Kanonen statt Butter

Eine Erzählung

I.
»Man nimmt nämlich ein Hühnchen zum Braten, zerkleinert es und bräunt es mit zerlassener Butter und Olivenöl in einer heißen Pfanne«, sag­te der Gefreite Donnini. »In einer bereits genügend erhitzten Bratpfanne«, fügte er gedan­kenschwer hinzu.
»Augenblick mal«, sagte der Gefreite Coleman, der wie wild in ein kleines Notizbuch schrieb. »Wie groß ist das Huhn?«
»Etwa vier Pfund.«
»Für wie viele Personen?« fragte der Gefreite Kniptash scharf.
»Genug für vier«, sagte Donnini.
»Vergiss nicht, dass ein Huhn aus ziemlich viel Knochen besteht«, sagte Kniptash argwöhnisch.
Donnini war Gourmet; oftmals war ihm die Redensart »Perlen vor die Säue« eingefallen, während er Kniptash beschrieb, wie man dies oder jenes Gericht zubereitete. Kniptash waren Geschmack oder Aroma egal –, für ihn zählte nur die schiere Nahrhaftigkeit, die flächendeckende Kalorienbombe. Indem er in seinem Notizbuch Rezepte aufzeichnete, war Kniptash geneigt, die Portionen als knauserig zu betrachten und alle betreffenden Mengenangaben zu verdoppeln.
»Von mir aus kannst du alles selbst fressen«, sagte Donnini gelassen.
»Okay, okay, also was macht man als nächstes?« sagte Coleman, den Bleistift bereit.
»Man bräunt es etwa fünf Minuten lang von jeder Seite an, gibt Sellerie, Zwiebeln und Karotten hinzu, alles fein gehackt, und würzt nach Belieben.« Donnini schürzte die Lippen, als koste er. »Dann, während es schmort, eine Mischung aus Sherry und Tomatenmark hinzufügen. Deckel drauf. Etwa dreißig Minuten lang köcheln lassen und –« Er hielt inne. Coleman und Kniptash schrieben nicht mehr mit, hatten sich gegen die Mauer zurückgelehnt, die Augen geschlossen – und lauschten.
»Das ist gut«, sagte Kniptash träumerisch, »aber wisst ihr, was ich als allererstes kriege, wenn ich wieder in den Staaten bin?«
Donnini ächzte innerlich. Er wusste es. Er hat­te es hundertmal gehört. Kniptash war sicher, dass es kein Gericht auf der Welt gab, welches seinen Hunger stillen konnte, deshalb hatte er eins erfunden, ein kulinarisches Monster.
»Zuerst«, sagte Kniptash heftig, »werde ich mir ein Dutzend Pfannkuchen bestellen. ›Genau das habe ich gesagt, Fräulein‹«, wandte er sich nun an eine imaginäre Kellnerin, »›zwölf!‹ Die müssen sie dann mit Spiegeleiern dazwischen aufstapeln. Wisst ihr, was ich dann machen werde?« »Honig drübergießen!« sagte Coleman. Er teilte Kniptashs viehischen Appetit.
»Aber jede Wette!« sagte Kniptash mit leuchten­den Augen.
»Phooey«, sagte Stabsunteroffizier Kleinhans, ihr kahler deutscher Bewacher, lustlos. Donnini schätzte, dass der alte Mann etwa fünfundsechzig Jahre alt war. Kleinhans neigte dazu, geistesabwesend, gedankenverloren zu sein. In der Wüste Nazideutschlands war er eine Oase des Mitgefühls und der Inkompetenz. Er sagte, er ha­be sein passables Englisch vier Jahre lang als Kellner in Liverpool gelernt. Mehr wollte er nicht über seine Erfahrungen in England sagen, stellte lediglich die Überlegung an, die Briten nähmen weit mehr Nahrung zu sich, als ihrer Rasse zuträglich sei.
