Fleckenteufel und Apfelkorn

Saturday Night Fever

Thorsten ist 16 Jahre alt und nicht nur mit seinem Geschlechtstrieb beschäftigt, er leidet auch unter einer quälenden Verstopfung. Was auch daran liegen mag, dass er gerade unentspannt ist. Zusammen mit vielen Gleichaltrigen befindet er sich – man schreibt das Jahr 1977 – auf einer evangelischen Kirchenfreizeit, an der Ostsee, in der Nähe von Scharbeutz. Dort liest er gerne Landserheftchen. Bis er auf die Romane von Charles Bukowski aufmerksam wird. Ein Bericht aus einer Zeit, als es noch Worte wie »Engtanzabend« gab und man dem Dämon Apfelkorn verfallen war.

Samstag, Partytime. Karamba, Karacho, ein Whiskey. Wir machen durch bis morgen früh und singen bumsfallera. Olé, wir fahr’n in Puff nach Barcelona. Ich versuche mich jetzt schon damit abzufinden, dass ich nicht zu den Gewinnern des Abends zählen wer­de. Am liebsten würde ich mich mit dem nächsten Bukowski ins Zelt verkriechen: »Faktotum«, laut Tiedemann nicht ganz so stark wie die anderen Bücher. Egal, Bukowski kann gar nicht schlecht schreiben.
Thomas Mann. Heinrich Böll. Günter Grass. Alles Scheiße.
Pastor Schmidt ist mit den Erwachsenen nach nebenan ins Haus Seemöwe ausgewichen, um der Illusion eines perfekten Disco­abends nicht im Wege zu stehen.
Die Tische sind weggeräumt und die Stühle im Kreis aufgestellt. Irgendwie wirkt der Raum gleich­zeitig größer und kleiner. Merkwürdig. Die Mädchen sitzen auf der einen Seite, die Jungen auf der anderen. Tuschel, tuschel, abwart, abwart. Harald ist mutig oder dumm oder beides und quetscht sich zwischen Gundula und eine andere Dicke aus seiner Clique (Frauke?). Karin hat ihre Hände zwischen die Beine geklemmt und macht einen unglücklichen Eindruck. Für sie ist das auch nix hier. Indianername: Die, die nie aufgefordert wird. Wie Karin sich wohl immer so fühlt? Nicht ungefähr, kann man ja se­hen, dass ihr irgendwie unwohl ist, nein, exakt, präzise, atomgenau. Das wäre doch mal interessant. Einmal im Leben in die Haut eines anderen schlüpfen.
Der dumme Peter Edam gibt den Discjockey, Dia­kon Steiß steht neben ihm und assistiert. Wo gibt’s denn so was, Discjockey mit Assistent? Edam dreht an zwei oder drei Knöpfen, die der Plattenspieler hat, während Steiß in den Platten herumwühlt und die Reihenfolge festlegt. So ein Quatsch, das ist doch gerade der Job vom Disc­­jockey, der muss auf die Stimmung reagieren und sie hochpeitschen oder je nachdem wieder runterfahren.
Dann geht’s los: die Titelmelodie von »Star Wars«. Angeblich soll der Film total gut sein, das Beste überhaupt. Kann schon sein, interessiert mich nicht, so gut wie »Rocky« ist der sowieso nicht, kann der nicht sein, auf jeden Fall ist die Titelmelodie beknackt und vollkommen ungeeignet als erstes Stück. Smokie zum Beispiel wäre gut zum Reinkommen. Das Discoduo Edam / Steiß hat es einfach nicht drauf, so viel ist jetzt schon klar. Ich muss an den Spruch von Herrn Schrader denken: Als Mensch zu dumm und als Schwein zu kleine Ohren. Passt zwar irgendwie nicht, aber auf der anderen Seite eben irgendwie doch. Das zweite Stück ist »Go Your Own Way« von Fleetwood Mac. Viel zu früh! Die verschießen jetzt schon ihr ganzes Pulver, und wenn’s drauf ankommt, haben sie nur noch Jürgen Marcus im Köcher, ich seh’s kommen. Der Pastor müsste eingreifen, aber der ist nicht da! »Jeans on«. »I put muggle jeans on, I put my opel Jeans on.« Schon seit geraumer Zeit frage ich mich, was »muggle« und »opel Jeans« sein sollen. Steht in keinem Wörterbuch.
Die Tanzfläche ist gähnend leer.
