LINDA WEIL-CURIEL im Gespräch über den Kampf gegen Genitalverstümmelung in Frankreich

»Wir dürfen nicht tolerant sein«

Linda Weil-Curiel engagiert sich seit Jahrzehnten im Kampf gegen Genitalverstümmelung. Die französische Anwältin brachte Mitte der Neunziger eine professionelle Beschneiderin hinter Gittern und besuchte sie anschließend in der Haft, um sie vom Unrecht dieser »kulturellen Tradition« zu überzeugen. ­Inzwischen hat sich viel zum Positiven gewandelt

Wann begann Ihr Engagement gegen die weibliche Genitalverstümmelung?
Das war 1982. Im Juli 1982 war in Bobigny bei Paris ein Säugling verblutet. Die kleine Bobo Traoré war zuvor auf unprofessio­nelle Weise beschnitten worden und hatte viel Blut verloren. Das Mädchen konnte auch im Krankenhaus nicht mehr gerettet werden. Die Nachricht rief in Frankreich starke Emotionen hervor. Im Oktober des­selben Jahres entnahm ich der französischen Presse, dass die Richter ratlos waren, wie ein solcher Fall strafrechtlich zu ahn­den war. Die dama­lige Ministerin für Frauenrechte, Yvette Rudy, richtete zur selben Zeit eine Arbeitsgruppe zum Thema Beschneidung ein. Sie hatte zwei Aufgaben: zum einen, Prävention und Aufklärungsarbeit gegen diese Praxis zu betreiben. Zum anderen sollte über die Frage diskutiert werden, ob ein neues, besonderes Gesetz zur Bekämpfung dieser Praxis notwendig sei.
Was war das juristische Problem? Und warum waren die französischen Gerichte zunächst relativ ratlos?
Ich vertrat die Auffassung, dass kein besonderes Gesetz vonnöten sei. Im Gegenteil, die Verabschiedung eines »Sondergesetzes« hätte das Risiko bedeutet, mit dem Zeigefinger auf eingewanderte Bevölkerungsgruppen zu zeigen. Für mich war klar: Das bestehende Straf­gesetzbuch genügt, und es ist kein Unterschied wegen der Herkunft der Tatbeteiligten zu machen. Die Genitalverstümmelung erfüllt den Tatbestand der schweren Körperverletzung, die dadurch definiert wird, dass die Körperverletzung zum Verlust eines Körperglieds führt. Zur damaligen Zeit führte der »Dictionnaire Robert« unter dem Stichwort »Verstümmelung« als Beispiel zur Illustration des Begriffs just die Klitorisbeschneidung an.
Damals half mir ein Richter am Obersten Gerichtshof sehr: Er wies mich darauf hin, dass kurz zuvor, in einer ganz anderen Affäre, die Verstümmelung der weiblichen Sexualorgane an einem Kleinkind als schwere Körperverletzung qualifiziert worden war. Es ging dabei um eine Frau aus der Bretagne, die in geistiger Umnachtung ihrem Kind einen solchen Schaden zugefügt hatte. Vor diesem Hintergrund gelang es mir, entgegen aller Widerstände etwa der Staatsanwaltschaften, die Anerkennung dieser Qualifikation als schwere Körperverletzung durchzusetzen.
Warum gab es solche Schwierigkeiten? Wie reagierte denn das Justizsystem darauf?
Von Anfang an kämpfte ich dafür, dass die Fälle von Genitalverstümmelung vor ein Geschworenengericht kommen, also als Verbrechen behandelt werden und nicht nur als ein Vergehen – welches vor einem normalen Strafgericht landet. Auf dem Spiel stand dabei die Öffentlichkeitswirksamkeit der Prozesse. Wird die Geni­talverstümmelung als Verbrechen eingestuft – indem sie als schwere Körperverletzung behandelt wird – und vor Geschworenen verhandelt, dann hat das eine starke öffentliche Signalwirkung. Vor dem normalen Strafrichter dagegen wird eine solche Angelegenheit als eine unter vielen Strafsachen zwischendurch behandelt, zwischen einem Schwarzfahrer und einem »illegalen« Einwanderer. Aber es gab am Anfang starke Widerstände gegen diese Herangehensweise.
Woher rührten diese Widerstände?