Kleinhans zwirbelte seinen Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart und stand mit Hilfe seiner antiken, einen Meter achtzig langen Flinte auf. »Ihr sprecht zu viel über Essen. Deshalb werden die Amerikaner den Krieg verlieren –, ihr seid alle verweichlicht.« Er sah Kniptash gezielt an, der immer noch bis zu den Nasenlöchern in eingebildeten Pfannkuchen, Eiern und Honig schwelg­te. »Na los, zurück an die Arbeit.« Es war ein Vorschlag.
Die drei amerikanischen Soldaten blieben innerhalb des unüberdachten Gehäuses eines Gebäudes inmitten zerschmetterten Mauerwerks und Bauholzes in Dresden, Deutschland, sitzen. Es war Anfang März 1945. Kniptash, Donnini und Coleman waren Kriegsgefangene. Stabsunteroffizier Kleinhans war ihr Bewacher. Er sollte sie dazu anhalten, die Milliarde Tonnen von Schutt zu ordentlichen Steinpyramiden aufzuhäufen, Stein auf Stein, um dem nicht existierenden Verkehr Platz zu machen. Eigentlich wurden die drei Amerikaner für kleinere Verstöße gegen die Lagerdisziplin bestraft, aber ihr Geschick war, wenn sie jeden Morgen unter den traurigen blauen Augen des desinteressierten Kleinhans zur Arbeit auf den Straßen ausrückten, weder besser noch schlechter als das ihrer Kameraden hinter Stacheldraht, die größeres Wohlverhalten an den Tag gelegt hatten. Kleinhans verlangte nur, dass sie beschäftigt wirkten, wenn Offiziere vorbeikamen.
Nahrung war das einzige, was die Kriegs­­ge­fan­­genen auf ihrer schmalen Existenzebene begeistern konnte. Patton war hundert Meilen ent­fernt. Wenn man Kniptash, Donnini und Coleman über die herannahende Dritte Armee reden hörte, konnte man meinen, ihre Angriffsspitze bestünde nicht aus Infanterie und Panzern, sondern aus einer Phalanx von Küchenbullen und Gulaschkanonen.
»Los, los«, sagte Stabsunteroffizier Kleinhans wieder. Er bürstete sich Mörtelstaub von der schlechtsitzenden Uniform, dem dünnen, billigen Grau des Volkssturms, der mitleiderregenden Armee alter Männer. Er sah auf die Uhr. Ihre Stunde zum Essenfassen, die aus dreißig Minuten ohne Essen bestanden hatte, war vorbei.
Donnini blätterte eine weitere Minute lang sehnsüchtig in seinem Notizbuch, bevor er es in die Brusttasche zurücksteckte und mühsam auf die Beine kam.
Der Notizbuchfimmel hatte angefangen, als Donnini Coleman sagte, wie man Pizza bäckt. Coleman hatte sich das in einem von mehreren Notizbüchern aufgeschrieben, die er sich in einem ausgebombten Papierwarenladen besorgt hatte. Dies Erlebnis befriedigte ihn so sehr, dass alle bald davon besessen waren, ihre Notizbücher mit Rezepten zu füllen. Dadurch, dass sie die Symbole für Nahrung schriftlich nie­derlegten, fühlten sie sich irgendwie viel näher an der wahren Sache dran.
Jeder hatte sein Büchlein in Abteilungen gegliedert. Kniptash hatte zum Beispiel vier Hauptabteilungen: »Nachtisch, den ich probieren werde«, »Wie man Fleisch gut hinkriegt«, »Kleinigkeiten« und »Diess & Dass«.
Coleman schrieb weiter missmutig Druckbuch­staben in sein Notizbuch. »Wie viel Sherry?«
»Trockenen Sherry –, er muss trocken sein«, sagte Donnini. »Etwa eine Dreivierteltasse.« Er sah, dass Kniptash in seinem Notizbuch etwas ausradierte. »Was ist los? Änderst du es in eine Gallone Sherry um?«
»Nein. Daran habe ich gar nicht gearbeitet. Ich habe etwas anderes geändert. Ich habe meine Meinung geändert, was ich zuerst haben will.«
»Was?« fragte Coleman fasziniert.
