Die Berlinale und ihre vielen Krisen

Esst mehr Film!

Die Berlinale Nummer 59 steht ganz im Zeichen verschiedener Krisen. Im Nahen Osten. Auf den Finanzmärkten. Und in unserem Kühlschrank.

Festivalmacher mögen runde Daten: 60 Jahre Nachkriegsdeutschland, 20 Jahre Mauerfall, ein Jahr Finanzkrise – an diesen Daten soll man die diesjährigen 59. Berliner Filmfestspie­le erkennen. Zumindest der erste Punkt wird sehr ernst genommen: Insgesamt be­werben sich 98 Produktionen aus Deutschland um die Preise. 386 Filme laufen insgesamt – die Berlinale wird jedes Jahr mehr ein deutsches Filmfestival mit internationaler Beteiligung. Frü­her war’s mal umgekehrt.
Ob sich denn die Finanzkrise niederschlage, wollten am Dienstag voriger Woche die Journalisten bei der offiziellen Vorstellung des Programms in Berlin wissen, Antwort: Nö. Allenfalls gebe es ein paar Partys weniger, »statt 20 pro Tag nur 12« (Festivalleiter Dieter Kosslick). Die »wer­bende Industrie« habe allerdings doch merk­liche Rückzieher gemacht.
Im prestigeträchtigen Wettbewerb wetteifern dennoch 18 Filme um die begehrten Bärentrophäen, die dieses Jahr von einer Jury-Präsidentin Tilda Swinton und ihren Mitstreitern, darunter Christoph Schlingensief, vergeben werden. Die Filme kommen u.a. von François Ozon, Stephen Frears, Hans-Christian Schmid und Bertrand Ta­vernier.
Zum Inhaltlichen: Die Finanzkrise lädt zum Motzen und Klotzen ein. Wir leben falsch, ganz klar, darüber sind sich die Filmfestivalveranstalter in der ganzen Welt einig. So auch in Berlin. Eine Abwrackprämie für die Filmfestspie­le werde man aber nicht verlangen müssen, sagt Kosslick.
Da die Auswahlteams der Sparten Forum des jungen Films, Panorama, Kinderfilmfest, Perspektive Deutsches Kino und Wettbewerb die über 6 000 eingereichten Filme, über die ca. 20 interne und externe Jurys richten werden, mit gewohnt kritischem Blick gesichtet haben, kommt ihnen die Krise gerade recht. Zum Beispiel gibt es seit Jahren die eher verspielte Subsub-Kategorie »Eat, Drink, See Movies«, von der mancher vielleicht dachte: Geht’s noch? Aber siehe da, sie bringt einen äußerst wichtigen Film hervor: »Food Inc.«
Mit Verve zeigt Regisseur Robert Kenner die Ab­gründe der Nahrungsmittelindustrie auf: Einerseits liefert sie Fleisch für jedermann und nicht­rostendes Gemüse. Andererseits gibt es bis dato nie dagewesene Krankheiten, Hungerrevolten und Umweltverschmutzung ohne Grenzen.
Benzinpflanzen statt Essen, 14-Stunden-Tag für Arbeitssklaven – in »Food Inc.« würden auch endlich mal Täter und Marken benannt, das wer­de dem Publikum den Magen umdrehen, gibt sich die Berlinale gewohnt konsumkritisch beim Filmkonsum: »Das ist unvorstellbar, was die mit uns machen«, sagt Kosslick, der den Film schon gesehen hat.
Die Finanzkrise werde man irgendwann über­stehen, dann aber stehe die nächste Katastrophe schon in der Kühlschranktür: die Krise der Ernährung. Es gebe aber Hoffnung, wenn die Konsumenten nur ihre Macht richtig einsetzten.
Premiere hat dieses Stück filmische Globalisierungskritik am passenden Ort: Sie wird im Frie­drichstadtpalast, wo sonst getanzt wird, samt Podiumsdiskussion stattfinden. Zum Abschluss wird der Berliner Sternekoch Tim Raue den Zuschauern kulinarische Alternativen (Kürbis, Möhre, Ingwer mit Winterkräutern) anbieten.
Ob sich die »werbende Industrie« vielleicht gar nicht wegen der Finanzkrise, sondern wegen der antikapitalistischen Radikalität zurückgezo­gen hat? Gut, dass zu den Berlinale-Sponsoren nur »Qualitätsmarken« gehören – wie etwa Hugo Boss. Der zum Glück kein Essen verkauft, sondern seinen Aufstieg mit der Produktion von Wehr­machtsuniformen beschleunigt hat. Berliner Pilsener macht Jugendliche betrunken. Und Sponsor VW? Naja. Fährt bestimmt auch mit Spritpflanzen.
