Das Männlichkeitsbild türkischer Jugendlicher

Schwach werden

Wenn Männer beim Anblick eines hübschen Mannes schwach werden, gelten sie als Schwächlinge, jedenfalls in der traditionellen Vorstellung, in der der Mann sich von nichts und niemandem ficken lässt.

Seit geraumer Zeit verweisen Sozialarbeiter, Lehrer und andere, die Erfahrung in der Arbeit mit Schülern und Jugendlichen haben, auf das Phänomen, dass türkeistämmige Jungen im Vergleich zu deutschstämmigen Jugendlichen schwulen- und lesbenfeindlicher sind. Diese Beobachtung wurde im vergangenen Jahr auch durch eine wissenschaftliche Studie der Universität Kiel belegt. Das traditionelle Männlichkeitsbild ist eine der Grundlagen, warum Homophobie unter türkeistämmigen Jugendlichen besonders ausgeprägt ist, wobei das Pänomen selbstverständlich auch unter deutschen Jugendlichen zu beobachten ist und ähnliche Ursachen hat.

Sind die sozialen Rahmenbedingungen bei tür­kei­stämmigen Jugendlichen nicht besonders günstig, werden andere Faktoren für ihre Identität bedeutsam. Können sie sich beispielsweise nicht mehr über eine erfolgreiche Schul- und Berufsausbildung oder andere, individuelle Erfolge profilieren, beginnen sie, besonderen Wert auf ein ausgeprägtes Bild ihrer Männlichkeit zu legen.
Zu den komplexen Ursachen, die der Homophobie zugrunde liegen und die auch für erhöhte Straffälligkeit und unsoziales Verhalten männlicher türkischer Jungen in der zweiten und dritten Migrantengeneration verantwortlich zu machen sind, gehört der Werte- und Normenkodex, mit dem die Jungen aufwachsen und über den sie ihre Identität definieren. In Anti-Aggressivitäts-Trainings mit straffälligen arabischen, türkischen und albanischen Jugendlichen lässt sich feststellen, dass diese Jugendlichen aufgrund traditioneller Männlichkeitskonzepte nicht nur zu Straftaten bereit, sondern auch schwulenfeindlich eingestellt sind. Denn Homosexualität widerspricht dem traditionell-patriarchalischen Männlichkeitsbild. Die wichtigsten Aspekte in diesem Kontext sind Stärke, Dominanz und selbstbewusstes Auftreten, Nicht-Homosexualität sowie bedingungslose Verteidigung der weiblichen Familienmitglieder.
Die geistige und körperliche Stärke ist das wichtigste Indiz für eine ausgeprägte Männlichkeit. Bereits im Kindesalter werden die Jungen zum Ringen, Boxen und anderen Kampfsportarten ermutigt und darin gefördert, während dies für Mädchen kategorisch abgelehnt wird. Wenn sich die Jungen beim Spielen verletzen und dabei weinend zur Mutter gehen, werden sie unter Umständen bestraft, da das Weinen die weibliche Rolle, die Schwäche, impliziert.
Türkische Jungen treten dominant und selbstbewusst auf. Sie werden zu diesem Verhalten erzogen und ermuntert. Ein Junge muss in der Lage sein zu entscheiden, was für die später zu gründende Familie das »Richtige« und »Vorteilhafte« ist. Dies kann er unter anderem dadurch unter Beweis stellen, dass er seine Position selbstbewusst verteidigt und auf Meinungen, die von außen an ihn herangetragen werden, keine Rücksicht nimmt. Sonst könnte ihm das als Schwäche ausgelegt werden, eine Eigenschaft, die den Frauen vorbehalten ist.