»Money, Money, Money«, herrlich. Auf die Blonde habe ich mir schon öfter einen gewichst. Abba gilt als uncoole Mädchenmusik, noch schlimmer als Chris Roberts, Tony Marshall und Roberto Blanco zusammen. Egal, ich finde fast alle Abbahits gut, bis auf »Waterloo«, beziehungs­weise an »Waterloo« ist der Refrain Scheiße, und die Strophen sind gut, sehr gut sogar. »Hotel California«. Susanne, Petra und Ina stürmen auf die Tanzfläche, kreischen übertrieben albern und tanzen eng umschlungen. Dabei tun sie so, als würden sie sich über die Musik lustig machen oder über die Situation oder was weiß ich, aber das stimmt natürlich nicht, die tun nur so, als ob sie drüberstünden. So ein paar dumme Puten. Die können ihren Perversico nachher alleine trinken, lieber verbringe ich zusammen mit Gundula ein verlängertes Wochenende zu­sam­men im Schlafsack, ohne dass wir uns waschen. Wir dürfen auch nicht aufs Klo, es muss in den Sack gekackt werden. Ihhh, eklig. Ich stelle mir vor, wie mich nachher alle anbetteln, ich müsse unbedingt mit dabei sein: »Ach bitte, Thorsten, du musst unbedingt mit dabei sein!« Ich: »Nein.« Alle schauen mich enttäuscht an, ich drehe mich wortlos um, gehe an den Strand und mache Liegestütze, drei Sätze à siebzig Wiederholungen. Im Weiberzelt kommt trotz Ap­felkorn und Persico und Zigaretten keine Stimmung auf, und bereits vor Zwölf gehen Jungen und Mädchen getrennte Wege. Ohne mich läuft nämlich nichts, egal, ob ich was sage oder nicht. In Wahrheit bin ich der Dreh- und Brenn- und Angelpunkt, ohne den nichts geht, rein gar nichts.
Zum Glück reicht der Schwung nur für dieses eine Stück, danach setzen sich die Girls wieder auf ihre Plätze und tuscheln. Weiber, die tuscheln, sind das Allerletzte. Und »Hotel California« ist jetzt schon Omamusik.
Peter Edam hat seine Disco einfach nicht im Griff. Steiß, der Bock, kann gar nicht erwarten, bis es endlich richtig losgeht und er sich daran aufgeilen kann, wie Heiko Susanne an den Po fasst und ihr beim Engtanz die Glocken plattdrückt und die Zunge in den Hals steckt. Der arme Steiß, irgendwann ist er zu alt, dann heißt es nur noch glotzen und starren und gucken und stieren, und zwar genau bis ans Lebensende. Niemals mehr in junges, duftendes Fleisch greifen, daran wird er sich gewöhnen müssen. Daran und an noch Geringeres.
Das dümmste Stück des Jahres stammt von Shaun Cassidy: »Da Doo Ron Ron«. Shaun Cassidy ist einer der großen Mädchenschwärme, gleichauf mit David Cassidy oder Brian Connolly und den Kastenköpfen von den Bay City Rollers, die alle sagenhaft gleich aussehen, eine Kombination aus süß und dumm.
Dann passiert das Unglaubliche: Harald fordert Gundula auf! Harald bittet Gundula zu einem Tänzchen! Gundula wird von Harald zum Tanze geführt! Wie man es dreht und wendet, da wäre man nicht draufgekommen, da wäre kein Mensch draufgekommen. Harald ist außer sich, er packt Gundula an den gedunsenen Hüften, seine Nasenflügel beben, und er röchelt ihr irgendwas ins Ohr. Gundula gerät daraufhin völlig aus dem Häuschen und singt albern mit: »Da doo ronronron, da doo ronron, doo ronronron, da doo ronron.« Sie werfen die Arme in die Luft und verdrehen ihre Köpfe. Schamlos. Ha­rald sieht aus wie ein Steckrübenroboter und Gundula wie zerkochter Fisch. Was soll’s, der Bann ist gebrochen, und die Tanzfläche wird ge­stürmt: »Give a Little Bit«, »Cold as Ice«, »You Make Me Feel Like Dancing«. Tanzen, hüpfen, schwit­zen, juchzen, singen, klatschen. Je ausgelassener die Stimmung wird, desto elender fühle ich mich. Dummheit ist nur für Dumme unterhaltsam, denke ich, um mich abzugrenzen, aber das bringt auch nichts.

Plötzlich und ohne jeden Grund schalten die Ama­teurplattenleger drei Gänge runter: »When I Need You« von Leo Sayer. Schmusemusik! Viel zu früh! Mir kann’s egal sein, aber ich reg’ mich trotzdem auf. Vor einem Jahr oder so wurde Leo Sayer von Ilja Richter mit den Worten »ein klei­ner Mann mit einer ganz großen Stimme« angepriesen. Ich wusste damals schon, dass ich den Satz für immer behalten würde, es gibt Din­ge, die weiß man eben. Ich bin der einzige Mensch, der sich noch als alter Opa daran erinnern wird, wie Ilja Richter bei »Disco 76« Leo Sayer mal mit diesem Satz angekündigt hat.
Ilja Richter: »Einen wunderschönen guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, HALLO, FREUNDE!«
Alle: »HALLO, ILJA!«
Über die Sketche von und mit Ilja Richter können noch nicht mal die armen Landser im Zwei­ten Weltkrieg lachen.
