ist nun ein verflixter Zauberlehrling. »Der Präsident hat eine schlechte Rede gehalten«, befindet Raymond. Anstatt Verständnis für die prekäre finanzielle Situation der Bevölkerung zu zeigen, habe er die Protestierenden beschimpft. »Jetzt geht’s los«, dachte Raymond hoffnungsvoll, er wollte mit Freunden darüber beraten, was zu unternehmen sei. In der Nacht fielen immer wieder Schüsse.
Doch Raymond hatte Unrecht. Es ging nichts los, im Gegenteil. Die Taxifahrergewerkschaft erklärte den Streik für beendet, nachdem die Regierung die Subventionen für Benzin um einige Francs-CFA erhöht und so den Preis gesenkt hatte. Zwar gingen die Proteste zunächst weiter. Doch dann rückte das Militär aus, vertrieb die Protestierenden von den Barrikaden und besetzte die Straßenkreuzungen. Einige Tage später meldete die Regierung, 40 Menschen seien bei den Unruhen umgekommen, andere Quellen sprechen von mehr als 100. Auf den Straßen berichten die Menschen einander erschrocken von den Toten und Verletzten, die sie gesehen hatten.

Nach der gewaltsamen Repression kamen die Zugeständnisse: Die Regierung setzte die Importzölle für einige Grundnahrungsmittel aus und nutzte damit eines der wenigen Mittel, überhaupt auf die vom Weltmarkt bestimmten Preise Einfluss zu nehmen. Hinter der Bereitschaft, auf die Sorgen der Bevölkerung einzugehen, mag das Bemühen Präsident Biyas stehen, den Unmut über die vergangene Woche im Parlament durchgesetzte Verfassungsänderung zu zügeln. Vor allem aber sind auch in Kamerun die stetig wachsenden Städte wahre Pulverfässer. Die wenigen staatlichen Infrastrukturinvestitionen werden daher traditionell in den Städten getätigt. Städtische Aufstände können in kurzer Zeit eine sehr kraftvolle Dynamik entfalten, meist zerfallen sie aber auch genauso schnell.
Es sind oft nur privilegierte Gruppen, die zu kollektivem Handeln fähig sind, wie etwa die Kameruner Taxifahrer. Die Prekarisierung der Bevölkerung in informellen Märkten erschwert die kontinuierliche Organisation von Protesten. Vor allem ist es aber der leere Bauch, an dem städtische Proteste oft scheitern. Was kaum verwundert, wenn man sich täglich um die Organisation des Überlebens kümmern muss.