Der holländische Rätekommunist Cajo Brendel

Die Partei, die Partei, die ist immer schlecht

Die »Ausgewählten Texte« des hollän­dischen Rätekommunisten Cajo Brendel zeigen, wie nötig die radikale Kritik des Kommunismus ist, um ihn neu begründen zu können.

»Was ist orthodoxer Marxismus?« fragte 1919 Georg Lukács, damals stellvertretender Volkskommissar der ungarischen Räterepublik, um eine luzide Antwort zu geben: »Orthodoxer Marx­ismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen ›Glauben‹ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines ›heiligen‹ Buches. Orthodoxie in Fragen des Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode.«
Und das bezog sich wesentlich auf die »materialistische Dialektik« als »revolutionäre Dialektik«. Lukács begründete damit – und der Text erschien dann 1923 in dem berühmten Band ›Geschichte und Klassenbewusstsein‹ – merkwür­digerweise genau umgekehrt die Linie eines nicht-ortho­doxen Marxismus, das heißt eben eines reflektierten, theoretisch hochgebildeten und kri­tischen sowie an der Philosophie Hegels geschulten Marxismus. Merkwürdig war dieses Plädo­yer für einen nicht-orthodoxen »orthodoxen Marx­ismus« aber auch deshalb, weil Lukács damit gleichzeitig eben doch im Kern den Parteiapparat, das heißt: die an die Partei gebundene und von der Partei geführte Politik, verteidigte be­ziehungsweise überhaupt nicht infrage stellte.

Bei aller differenzierten Analyse des Klassenbewusstseins und dessen Formen der Verdinglichung war klar, dass das Proletariat das revolutionäre Subjekt ist, welches in der Partei seinen gleichsam objektiven Ausdruck findet. Lenins Partei neuen Typs erfuhr hier also ihre philosophische Begründung. Und obwohl es etwa mit Karl Korsch längst andere Stimmen innerhalb der marxistischen Debatte gab, wurden hier wie selbstverständlich alle libertären, rätesozialis­tischen, anarchistischen Positionen jenseits des Parteikommunismus schlichtweg ignoriert. So haben sich als Mainstream in den theoretischen Auseinandersetzungen um eine emanzipato­rische Praxis seither zwar unterschiedlichste Varianten von Neomarxismen und Neuer Linker etabliert – einschließlich aller obskuren Trotzki­smen, Maoismen und Leninismen –, denen es aber allesamt nicht gelungen ist, die Organisationsfrage jenseits von Partei und ihren autori­tären Strukturderivaten (das reicht bis in die Pop­linke der Neunziger) zu beantworten.
Welches Problem sich dabei gegenwärtig stellt, wird an zwei Strängen bevorstehender und laufender Diskussionen deutlich, beziehungsweise wäre das daran deutlich zu machen: Zum einen ist es die neuerlich in unterschiedlichen Kreisen diskutierte Frage nach »Klasse« beziehungsweise »revolutionärem Subjekt«, in die zwar schon ansatzweise radikale Überlegungen zum Klassenbegriff und zur Subjektkritik aufgenommen wurden, bei der aber die Organisationsfrage noch nicht hinreichend erfasst und der Topos »Partei« noch nicht angemessen problematisiert ist. Zum anderen ist es das verstärkte Interesse am »Politischen«. Hier geht es zwar um eine Neu­fassung der Begriffe des Politischen jenseits von Staat und Sozialpolitik, gleichwohl wird – wie es bei Autoren wie vor allem Jacques Rancière, Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoij Zizek deutlich – gerade in Fragen der Organisation der Traditionsmarxismus nicht wirklich überschritten wird, ja, eigentlich wird nicht einmal das Niveau von Lukács’ Verteidigung des orthodoxen Marxismus erreicht.

Hier kommt die Veröffentlichung von ausgewählten Texten des Rätekommunisten Cajo Brendel gerade recht, die jetzt beim Unrast-Verlag in der Reihe »Dissidenten der Arbeiterbewegung« unter dem Titel »Die Revolution ist keine Parteisache« erschienen sind.
Wer ist Cajo Brendel? Als Lukács und andere die Diskussion um einen kritischen Marxismus voranbringen, ist Brendel noch keine zehn Jahre alt. Er wird am 26. Oktober 1915 in Den Haag geboren. Mit neunzehn Jahren bekommt er Kontakt zu Trotzkisten, schließt sich dann der »Gruppe Internationale Kommunisten – Holland« an. Ein Jahr später, 1935, gibt er die Zeitschrift Proleta­rische Beschouwingen heraus. Er beteiligt sich an Streiks und anderen politischen Aktionen; 1940 gerät er nach dem Einmarsch der deutschen Wehr­macht in die Niederlande für kurze Zeit in Kriegsgefangenschaft. Im von den Nazis besetzten Holland bekennt er sich offen zum Marxismus, auch gegenüber den Faschisten, beteiligt sich aber nicht – wie viele seiner Genossen – aktiv am Widerstand (»Obwohl dies keine gute Periode seines Lebens gewesen ist, … machte er sich nicht der Kollaboration schuldig«, heißt es etwas ungenau-schwammig in dem »Nachruf« von Marcel van der Linden). Er lebt als Journalist und Redakteur, heiratet, hat mit seiner Frau Riek van der Meulen zwei Kinder, gibt Kurse in politischer Theorie. In den Fünfzigern und Sechzigern setzt sich Brendel intensiv mit dem Realsozialismus auseinander, insbesondere mit dem Arbeiteraufstand in der DDR 1953.
Seine politische Praxis ist im Anarchismus begründet, seine politische Theorie indes im Marx­ismus. Er gibt weiterhin Zeitschriften heraus und verfolgt als kritischer Publizist das po­litische Geschehen – nicht nur in Europa. Größere deutsch­sprachige Publikationen erscheinen jedoch erst in den siebziger Jahren, so 1973 Brendels Schrift »N. Lenin als Stratege der bürger­lichen Revolution«, dann 1977 »Thesen über die chinesische Revolution« und – nach Jahren, in denen es ruhiger wird in Brendels Leben – erst 2001 »Anton Pannekoek – Denker der Revolution«. Cajo Brendel stirbt, körperlich geschwächt, aber immer noch politisch aufrecht bis ins hohe Alter, am 25. Juni 2007.