»Sorry Seems to Be the Hardest Word«. Steiß schaltet das Deckenlicht aus, obwohl er sich ins eigene Fleisch schneidet, weil er jetzt nichts mehr zum Aufgeilen hat, der Bock. Dunkel hin, dunkel her, ich habe Augen wie ein Luchs: Heiko im Clinch mit Susanne, Roland mit Petra. Karin, Tiedemann und noch ein paar andere Ladenhüter (Peter Behrmann) bleiben sitzen, ich sowie­so. Nächster Engtanz. Und noch einer. Und noch einer: »Angie« von den Stones. Angee, Aaangee. Ich hasse Mick Jagger. Irgendjemand macht das Licht ganz aus. In dem Moment, unvermeidlich, »Je t’aime«, das Lied der Lieder. Der lange, dürre Karsten Petermann: »Ey, Leute, jetzt aber keine Gefühle kriegen.«
»Je t’aime, uuhh, je t’aime.« Das Gestöhne geht mir durch Mark und Bein. Ich will auch mal, darf aber nicht. Das Leben ist eine einzige Zu­mu­tung. Ich weiß, dass alle meine zukünftigen Tanzabende diesem hier bis aufs Haar gleichen werden. »Oh, mon amour, mon amour, je t’aime.« Niemals wird eine so etwas zu mir sagen. Ich falle in ein eisiges Loch, tiefer und tiefer, bis ganz nach unten, wo die Dunkelheit am dich­testen ist.
Plötzlich geht das Licht an. Irgendein Spielverderber will sehen, wer gerade mit wem zugan­ge ist. Susanne und Heiko, Roland und Petra, voll auf Zunge. Und noch ein paar andere, eigent­lich alle. Sie küssen sich, als wollten sie einander austrinken, die Schweine. Irgendwann reicht’s auch mal. Der Meinung ist wohl auch Wolfram Steiß, der den dummen Peter zwingt, wieder schnellere Musik aufzulegen. »Bobby Brown« von Frank Zappa. Jetzt, endlich, schlägt Tiedemanns Stunde: Er stürmt im Pfeffer-und-Salz-Mantel auf die Tanzfläche und wiegt sich mit geschlossenen Augen zur Musik. Sexual Spastic. Ja. Kiss my heinie. Ja, ja. Den Discjockeys geht langsam die Puste aus, sie haben nichts mehr in petto und wiederholen die Stücke der ersten Stunde, Bay City Rollers, Slade, Rubettes, Dingsbums, Dingbums. Macht nichts, die Stimmung könnte besser nicht sein, jeder mit jedem, wenn’s läuft, dann läuft’s. Heiko tanzt echt gut, wie schwärmende Bienen klumpen sich die Mädchen um ihn herum, aber sie haben natürlich keine Chance, gegen Susanne Bohne hat keine eine Chance. Sie kann Jungs innerhalb von Sekunden verrückt machen. Wie macht die das bloß, nur an den Glocken allein liegt es nicht. Egal, alle sind, mit allen verklebt, auf der Tanzfläche.
Ich bin, als wäre ich nicht. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit lauter bösen, kleinen Stofftieren verstopft, meine Hände werden feucht vor Verzweiflung und einer lähmenden, bleischweren Angst. Längst habe ich den Punkt überschrit­ten, an dem es mir möglich gewesen wäre, mitzukaspern und Spaß wenigstens vorzutäuschen. Warum fordert mich eigentlich niemand auf, wenigstens aus Mitleid, wir sind doch eine christliche Gemeinschaft! Wenigstens Gundula, aus Dankbarkeit für das Veilchen, haha. Schöne Christen sind das, goanix sind die. Warum kann denn niemand mein verdammtes Herz anrühren und es zum Schlagen bringen?
Wo ist Karin eigentlich? Wahrscheinlich längst im Zelt. Schade, wir könnten ein schönes Zwergentänzchen aufführen, dann wären wir die Kings. Meine Füße sind kalt und taub und schwer, ich bin an meinem Stuhl festgewachsen, mehr Pattex geht nicht, ach Gott, ach Gott. Ich schaue auf die Uhr, halb Elf, um Elf hat der Spuk ein Ende, dann kehren Pastor Schmidt und die Erwachsenen zurück. Sweet: »Blockbuster«! In »Blockbuster« gibt es eine Explosion, keine Ahnung, wie die das gemacht haben, Explosion, geil, egal, für mich war’s das jetzt endgültig. Ich brauche bestimmt eine volle Minute, um mich zu erheben, zum Glück hat das keiner gesehen. Unauffällig schleiche ich an der Tanzfläche vorbei zum Ausgang. Doch ich habe die Rechnung ohne Harald gemacht. In letz­ter Sekunde sieht er mich, stürmt mit hochrotem Backpfeifengesicht und wild mit den Armen rudernd auf mich zu und brüllt mir voll ins Gesicht: »SAG MAL, KANN ES SEIN, DASS DU DIR JETZT MAL SO RICHTIG SELBER IN DEN ARSCH REINKACKST?« Er schreit so laut, dass es alle mit­kriegen, mitkriegen müssen, trotz der lauten Musik. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Jetzt, davon bin ich überzeugt, wissen alle Bescheid: Ich habe den ganzen Abend nichts anderes im Sinn gehabt, als mich endlich aufs Klo zu verziehen und mir selber in den Arsch reinzukacken. Ich renne aus der verfickten Behelfsdisco, wanke über den Zeltplatz und verkrieche mich zitternd wie ein sterbender Hund im Zelt. Wie soll ich mich jemals im Leben davon erholen?