Die Bezeichnung »schwul« ist sowohl unter migrantischen Jugendlichen als auch unter deutschen Jugendlichen in bestimmten Kontexten negativ besetzt. Dabei gibt es jedoch Unterschiede. Für türkische Jugendliche wird die aktive Rolle beim Geschlechtsverkehr mit den Begriffen Stärke, Dominanz, Potenz und Männlichkeit in Verbindung gebracht. Die passive Rolle wird dagegen mit den Begriffen Schwuchtel, Frau und Schwächling abgewertet und ist verpönt. Bei den Jugendlichen wird man nur dann als »schwul« bezeichnet, wenn man die Rolle des »Schwächeren«, also des passiven Parts, übernimmt, weil diese in der Regel die Frauenrolle impliziert und nicht in das beschriebene Männerbild passt. Wenn schwulenfeindliche junge Männer Kontakt zu Schwulen aufnehmen und Geschlechtsverkehr haben, bezeichnen sie sich nicht als homosexuell, sondern betonen, dass sie ausschließlich in der aktiven Rolle waren.
Die bedingungslose Verteidigung der weiblichen Familienmitglieder leiten türkische Jugendliche aus dem Wert ab, der der Ehre beigemessen wird. Jugendliche in Deutschland, die ein mangelndes Selbstbewusstsein und ein geringes soziales Ansehen haben, betonen diesen Wert rigider als Jugendliche und Heranwachsende, die den sozialen Aufstieg vollzogen haben oder vollziehen werden. Im traditionellen Kontext klärt der Begriff der Ehre (namus) die Beziehung zwischen Mann und Frau sowie die Grenzen nach innen und außen. Ein Mann gilt als ehrlos, wenn seine Frau oder Freundin beleidigt oder belästigt wird und er nicht extrem und empfindlich darauf reagiert. Es gilt nur derjenige Mann als ehrenhaft, der seine Frau verteidigen kann, Stärke und Selbstbewusstsein zeigt und die äußere Sicherheit seiner Familie garantiert. Eine Frau, die einen Ehebruch begeht, befleckt damit nicht nur die eigene Ehre, sondern auch die ihres Mannes, weil der Mann nicht Manns genug war, sie davon abzuhalten.
Ehre im Sinne von namus impliziert, dass die Männer die Sexualität ihrer Frauen, Ehefrauen, Töchter und Schwestern kontrollieren und ihre Kontrolle sozial anerkannt ist. Schwulen Männern wird diese Eigenschaft abgesprochen, da ihnen Schwäche, Weiblichkeit sowie Zurückhaltung unterstellt wird und sie dadurch im traditionellen Sinne ehrlos sind.

Das Männlichkeitsbild wird den türkischen Ju­gend­lichen in Deutschland von den Eltern mitgegeben. Diese übertragen ihre eigene ländlich–patriarchalisch geprägte Erziehung auf ihre Kinder. Zusätzlich zu den Schwierigkeiten, die diese Jugendlichen sowieso in der deutschen Gesellschaft haben, werden sie von den Eltern nicht ausreichend auf die globalisierte Industriegesellschaft vorbereitet. Homosexualität wird weiterhin verpönt, tabuisiert und als Krankheit betrachtet, die behandelt werden muss. Darüber hinaus werden homosexuelle Männer verfolgt und in der Familie, Gemeinde und Gesellschaft bekämpft. Homosexuelle Männer und Frauen werden im besten Fall zwangsverheiratet, um von der Familie Schande abzuwähren. In schlimmen Fällen werden die homosexuellen Kinder verstoßen, im Extremfall gar umgebracht.
Welchen Stellenwert Homosexualität in der türkischen Gesellschaft hat, zeigt der Fall aus Istanbul: Der Schwulen- und Lesbenverein Lambda wurde in diesem Frühjahr von einem Gericht verboten. Die Begründung des Gerichts bringt die Meinung der Mehrheit der Türken, auch der in Deutschland lebenden, auf den Punkt: Der Verein sei sittenwidrig und verstoße gegen die öffentliche Moral.
Vor allem die traditionellen Männlichkeitsbilder müssen in die Bildungsarbeit einbezogen werden, damit die Jugendlichen die Begriffe reflektieren, hinterfragen und gegebenenfalls revidieren. Vor allem im Sexual- und Ethikunterreicht müssen diese Themen aufgenommen werden, denn neben den türkeistämmigen Jugendlichen haben auch die deutschstämmigen Jugendlichen reichlich Nach­holbedarf.

Ahmet Toprak ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund und Autor des Buchs »Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre«. Lambertus-Verlag 2007