Zu Anfang der achtziger Jahre erklärte mir ein Staatsanwalt: »Sie wollen mit Kanonen auf Spatzen schießen!« Ein anderes Mal sagte mir die Staatsanwaltschaft: »Zugegeben, es hat eine Verletzung gegeben, aber sie ist ja längst verheilt.« Als ob der Verlust der Sexualorgane keine langfristigen, gravierenden Folgen hätte. Bei manchen stand dahinter eine Haltung, die ungefähr besagte: »Wir sind Weiße. Und wir haben ihre Länder kolonisiert. Damals, als Frank­reich Kolonialmacht in Afrika war, hat man keinerlei Anstrengungen unternommen, um diese Praxis der Genitalverstümmelung zu ­unterbinden. Und jetzt, wo diese Leute als Einwanderer hierher gekommen sind, soll man sie wie Kriminelle behandeln, wenn sie ihre Traditionen auch hier fortführen? Seien wir groß­zügig, akzeptieren wir ihre Traditionen.«
Nach dem Motto, so lange »die« das nur unter sich machen …
Wir setzten dagegen: Die Opfer sind ja selbst kleine schwarze Mädchen. Und eine Schwarze ist genauso viel wert, hat dieselben Rechte wie eine Weiße. Wir dürfen aus diesem Grund nicht »tolerant« sein. Die Gründerin der CAMS im Jahr 1982 und eine der ersten Aktivistinnen gegen Genitalverstümmelung war im übrigen eine afrikanische Frau, Awa Thiam. Sie hatte 1978 ein Buch unter dem provokanten Titel »La Parole aux négresses« (»Die Negerinnen haben das Wort«) verfasst. Darin ging sie auch hart mit der Stellung der Frau – dem Patriarchat, wie es in einer bestimmten Epoche oft hieß –, und mit allen Formen von Gewalt gegen Frauen ins Gericht.
Steckte hinter der anfänglichen Abwehr Ihres Kampf also eine Art schlechtes Gewissen des weißen Mannes, eine Art falsch verstandener Antikolonialismus?
Es gab noch ein anderes Motiv: Als die Frauenministerin Yvette Rudy die Ergebnisse unserer Kommission zusammenfassen wollte, da standen mehrere Punkte auf dem Programm: die Finanzierung der Initiativen, die Präventionsarbeit leisten; die Ausbildung von »interkulturellen Vermittlerinnen«, die an die afrikanischen Familien herankommen und dort Aufklärungsarbeit betreiben; und die Organisierung einer großen, verschiedene Ministerien übergreifenden Konferenz gegen Genitalverstümmelung Anfang 1984. Diese Regierungskonferenz kam dann aber nicht zustande, sie wurde in letzter Minute gestoppt. Damals hieß es von politischer Seite: Seid ihr verrückt? Präsident François Mitterrand wird in Kürze alle afrikanischen Regierungschefs aus der französischen Einflusszone zu einem gemeinsamen Gipfel Frankreichs mit diesen Staaten versammeln. Wollt ihr unsere Beziehungen zu diesen Regimes beeinträchtigen?
Also, wenn man so möchte, eher eine neokoloniale denn eine antikoloniale Motivation?
So würde ich das nicht ausdrücken. Es war eine Form von politischem Pragmatismus: In diesem Moment werdet ihr doch nicht ein so kontroverses Thema anschneiden und eine Polemik vom Zaun brechen, das ist nicht der richtige Zeitpunkt!
Wie unterschieden sich die Reaktionen auf der politischen Linken und der Rechten?
Auf der Rechten schien man sich generell weniger für dieses Thema zu interessieren oder dazu zu äußern. Es wurde dort eher unter dem Obertitel »Die Ausländer haben sich hier an unsere französischen Gesetze zu halten« behandelt. Auf der Linken gab es dagegen gegensätz­liche Grundüberzeugungen. Das reichte von »Wir sollten doch ihre Traditionen respektieren« bis hin zu Ansichten ähnlich der unseren.
Bisher sprachen wir überwiegend von der strafrechtlichen Ahndung solcher Praktiken. Aber wie steht es um die Prävention?
Beides, Strafe und Aufklärung, ist absolut ­notwendig. Schon seit 1983 arbeite ich eng mit der Ärztin Emmanuelle Piet zusammen, die damals beim medizinischen Mutter-Kind-Schutz in der nördlichen Pariser Trabantenstadtzone ihre Tätigkeit aufnahm. Das medizinische Personal nimmt seitdem systematische Unter­suchungen vor, um Fällen von Beschneidung auf die Spur zu kommen und die Eltern da­von abzuhalten. Aber glauben Sie mir, die Prozesse haben ihrerseits eine starke präventive Wirkung! Wir sprachen vorher vom Tod der kleinen Bobo Traoré im Juli 1982. Dieses Mädchen starb auch, weil sie zu spät ins Krankenhaus gebracht wurde. Am 11. Juli wurde sie – »unsachgemäß« – beschnitten, aber erst am 13. Juli mit starkem Blutverlust in eine Klinik gebracht. Bei der polizeilichen Vernehmung erklärte der Vater, er habe zunächst Angst vor Strafverfolgung gehabt, denn er wisse, dass diese Praxis in Frankreich verboten sei.