Selbst zum Lesen bin ich zu schwach, nur Rauchen geht noch, eine nach der anderen. Mit jedem Ein- und Ausatmen kommt ein Pfeifen aus meiner Lunge, das ist bestimmt kein gutes Zeichen. Viertel nach Elf kommen die Mongos zurück. Selbst die sind in ausgelassener Stimmung.
Schwanzandreas brüllt: »Und dann hat die voll doiiinngg, ey, ich dachte, ich glaub’s nicht, das gibt’s doch nicht.«
Für sein perverses Gestammel müsste man ihn ohrfeigen, bis er einen Steifen kriegt.
Die Antwort des Namenlosen: »Ich dacht’ auch voll, ey, was ist da denn los? Echt, ­uuiiippp, dann nochmal und so, ey, hab’ ich noch nicht erlebt.«
Jetzt meldet sich sogar Detlef zu Wort: »Ey, ey, so uuuoonng, voll so rein, und dann gooooaa, voll.«
Sie lassen sich übertrieben auf ihre Betten plumpsen.
»Logisch, ooiing, ich dacht’, was ist das denn.«
»Rrroouung, das hältst du im Kopf nicht aus.«
Für mich sind das keine Menschen mehr, sondern Tiere.
»Hassu gesehen, sie so hinter mir, und dann gooiingg.«
Ich fasse es nicht. »Sie so hinter mir« kann ja nur bedeuten, dass irgendwas war. Der Namenlose! Jemand, dessen einziges Vergnügen darin besteht, Tote zu waschen und unter die Erde zu bringen, dem der Leichengeruch aus allen Poren gekrochen kommt, hat was am Laufen gehabt! Pervers. Ich bin fremd im eigenen Zelt. Wenn ich nur nach Hause gefahren wäre, damals. Jetzt ist alles noch viel schlimmer geworden.

Im Moment größter Verzweiflung steckt Tiedemann seinen Kopf durch den Zelteingang, schaut mich wortlos an und nickt mir zu. Gott sei Dank, Gott sei Dank, Gott sei Dank, sie haben mich nicht vergessen! Der liebe Gott hat seinen Sohn auf die Erde geschickt, und der heißt ab jetzt Tiedemann. »Lieber Gott, vielen Dank«, bete ich. Stoßgebet nennt man das.
Sie haben bereits eine Pulle Apfelkorn für die Jungs und eine Persicoflasche für die Mädchen geöffnet. Selbst Karin trinkt mit, allerdings verdünnt sie ihren Persico mit irgendwas, ich kann es in der Dunkelheit nicht genau sehen, wir dür­fen keine Kerzen anmachen, und leise müssen wir auch sein wegen möglicher Kontrollen. Sagenhaft, Apfelkorn schmeckt original wie Apfelsaft, kein Spruch. Tiedemann, als er sieht, wie ich die Plörre in großen Schlucken reinkippe:
»Ey, Alda, mach’ ma’ langsam, da ist voll viel Alkohol drin, das merkst du gar nicht, aber bei Apfelkorn musst du echt aufpassen, das ist kein Spaß.«
Da Tiedemann immer Recht hat, nehme ich mir vor, seinen Rat zu beherzigen. Bereits nach ungefähr zwanzig Minuten fühle ich mich ungefähr 12 000 Prozent besser. Wieso hat mir nie­mand gesagt, dass es so was Geniales wie Apfelkorn gibt? Derjenige, der mir das verschwiegen hat, ist bestimmt der Gleiche, der mir auch Bukowski vorenthalten hat. In meinem Kopf ver­mischt sich alles aufs herrlichste, außerdem weiß ich, dass ich Recht habe. Während Heiko und Roland an ihren Bräuten rumschrauben, klärt mich Tiedemann über seine Zukunftspläne auf:
»Ich weiß schon, wie das weitergeht. Meine Alden, ey, die ham Kohle ohne Ende, mein Vadda hat ’ne Baufirma, da ziehen die ganze Siedlungen mit hoch in einer Woche und so, das is’ mir aber scheißegal. Mein älterer Bruder ist vor zwei Jahren gestorben, und meine Alden woll’n, dass ich den Laden übernehm’, normal. Ich tu so, als ob, aber ich mach’ nur Abi, und dann hau’ ich ab.«
»Wie, abhauen, wohin denn?«
»USA. Ich geh’ mindestens für ein Jahr dahin und zieh’ mit den Deadheads mit.«
»Deadheads, was ist das denn?«
»Sach mal, bissu bescheuert, willssu mich ver­arschen?«
»Nee, echt nicht, Tiedemann, echt nicht.«
»Na, egal. Deadheads sind die Fans von Grateful Dead, Alda, die denen zu jedem Konzert hinterherreisen. Das ist das Geilste überhaupt. Und da fahr’ ich mit, mal sehen, was sich so ergibt.«
»Aha.«
»Ja.«
Karin trinkt einen großen Schluck und scheint sich halbwegs wohl in ihrer Haut zu fühlen, vielleicht das erste Mal in ihrem Leben. Sie reißt sich kleine Hautfetzen von der Hand­innen­fläche herunter und zerkaut sie, weil sie denkt, dass keiner guckt. Von wegen, ich sehe alles. Ich mag ihre rissigen Hände und ihre zerbissenen Nägel. Sie ist die jüngste von drei Schwestern, ihre Eltern sind fanatische Christen, ganz unan­genehme Leute:
Christ sein heißt schuldig sein.Jeder Christ muss sich bewusst sein, dass er Jesus persönlich ans Kreuz genagelt hat.Man kann als Mensch nicht existieren, ohne sich jeden Tag aufs Neue schuldig zu machen.Leben heißt sündigen.Ganz am Ende steht man vor Gottes Thron, und dann gibt’s Saures.