Apropos Zusammenarbeit: Ebenso ein Volltreffer wie das mit der Krise dürfte das Thema Israel/Palästina sein. Viele Filme aus dem Nahen Osten werden mit deutscher Unterstützung gedreht oder produziert. Israelische Filme sind traditionell auf der Berlinale zu sehen, dieses Jahr haben sie so prägnante Titel wie »Fucking Different in Tel Aviv«.
Desweiteren wird es in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt und dem Goethe-Institut am 11. Februar ein öffentliches »Filmfachgespräch« unter Beteiligung ortsansässiger Filmschaffender zum Kino in Palästina geben. »Ein Kino in der Diaspora, ein Kino, das viele Geschich­ten erzählt, die unbedingt erzählt werden müssen. Es geht um Filme, die formal oft innovativ sind und neugierig machen«, schreiben die Organisatoren.
Es ist leicht vorauszusehen, dass diese Veranstaltung gut besucht sein wird. Derzeit dürften die Filmemacher im Nahen Osten kaum nachkommen mit dem filmischen Erzählen: »Das Panel geht der Frage nach, wie man zur Fortsetzung einer palästinensischen audiovisuellen Kultur beitragen kann«, heißt es weiter.
Das Kino, ein Nachrichtenkanal. Jetzt fehlt nur noch, dass man die Filme online bereitstellt, damit sich die Film-Community weltweit vernetzt. Dann müsste man auch nicht in das usselige Februar-Berlin reisen. Auf diese Innovation wartet man aber noch. »Winter adé« heißt übrigens die Mauer-adé-Reihe der Berlinale. Dort klopft man Filme der achtziger Jahre darauf­hin ab, ob sie schon »filmische Vorboten der Wende« waren. Ja, waren sie, sagt Programmchef Rainer Rother.
Aus heutiger Perspektive ist das natürlich leicht gesagt. Eine Zwangsläufigkeit des Zusammenbruchs ergibt sich aus den filmischen Entwürfen der Kieslowskis und Helke Misselwitz’ namensgebendem Werk aus dem Jahr 1988 noch nicht. Und vom Ergebnis ist es noch mal was anderes: Denn die Mauer ist weg, der Winter aber kam wieder, ach Gott.
Formal innovativ waren die Vorwendefilme – und so passen sie wohl nicht nur ins Jahr, sondern auch ins gesamte Programm. Denn die Stoffe fordern die Formate heraus. In der Retrospektive hat man gleich ganz auf alles andere verzichtet – sie bietet Format in Reinkultur an: 70 Millimeter. Filme wie eine Wand. Inhalt Nebensache, aber dafür opulent. »Doppelt so breit wie der 35-mm-Standardfilm, ist er das adä­quate Format für große Leinwandepen und Kollossalfilme«, teilt das Festival mit. Das Schlag­wort lautet: »Bigger than Life«.
Der 70-mm-Film – auch eine echte Krisengeburt: Man erfand ihn Mitte der fünfzige Jahre, damit das Fernsehen, das zunehmend das Kino verdrängte, schlichtweg bei Farbe, Brillanz und Tonspur nicht mehr mitkam. 22 Filme – von »Cleopatra« bis »Lawrence von Arabien« – werden zu sehen sein.
Formatspaltereien gibt es aber auch noch wo­anders: Nach Sichtung aller Filme sagen die Berlinale-Chefs, der Spielfilm sei derzeit so dicht dran am Geschehen, dass er den Dokumentarfilm an Realitätsnähe beinahe übertreffe.
Oder war es umgekehrt? Beides ist richtig – denn Docufiction liegt im Trend. In der Sparte Panorama sind ein Drittel der Produktionen Do­kumentarfilme. Und der Rest dokumentiert spielfilmhaft genau.
Das hat alles enormen Erfolg, wie Christoph Terhechte über seine Auswahl, das Forum, sagt: Vor acht Jahren noch hätten nur zehn Prozent der Forum-Filme einen Verleih gehabt. Nun seien es 90 Prozent.
Die Filmindustrie sprießt derzeit eben überall aus dem Boden. Und zwar innen wie außen mit – Umsonstarbeit, 14-Stunden-Schicht – Auswüchsen wie bei den Benzinpflanzen.