Was schlussfolgern Sie daraus?
Woher kam das Wissen um dieses Verbot bei diesem Mann, einem Lagerarbeiter im Pariser Vorort Charenton, der vielleicht nicht lesen und schreiben konnte? Bei meinen Recherchen stieß ich dann auf die Spuren einer ersten Verurteilung. In einer Doktorarbeit über Gerichtsmedizin tauchte ein Urteil gegen eine Beschneiderin auf, die den Tod eines Mädchens senegalesischer Eltern verursacht hatte. Im Dezember 1979 war sie zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden. Mir wurde dieses Urteil erst Jahre später bekannt. Aber in den afrikanischstämmigen Communities hatte es sich sofort herumgesprochen! Allerdings war die Bewährungsstrafe das falsche Signal gewesen. Ich war der Auffassung, dass vor allem in den ersten Prozessen zu diesem Thema einige Strafen ohne Bewährung verhängt werden müssten. Denn andernfalls kam bei den Leuten die Botschaft an: Es ist in Frankreich zwar verboten, aber so schlimm ist es auch wieder nicht, irgendwie akzeptiert man unsere Tradition. Man darf die Leute nicht für dumm halten oder wie Kinder behandeln. Sie verfolgen die Entwicklung, sind oft auf dem Laufenden und basteln sich ihre Strategien.
Trotz der Strafen wird die Beschneidungspraxis in manchen Familien fortgesetzt.
Nach einer öffentlichen Diskussion kamen einmal zwei junge Männer auf mich zu und erklärten mir, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen: »Wir hören, was Sie sagen. Aber se­hen Sie mal: Eine Frau zu befriedigen, ist schon schwer. Wenn man aber zwei hat, ist es unmöglich, wenn die Frauen nicht durch die Beschneidung ruhiggestellt werden.« Diese Einstellung hängt mit der Gesellschaftsstruktur der Herkunftsländer zusammenm, es handelt sich um Gesellschaften, wo den Männern die Polygamie erlaubt ist; die agrarisch geprägt sind, wo möglichst viele Hände in der Landwirtschaft mithelfen müssen und wo gleichzeitig – historisch jedenfalls – eine sehr hohe Kindersterblichkeit herrscht. Also müssen möglichst viele Kinder gezeugt werden, und das ist die Aufgabe der Frauen. Diese dürfen nicht mit einem eigenen Triebleben diese Funktionsweise stören, sonst weiß der Mann am Ende nicht mehr, ob es die eigenen Kinder sind, die er ernährt.
Aber warum machen die Frauen denn dabei mit?
Wie so oft, wenn sie zum Nachteil des eigenen Geschlechts handeln: Sie versprechen sich Schutz, wenn sie sich in ihre Rolle einfügen und sich so verhalten, wie man es von ihnen ­erwartet.
Können Prävention und Aufklärung gegen diese Tradition etwas bewirken?
Ja, in den afrikanischen Ländern funktioniert das sogar noch besser als hierzulande. Denn hier klammern sich einige Einwanderer besonders stark an ihre »Traditionen«, weil sie Angst haben, sonst – im »Exil« – ihre Kultur aufzugeben und etwas zu verraten. Aber wenn man in der Bekämpfung der Beschneidungspraxis nachlässt, dann verrät man ­gerade auch die zahlreichen afrikanischen Aktivistinnen, die sich unermüdlich und mutig ­gegen die Fortführung dieser Praxis einsetzen, die in die Familien gehen und dort diskutieren. Die Praxis ist in Frankreich rückläufig, wir hatten in den vergangenen Jahren auch keine Todesfälle mehr zu verzeichnen. Allerdings wurde jüngst – Mitte Januar dieses Jahres – aus der französischen Provinzstadt Nevers ein »Beschneidungsversuch« an der Tochter eines aus Guinea stammenden Ehepaars gemeldet. Von wegen »Versuch«, es handelt sich um eine vorgenommene Beschneidung, das Kind musste mit Blutverlust ins Krankenhaus eingeliefert werden – eine strafrechtliche Ermittlung dazu läuft.