Usw.
Mich wundert, dass sie Karin überhaupt haben mitfahren lassen, wo doch Freizeiten als Hort der Sünde gelten, das hat sich sicher auch bis zu denen rumgesprochen. Aber wahrschein­lich finden sie ihre Tochter so hässlich, dass sie sich nicht vorstellen können, wie jemand freiwillig an ihr rumschrauben möchte. Arme Karin. Aber heute ist es schön, heute gibt’s Persico und ein lustiges Äffche, das die Zeltgemeinschaft unterhält. Befeuert durch einen halben Liter Apfelkorn, bin ich derart außer Rand und Band, dass ich zucke und rassele und schnattere wie eine schöne deutsche Maschinenpistole im Zwei­ten Weltkrieg. Ganz ungewöhnliche Geräusche kommen aus mir heraus:
HRRREE, GOOOÄÄÄ, HEHRHEHRHEHR, ZSSSSHCK­A­AO, so was in der Art.
»Ey, guck mal, was mit Thorsten los ist, was ist denn mit dem auf einmal los?«
»Keine Ahnung, der dreht voll auf.«
»Ey, Todde, was los mit dir?«
Ich: ­»GRIERRRRBOOOOONNNGGGGUUUURRGTRÖ­ÖÖÖT.«
»Ich brech’ zusammen. Was heißt das denn auf Deutsch?«
Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Das hätte mir keiner zugetraut. Ich benehme mich wie ein Irrer, ich weiß selber nicht, was genau ich da eigentlich mache. Sämtliche angestaute Wut und Trauer und Enttäuschung und schlechtes Wachstum brechen sich Bahn, befeuert durch den Dämon Apfelkorn. Bei Schwermut Wermut.
Mir kommt eine Idee: Ich habe neulich im Fernsehen Ausschnitte aus einem amerikanischen Gottesdienst gesehen, wo der schwarze Pastor im Verlauf seiner Predigt völlig außer Rand und Band geriet und seine Gemeinde in re­ligiöse Ekstase quatschte. Das ist es!
GRRÖÖÖTTZZZZUUUUMMMMDIIII.
»Haha, Todde, hör mal auf, ich kann nicht mehr!«
Aufhören? Jetzt geht’s erst richtig los!
»Hört ma’ alle zu«, rufe ich.
Da ich einen Lauf habe und überirdische Kräf­te entwickle, lauschen mir alle gebannt:
»Brüder, ihr wisst, dass ich bald dieses irdische Leben verlassen muss, aber ich weiß, das nächste wird ein besseres sein. Lobet den Herrn.«
Ich lasse eine Pause. Dann sagt Tiedemann leise: »Jo.«
»Ich habe es verdient zu sterben, denn ich ha­be sehr viel Böses getan. Auch ihr, jeder Einzelne von euch, hat seine Strafe verdient. Lobet den Herrn.«
Jetzt machen auch Heiko und Roland mit: »Jo.«
»Ich werde mich nicht beklagen, und auch ihr sollt euch nicht beklagen, denn ihr könnt genauso gerettet werden, wie ich gerettet wurde vom allmächtigen Gott, der erst hier zu mir gekommen ist. Aber es ist auch für euch nie zu spät. Lobet den Allmächtigen.«
»Jo.«
»Ihr seid schwach.«
»Jo.«
»Ihr seid klein.«
»Jo.«
»Wollt ihr Buße tun und den Herrn loben für seine Liebe und seine Güte?«
Jetzt steigen auch die Weiber mit ein:
»Jo.«
Ich bin der Chef, und alles tanzt nach meiner Pfeife!
»Ich möchte euch heute eine Geschichte erzählen, und ich will sie vor Gott, dem Herrn, und seinem Sohn Jesus Christus erzählen.«
Alle begeistert: »Jo.«
Sollte ich vielleicht Theologie studieren? Weiter geht’s:
»Ihr sollt euch dafür bedanken, dass ihr hier im Gefängnis seid, ihr sollt euch bei Pastor Schmidt bedanken, bei Peter Edam und Wolfgang Steiß und bei Frau Thieß, dass ihr zu essen und zu trinken bekommt, denn ihr habt es genauso wenig verdient wie ich. Aber der Herr hat mich gerettet, und so will ich meine armselige Existenz dazu nutzen, den Allmächtigen zu preisen und von seiner Liebe zu berichten. Wollt ihr jetzt eine Geschichte hören?«
»Jo.«
»Soll ich sie euch in allen Einzelheiten erzählen?«
»Jo.« (noch lauter)
Sagenhaft. Wir haben jede Vorsicht aufgegeben, denn die Vorstellung ist zu geil, als dass sie unterbrochen werden dürfte. Keiner darf das, noch nicht mal der Pastor.
