Die neue Platte von Atlas Sound

Der Traumfänger

Bradford James Cox gehört zur Band Deerhunter und veröffentlicht als Atlas Sound wundersame Psychedelic.

Niemand weiß, aus welchem Stoff Träume gemacht sind. Ihre unlogische Beschaffenheit, ihre Diskon­tinuitäten und kognitiven Unschär­fen bringen manchen Traumforscher um den Schlaf. Sicher ist in der Forschung wohl nur, dass wir am besten die emotionsgeladenen Träume erinnern, etwa hyperrealistisch gruselige Träume unserer Kindheit.
Wenn Bradford James Cox an den Anfang seines ersten Solo-Albums als Atlas Sound »Let The Blind Lead Those Who Can See But Cannot Feel« eine Sound-Collage stellt, in der ein kleiner Junge mit traumverlorener Kinderstimme von einem Gespenst mit Namen Charlie erzählt, während es im Hintergrund musikalisch rauscht, rasselt, seufzt und atmet, dann ist die grobe Richtung der Reise offensichtlich vorgezeichnet: hinein in die Welten der Mythen und des Mystischen, durch die Pforten des Unbewussten und Unwirklichen. Das mit allerhand surrealistisch anmutenden, unheimlichen Bildern versehene Cover des Tonträgers ist ein weiteres Detail dieses Traumbezugs, der damit begann, dass Cox sich eines Tages in sein Schlafzimmer verzog, um am Laptop ein Album aufzunehmen. Ein Album, das sich in etwa so anhören sollte, wie sich Träume anfühlen.
Es trägt einen esoterisch verblasenen Titel, »Let The Blind Lead Those Who Can See But Cannot Feel«. Das ist ein bisschen schade. Der alte, hundertmal wiedergekäute Irrglaube, die Welt würde eine bessere, wenn wir nur stärker auf unsere Herzen hörten, steckt in diesem Satz. Die Vernunft (hier: das Sehen) wird darüber hinaus in eine neuropsychologisch längst obsolete Opposition zum Fühlen gebracht. Und möglicherweise steckt in dieser Aufforderung auch die merkwürdige Annahme, dass Menschen mit Seh­behinderungen näher an ihre Gefühle herankommen könnten und damit näher bei sich wären. Doch vielleicht ist der Albumtitel auch nur ein naives, harmlos hübsches Bild, über das man sich nicht so viele Gedanken machen sollte. Zumal Cox, was sehr viel wichtiger ist, tatsächlich ein durchaus traumstarkes, postpsychedelisches Album von seltsam entrückter Schönheit und erheblicher Intensität gelungen ist.
Cox ist in der US-amerikanischen Underground-Szene schon länger kein Unbekannter mehr. Was vor allem an der Band Deerhunter liegt, deren Kopf und Sänger er ist. Zahlreiche Fans hat das Quintett aus Atlanta um den 1982 geborenen Multiinstrumentalisten, der aufgrund einer seltenen Erbkrankheit namens Marfan-Syndrom mit seinen eingefallenen Augen im langen Schädel und einem extrem schlaksigen Körper selbst ein wenig unwirklich ausschaut.
Wer Deerhunters Musik kennt oder gar das Glück hatte, Anfang Juni den einzigen Auftritt der Gruppe in Deutschland im knallheißen Berliner Club Westgermany zu verfolgen, wird die superhypnotischen Momente, die einem Deerhunter auf Platte und erst recht während eines Konzertes vermitteln, wo sie einen mit spielerischer Leidenschaft und phantastischen (post‑)psy­chedelischen Songs, Wänden aus Feedback, eruptiven Noiseausbrüchen und zauberhaften Melodien – Spacemen 3, Loop, Neu!, Stereolab, Yo La Tengo und Hawkwind im Hinterkopf – ins Land verzückt-vertrippter Träume schickten, so schnell nicht vergessen.
Das Chicagoer Label Kranky darf sich also glücklich schätzen, eine Gruppe wie Deerhunter unter Vertrag zu haben. Zuletzt war es um die 1993 gegründete Plattenfirma, die eine ganze Weile mit sehr viel Herzblut und innovativem Geschick stets am unteren Ende der Hipness-Skala und unbeirrt von allen wechselnden Moden Ambient, Post-Rock und Electronica zusammenbrachte, sehr ruhig geworden. Die Veröffentlichungen des Labels wirkten in den vergangenen drei, vier Jahren reichlich saft- und kraftlos, regelrecht uninspiriert. Deerhunters Platten sowie Atlas Sounds Album zeigen da einen Weg zur Besserung. Es sind beseelte Werke voller kleiner und großer Einfälle, unglaublich verspielt, wankelmütig, unberechenbar und emotional abgründig zugleich. Womit wir wieder bei Cox’ Grundidee wären, ein Träume simulierendes Album aufzunehmen.
Cox arbeitet sich an musikalischer Traumsuggestion ab und zwar so konsequent, wie es einem Musik, die mit psychedelischen Mitteln berühren und gleichzeitig Schauer über den Rücken jagen möchte, eben erlaubt. Gesungene Konsonanten werden soundtechnisch vernuschelt, manchmal klingen sie wie entfernt raschelndes Papier. Die Synthiesounds und Melodien wirken anämisch, wie vom Winde verweht. Auf allem liegt viel Hall, der im dichten, mitunter klaustrophobisch wirkenden Gedränge aus fremdartigen Geräuschen, Glöckchenklängen, verzerrten Gitarren, sphärischen Soundteppichen und gleichmäßig pulsierenden Beats die engen Räume ab und zu Richtung Freiheit weitet. All das ist trickreich und abwechslungsreich inszeniert und im Verhältnis zu den beinahe schon rockmäßig explodierenden Songs von Deerhunter von geradezu diskreter Intensität.
Die intensivsten Momente dieser Platte sind freilich jene, in denen es besonders psychedelisch und melancholisch zugleich zugeht. Dann wähnt man sich vielleicht unter freiem Himmel – an einem seltsamen Tag in der ewigen Mittagsruhe des August, wenn die Zeit aus den Fugen geraten zu sein scheint, die Luft unwirklich zu flirren beginnt und es einem die Kehle zuschnürt, weil einem der eigene Körper plötzlich fremd geworden ist und man sehr viel mehr fühlt, als ertragen zu können man glaubt. Da muss man dann durch. Oder man drückt die Stopp-Taste.

Atlas Sound: »Let The Blind Lead Those Who Can See But Cannot Feel« (4AD/Kranky/Beggars Group)
Deerhunter: »Fluorescent Grey« (EP) und »Cryptograms« (beide Kranky/Cargo)