Der Grundsatz Brendels ist in der rücksichtslosen Kritik jeder Parteistruktur begründet. Seit den dreißiger Jahren hielt Brendel daran fest. Er hatte seine Einsichten aus der praktischen Erfahrung dieser Jahre entwickelt: nicht nur mit Blick auf die konkrete Situation in den Niederlanden, sondern auch in der Beobachtung der revolutionären Ereignisse in Spanien und China. Marcel van der Linden schreibt in seinem Nachruf über Brendel: »Von zentraler Bedeutung war für ihn, dass Revolutionäre sich jedweder politischen Aktivität zu enthalten hätten. Da die Befreiung der Arbeiterklasse buchstäblich das Werk der Arbeiterklasse selbst sei, brauche sie keinerlei Ratgeber, nicht einmal rein propagandistische Unterstützung.«
Brendel ist »Theoretiker der autonomen Klas­sen­kämpfe« – ein »Ultralinker«, wie er sich und seine Genossen mit ironischer Selbstdistanz nennt: »Wir Ultralinken behalten Recht. Die ge­sell­schaft­liche Entwicklung geht so vonstatten, wie wir es vorausgesagt haben, und es stellt sich heraus, dass unsere Interpretation von Karl Marx mit der Wirklichkeit übereinstimmt.« Das ist keineswegs, wenn auch nicht sonderlich komplex, selbstverständlich. Berührt ist damit nämlich das Problem, welches in der bisherigen Beschäftigung mit der sozialistischen Theorie und Praxis weitgehend ausgespart blieb: die Frage, wie sehr Politik beziehungsweise das politische Interesse der Subjekte in der subjektiven Praxis selbst zu suchen ist, und zwar theoretisch reflektiert und kritisiert, aber nicht deduziert und kontrolliert werden kann. Insofern steht die Organisationsfrage als Grundsatzfrage auf der Tagesordnung; und insofern gilt Brendels Hinweis für die gerade erst begonnene Diskussion um den Realsozialismus, dass der Rätekommunismus keine spezielle Kritik am Stalinismus sei, sondern eine allgemeine und grundlegende am Bolschewismus.
Aufgenommen ist in dem Band der aus­ge­wähl­ten Texte auch ein Interview mit Brendel von 1999. Auf die Frage, wie es »denn heute um die rätekommunistische Bewegung bestellt« ist, antwortet er, wenn auch mit unproblema­tischem Bezug auf das Proletariat, als anarchis­tischer Marxist: Der leninistische Standpunkt, »ohne revolutionäre Theorie keine revolutio­näre Praxis«, sei unzureichend, denn: »Die Realität sieht anders aus. In Wirklichkeit gibt es kei­ne wie auch immer geartete Theorie, wenn es kei­ne Praxis, das heißt eine Wirklichkeit gibt, auf welcher die Theorie basiert … Danach haben sich auch Marx und Engels verhalten. Ich verstehe den Rätekommunismus nicht direkt als eine ›Bewegung‹; wichtig ist meiner Meinung nach die Bewegung der Arbeiter, und die Bewegung gibt es aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position, ob sie die rätekommunistischen Auffassungen kennen oder nicht. Nicht wegen dieser Auffassungen kämpfen sie, sondern weil der Kapitalismus sie dazu zwingt.«
Diese Position kann nicht affirmativ übernommen werden; bei Brendel bleibt gerade sein positiver Bezug auf die Arbeiterklasse ambivalent: Denn einerseits zeigen seine Schriften höchste Sensibilität für die Einschätzung aktueller politischer Ereignisse und Situationen – etwa in Bezug auf den Mai 1968 oder auch in der einzigartig zu nennenden Kritik der Politik Gorbatschows –, andererseits wird aber die Bindung an das Proletariat nie in Frage gestellt, sondern bleibt in frühesten politischen Erfahrungen verankert, die Brendel wiederum kaum aktualisierend überprüfte.
Was bleibt und wofür dieses Buch in den anstehenden Diskussionen eine Initialzündung liefern könnte, ja sollte: Das Programm, Partei für keine Partei zu ergreifen, um so noch einmal die Frage nach dem »orthodoxen Marxismus« zu stellen, die sich diesmal an eine radikale Kritik des Kommunismus wagt, um aus der histo­rischen Erfahrung wie gleichwohl aus der systematischen Analyse eben den Kommunismus als emanzipatorische Bewegung für das einundzwanzigste Jahrhundert radikal neu zu begründen.

Cajo Brendel, »Die Revolution ist keine Parteisache. Ausgewählte Texte«, hg. von Andreas Hollender, Christian Frings und Claire Merkord, Unrast Verlag, Münster 2008, 320 S.