»Es war vor vielen Jahren, ich streifte wie fast jede Nacht durch schmutzige kleine Bars, in denen schmutzige und böse Menschen waren. Ich hatte Alkohol getrunken und Drogen ge­nom­men. Ich ging von einer Bar zur nächsten, bis ich diesen jungen Mann traf. Er war fremd in der Stadt und sprach mich an, weil er eine Schlaf­gelegenheit suchte. Sofort schmiedete ich einen furchtbaren Plan. Ich nahm ihn mit nach Hause und gab ihm Alkohol und Drogen. Ich gab ihm viel zu viel Alkohol und Drogen. Er war das nicht gewohnt und musste sich schließlich übergeben. Ich wollte ihn bestrafen. Also schlug ich ihm mit der Faust ins Gesicht. Mit dem ersten Schlag brach ich ihm die Nase.«
»Jo.«
Karin sagt nichts mehr. Sie gnabbelt an ihrer Hand und guckt komisch. Das liegt daran, dass sie viel zu wenig getrunken hat. Immer nur verdünnen bringt am Ende eben nichts. Egal, wei­ter im Text:
»Dann schlug ich erneut zu und zertrümmerte ihm dabei seinen Unterkiefer.«
»Jo.«
Die Geschichte wird immer irrer. Ein Wahnsinn, was rede ich da eigentlich, wie komme ich auf so etwas? Und wieso unterbricht mich keiner? Ich überschreite alle Grenzen:
»Ich habe den jungen Kerl gefesselt und mir erst einmal was zu essen gemacht. Während des Essens habe ich ihn getreten. Dann habe ich ein schönes, großes Küchenmesser genommen. Könnt ihr euch denken, was ich mit dem schönen, großen Küchenmesser gemacht habe?«
Mein Gesicht fängt Feuer, ich brenne.
»Jo.«
»Ich habe den Jungen zerlegt, wie man ein schönes, fettes Rind zerlegt.«
Tiedemann: »Herr, vergib ihm!«
Ina und Petra steigen auch aus. Ich kann an Inas Gesicht ablesen, dass sie ernsthaft glaubt, die schwarze Predigt könne noch heute Nacht zur schrecklichen Wirklichkeit werden.
»Dann bin ich schlafen gegangen, als ob nichts gewesen wäre. Am nächsten Morgen habe ich das, was von ihm übrig war, in Müllsäcke gefüllt und auf einer Halde abgeladen.«
»Jo.«
»Weil ich diese grauenhaften Verbrechen begangen habe, werde ich bald sterben. Und das ist nur gerecht. Lobet den Herrn.«
»Lobet den Herrn.«
»Ich sterbe in Frieden, denn der Herr hat mich gerettet. Lobet den Herrn.«
»Und nächstes Mal erzähle ich euch die Geschichte von dem jungen Mann, den ich mittags auf dem Bahnhof angesprochen habe. Lobet den Herrn. Halleluja.«
»Halleluja.«
Pause.
Ich bin total fertig. Erschöpft sinke ich in mich zusammen und bin schlagartig besoffen. Das wird so schnell keiner vergessen. Ich greife nach der Apfelkornflasche und stoße dabei die Untertasse um, die als Behelfsaschenbecher dient und randvoll ist mit Kippen. Peinlich. Als ich die Flasche ansetze, ekelt’s mich. Ich kann nichts mehr trinken, keinen Schluck mehr. Hätte ich bloß auf Tiedemann gehört!
Roland und Heiko setzen ihre Schrauberei an den Ischen fort, Tiedemann steckt sich noch eine Zigarette an, und Karin trinkt ein Glas Cola. Alle tun so, als ob gerade nichts gewesen wäre! Ich löse mich schlagartig auf und verwandle mich binnen Sekunden zurück ins Äffche.
Mir ist übel. Sehr übel sogar. Schnell eine Cola, doch davon wird’s auch nicht besser, kein Stück, ich ahne schon, worauf das hinausläuft. Nein, nein, bitte nicht. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich übergeben zu müssen. Von Alkohol musste ich erst einmal kotzen (Onkel Doppelkornwolfgang), und ich habe mir damals ge­schwo­­ren, dass es das erste und letzte Mal war. Ich versuche, den Brechreiz wegzudenken. Nach einer Weile schaut mich Tiedemann prüfend an:
»Ey, was is’ denn mit dir los, du sagst ja gar nix mehr, sag jetzt nicht, dass dir schlecht ist.«
Ich sag’ gar nix, und Tiedemann redet weiter:
»Ich glaub’s jetzt nicht, und ich hab’ dir gesagt, mach langsam, weil du den Alkohol nicht schmeckst, Mann, Alda.«
Jetzt ruht wieder alle Aufmerksamkeit auf mir. Peinlich. Mir kommt es deutlich so vor, als würden sich die Mädchen vor mir ekeln. Der geile, kleine Zwerg, das hat er nun davon. Vom Tellerwäscher zum Millionär und wieder zurück, in achtzig Tagen um die Welt, eben hui, jetzt schon wieder pfui.