Dass die Prävention erfolgreich ist, haben auch die Prozesse selbst gezeigt. Nehmen wir den Fall von Hawa Gréou, die 1999 zu acht Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie in zahlreichen Fällen Beschneidungen vorgenommen hatte. Hawa Gréou war von ihrem Ehemann, der sie mit 15 Jahren in einer arrangierten Ehe geheiratet hatte und damals schon im Raum Paris arbeitete, nach Frankreich geholt worden. Später brachte er noch eine andere Ehefrau nach Frankreich, mit der er acht Kinder hatte. Ihre Töchter waren aber alle nicht beschnitten, wie die Untersuchung ergab. Wahrscheinlich hatte diese Frau selbst so entschieden, und ihr Mann mischte sich nicht in diese »weibliche Angelegenheit« – die normalerweise unter Frauen geregelt wird – ein. In der Familie von Hawa Gréou ist diese Praxis stark zurückgegangen. Möglicherweise auch, weil eine Nichte von ihr schon zu einem früheren Zeitpunkt als Beschneiderin verurteilt worden war.
Sie haben an der Verurteilung von Hawa Gréou als Nebenklägerin mitgewirkt und sie später im Gefängnis besucht, um sie davon zu überzeugen, dass die Beschneidung eine Körperverletzung darstellt. Diese Gespräche waren dann Grundlage eines gemeinsamen Buches. Glauben Sie, dass Gréou tatsächlich ein Unrechtsbewusstsein entwickelt hat?
Ich habe mir dieselbe Frage gestellt, als sie aus dem Gefängnis kam, und mein Eindruck ist: Ja, sie denkt heute anders über die Beschnei­dung. Hawa Gréou wollte ja nicht unbedingt Beschneiderin werden. Sie wurde in eine Kaste hineingeboren, jene der Schmiede, deren weibliche Angehörige in der traditionellen Gesellschaft in Mali für die Beschneidungen zuständig sind, aber auch noch andere Funktionen wahrnehmen. Das Wissen wurde von ihrer Großmutter an sie weitergegeben. Anfänglich hat sie diese Tätigkeit nur mit Widerwillen verrichtet. Zudem ist Hawa Gréou zum Opfer einer arrangierten Heirat, einer Zwangsehe, geworden. Ihr Mann und ihre in Frankreich lebende Familie misshandeln sie heute, da sie »nichts mehr wert« sei: Früher trug sie reichlich Geld nach Hause, damit ist es nun vorbei, sie kostet aus deren Sicht nur noch. Der Mann möchte sie nach Mali zurückschicken. Aber sie sagte zu mir: »Lass mich nicht nach Afrika gehen. Dort muss ich wieder Beschneidungen vornehmen.«
Das Problem geht also nicht nur von den ­Beschneiderinnen aus?
Es werden ja auch gesellschaftliche Erwartungen an diese Frauen herangetragen. Deshalb war ich auch immer dafür, Strafverfolgungen nicht nur gegen die Beschneiderinnen einzuleiten, sondern auch gegen die Eltern, die sie beauftragen. Die Beschneiderin kommt nicht zu ihnen, um ihnen die Babys aus dem Arm zu reißen. Strafverfolgung und Aufklärungsarbeit müssen also in den Familien ansetzen.
Ihre Präventionstätigkeit setzen Sie also auch in Zukunft fort?
Absolut. Gegenwärtig organisieren wir eine öffentliche Veranstaltung im Pariser Kulturkaufhaus Fnac gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Dort tritt auch der afrikanische Sänger Bafing Kul auf. Nicht nur mit seiner Musik und seiner Band – er bringt auch einen Film mit, den er in Malis Hauptstadt Bamako zur Aufklärung über die Genitalverstümmelung gedreht hat. Und der Mediziner Dr. Pierre Foldès berichtet über die operativen Möglichkeiten, die Folgen einer Beschneidung rückgängig zu machen und die Sexualfunktionen wieder herzustellen. Für viele betroffene Frauen eröffnet die Arbeit von Dr. Foldès eine ganz neue Perspektive.

Linda Weil-Curiel, Anwältin in Paris seit 1973, ist eine der Leiterinnen der 1982 gegründeten Commission pour l’abolition des mutilations sexuelles (kurz: CAMS, Kommission für die Abschaffung der sexuellen Verstümmelungen). Weil-Curiel hat ein Buch zusammen mit der 1999 wegen Beschneidung verurteilten Hawa Gréou verfasst. Es erschien 2007 unter dem Titel »L’exciseuse« (Die Beschneiderin) bei City Editions.