»Ey, guck mal, wie du aussiehst!«, sagt Tiedemann.
Wie soll ich das denn sehen? So ein Schwachsinn. Ina haut in dieselbe Kerbe: »Ey, voll grün.«
Jetzt hängen sich auch die anderen rein: »Ey, musst du zum Arzt oder so was?« – »Das hab’ ich auch noch nicht gesehen, wie er hier aussieht.« – »Scheiße, ey.«
Dann folgt Tiedemanns Todesurteil: »Besser ist, du steckst dir ’nen Finger in’n Hals, dann hast du’s hinter dir.«
Nein, nein, nein, ich will nicht brechen! Und einen Finger stecke ich mir schon gar nicht in den Hals, niemals!
»Ey, du musst anne frische Luft. Komm, ich komm mit.«
Tiedemann führt mich nach draußen. Meine Güte, ist das schon wieder kalt geworden! Meine Zähne klappern so laut, dass ich Angst habe, die Erwachsenen im Haus könnten wach werden. Tiedemann setzt mich am Zaun ab, der den Zeltplatz vom Vogelschutzgebiet trennt.
»Ey, ich weiß, dass das hart is’ jetzt, aber da musst du durch. Besser is’, wenn du das auskotzt. Pass auf, ich hol’ dich inner halben Stunde wieder rein, dann hast du’s hinter dir. Okay?«
Was soll ich sagen?
»Ja.«

Warum hat Tiedemann mir bei der Schweinekälte keine Decke oder Jacke dagelassen? Kameradenschwein! Niemals hätte ein Landser im Zweiten Weltkrieg einen Kameraden so jämmer­lich verrecken lassen.
Es ist der Heilige Abend 1942. Seit Tagen hause ich alleine in einem verschütteten Keller irgendwo im Zentrum Stalingrads. Von dem fünfstöckigen Gebäude des Hauses existiert nur noch das Erdgeschoss. Der Steckschuss im linken Oberschenkel bereitet Höllenqualen, mit jeder Stunde wird es schlimmer. Plötzlich ein polterndes Geräusch über mir. Jetzt haben sie mich! Mit lautem Krachen öffnet sich die Falltür. Doch ich blicke nicht in eine von Hass verzerrte Mongolenfratze, sondern in die stahlblauen Augen des Obergefreiten Bartels.
»Bartels, dich schickt der Himmel.«
»Oder die Hölle«, raunt der Obergefreite in seinen blaugefrorenen Bart. Er schüttet den Inhalt seines Rucksacks auf den Boden. »Bescherung«, brummt er und packt zwei zerlöcherte Decken, den Gaskocher und ein großes Stück Fleisch aus. Es braucht Stunden, bis das Fleisch auf der winzigen Flamme gar wird, aber noch nie hat mir etwas so gut geschmeckt. Wäh­rend ich gedankenverloren vor mich hin kaue, durchzuckt es mich plötzlich. Woher hat … ? Als ob der Obergefreite meine Gedanken lesen könnte, schaut er mich durchdringend an und sagt nur ein Wort: »Iss.«

Meine Eingeweide flattern, die Kotze pumpt und drückt, ich werde die aufsteigenden Schwälle nicht mehr lange zurück­hal­ten können. Bitte, bitte nicht! Vielleicht verwandelt sich die Kotze in Scheiße, wenn man nur lange genug durchhält. Das ganze Vogelschutzgebiet starrt mich an: »Guck dir mal den Idioten an, hat zu viel gesoffen, und jetzt muss er gleich kotzen, krrr, krrrr.« Scheißplärrviecher, euch stopf’ ich schon noch das Maul. »Hast du dir eigentlich schon mal in die Fresse reingekotzt?« Ich stelle mir vor, wie ich in mich selber reinkotze. Wenn man besoffen genug ist, geht das bestimmt irgendwie. Und dann kann ich’s nicht mehr länger zurückhalten.
HUUUAAAALPP.
Ich hänge meinen Kopf über den Zaun und kotze ins Vogelschutzgebiet, dabei packt mich ein unbändiger Hass auf die Viecher. »Ja, jetzt pickt euch mal schön die fettesten Brocken raus«, denke ich, und bei der Vorstellung, wie die Seemöwen die Brocken aus meiner Kotze picken, gierig verschlingen und daran krepieren, kommt’s mir gleich nochmal.
AAAAARRGGGHH.
Ich kotze und brülle, mit allerletzter Kraft ziehe ich mich am Pfosten hoch und schaue aufs Feindesland. Die Vögel sind alles Russen.
UUUAAARRRGGHH.
Ich hasse die Vögel und die Russen und Su­san­ne Bohne.
Ich würge wie ein Wahnsinniger, bis nichts mehr in mir drin ist außer Galle. Galle, Galle, Galle. Es tut höllisch weh, ich kann gleich nicht mehr. Nochmal:
AAAAAIIIIIIRRGGGGGH. AAAAAIIIIIIRR­GGGGGH. AAAAA­IIIIIIRRGGGGGH.
Meine Schreie werden höher und gleichzeitig schwächer. Die Kotze verätzt mir die Speise- und Luftröhre und alle weiteren Röhren, aus de­nen ich bestehe. Mir wird schwindelig, und ich sinke zu Boden. Wo ist Tiedemann eigentlich, der wollte mich doch schon längst geholt haben? Scheißdeadheads. Ich lege meinen Kopf ins Gras, und es erfüllt mich mit böser Genugtuung, dass ich die Kotze wenigstens zu den Viechern rüber­gebrochen habe. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Als ich wieder erwache, ist es schon fast hell. Kei­ne Ahnung, wie spät, vielleicht halb Fünf? Oder halb Sechs? Oder Fünf? Ich friere, wie ein Mensch vor mir noch nicht gefroren hat, außerdem ist mir immer noch total kotzig. Und ich habe Arschdruck. Kacken, endlich, endlich kacken! Bibbernd torkle ich zur Baracke. Peter Edam liegt in embryonaler Haltung am Fuß der Treppe. Irgendwas Gelbgrünes ist aus seinem Mundwinkel gelaufen und aufs T- Shirt getropft. Sein rechtes Bein ist total verdreht, in der Luft liegt leichter Scheißegeruch. Vielleicht hat er einen Schlaganfall erlitten? Dann geht’s um Minuten. Ich stoße ihn sanft an, er dreht seinen Kopf schräg zur Seite, öffnet die Augen und murmelt:
»Seusmikade.«
Hä? Was soll das denn sein? Der Name eines engen Angehörigen, vielleicht seiner Mutter. Aber Seusmikade?
»Thorsten, Thorsten!«
»Ja? Was ist denn?«
»Du darfst niemandem etwas sagen. Versprichst du mir das?«
»Ja. Von mir aus. Was war denn überhaupt los?«
Er schaut mich lange an. Die Augäpfel sind blutig, sein Blick verstumpft.
»Ich war in der Stadt.«
Hä, wo, was, wieso? Stadt kann ja nur Scharbeutz heißen, was wollte er denn in Scharbeutz, da ist doch nichts.
»In der Stadt, wieso das denn? Was hast du da gemacht?« (Mit Peter bin ich per Du.)
Er schaut mich flehend an.
»Thorsten, du musst mir versprechen, zu keinem ein Wort. Ich bin sonst geliefert, ich schwör’s dir.«
Wieso denn geliefert? Nur weil er einmal über die Stränge geschlagen hat? Das ist doch kein Grund. Aber vielleicht ist so was schon öfter pas­siert, und die Freizeit war seine letzte Chance, und wenn er die auch noch versemmelt, dann ist endgültig Feierabend. Ach, ich weiß es doch auch alles nicht.
»Ja, klar, ich sag’ nichts.«
»Danke.«
Er zieht sich am Geländer hoch und wankt davon.

Auf allen vieren krieche ich die Treppe rauf zu den Kabinen und hocke mich mit letzter Kraft auf die Klobrille. Bitte, bitte! Das ist wichtig jetzt, ganz wichtig. Doch ich brauche weder zu beten, noch mich zu konzentrieren oder zu drücken oder mir was in die Kimme zu schmieren oder sonst was. Nach wenigen Sekunden kommt sie, die Scheiße einer ganzen Woche, eines ganzen Jahres, eines ganzen Lebens, als hätte jemand den Pfropfen gezogen.
PPPFFFAAARRRKKKRÖÖÖÖTTTTRIIIIIR­ÄÄÄÄÄÜÜÜÜ.
Von dem bestialischen Gestank wird mir gleich wieder richtig schlecht. Oneinonein­onein­onein, was soll ich nur machen? Ohne zu spülen und mit schmutzigem Arsch knie ich mich vor die Schüssel und kotze in meine eigene Scheiße rein. Vielleicht ist das ja damit gemeint, sich selber in den Arsch zu kacken. Nach zwei Schwällen bin ich schon wieder bei Galle. Hilfe, Hilfe! Ich fühle mich, als hätte man mich vollkommen ausgeschabt, entkernt, ich bin in Selbstauflösung begriffen, gleich fliege ich wie ein welkes Blatt davon.
Endlich kommt nichts mehr. Ich warte noch eine Minute und drücke mit zitternden Händen den Spülknopf. Gott, ist das herrlich, wie das Wasser die ganze Kacke und Kotze wegspült. Ich mache die Spritzer und den ganzen Irrsinn mit Klopapier weg, dann spüle ich meinen Mund lange mit frischem, klarem Wasser und fühle, wie mich ungeheure Erleichterung und ein tierisches Glück durchströmen. Anscheinend ha­be ich es überstanden. Ich krieche in meinen Schlaf­sack, mein erbsengroßes Schrumpfherz weitet sich. Es ist ganz wichtig, seinen Tränen freien Lauf zu lassen, alles andere hilft nicht. Noch nie hat sich ein einzelner Mensch in einem Schlaf­sack so wohl gefühlt.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Heinz Strunk: Fleckenteufel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 224 Seiten, 12 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.