Donnini zuckte zusammen. Kleinhans ebenfalls. Die Notizbücher hatten den spirituellen Kon­flikt zwischen Donnini und Kniptash verstärkt, hatten ihn in Schwarz und Weiß definiert. Die Rezepte, die Kniptash beisteuerte, waren üppig, prächtig, sie verdankten sich dem Augenblick. Donninis waren kompromisslos authentisch, künstlerisch. Coleman war dazwischen gefangen. Es war Gourmet gegen Gourmand, Feinschmecker gegen Vielfraß, Künstler gegen Materialist, die Schönheit gegen das Biest. Donnini war für einen Verbündeten dankbar, selbst für Stabsunteroffizier Kleinhans.
»Noch nichts sagen«, sagte Coleman blätternd. »Erst wenn ich die erste Seite gesehen habe.« Der wichtigste Teil jedes Notizbuchs war, bei wei­tem, die erste Seite. Man hatte sich darauf geeinigt, sie dem Gericht zu widmen, auf welches sich jeder am meisten freute. Auf seiner ersten Seite hatte Donnini liebevoll die Formel für Anitra al Cognac niedergeschrieben –, Ente in Cognac. Kniptash hatte den Ehrenplatz seinem Pfannkuchen-Horror vorbehalten. Coleman hatte sich schwankend für Schinken mit kandierten Süßkartoffeln entschieden, war aber umgestimmt worden. Innerlich zerrissen, hatte er so­wohl Kniptashs als auch Donninis Wahl auf seine erste Seite geschrieben und eine endgültige Entscheidung einstweilen zurückgestellt. Jetzt quälte Kniptash ihn mit einer Modifizierung sei­ner Greueltat. Donnini seufzte. Coleman war schwach. Vielleicht würde Kniptashs neue Verfeinerung ihn betören, und die Anitra al Cognac würde seiner vollends verlustig gehen.
»Der Honig kommt raus«, sagte Kniptash fest. »Ich wusste sowieso nicht so recht. Jetzt weiß ich, dass er völlig falsch ist. Honig passt nicht zu Eiern passt er nämlich nicht.«
Coleman radierte. »Ja, und nun?« sagte er erwartungsvoll.
»Heißer Sirup obendrauf«, sagte Kniptash. »Einen großen Klecks heißen Sirup –, einfach drauf und langsam runterlaufen lassen.«
»Mmmmmmmmmmm«, sagte Coleman.
»Essen, Essen, Essen«, maulte Stabsunteroffizier Kleinhans. »Jeden Tag, jeden Tag, alles, was ich höre, ist Essen. Steht auf. An die Arbeit! Ihr mit euern verdammten blöden Notizbüchern. Noch dazu geplündert. Dafür kann ich euch erschießen.« Er schloss die Augen und seufzte. »Essen«, sagte er, milder gestimmt. »Was hat es für einen Sinn, darüber zu reden, darüber zu schreiben? Redet über Mädchen. Redet über Mu­sik. Redet über Schnaps.« Mit ausgebreiteten Armen rief er den Himmel zum Zeugen an. »Was für Soldaten sind das, die den ganzen Tag mit dem Austauschen von Rezepten zu­bringen?«
»Sie haben doch auch Hunger, stimmt’s?« sagte Kniptash. »Was haben Sie gegen Essen?«
»Ich kriege völlig ausreichend zu essen«, sagte Kleinhans leichthin.
»Sechs Scheiben Schwarzbrot und drei Napf Suppe pro Tag –, das soll ausreichend sein?« sagte Coleman.
»Das ist viel«, behauptete Kleinhans. »Es geht mir besser. Vor dem Krieg hatte ich Übergewicht. Jetzt bin ich wieder so flott wie als junger Mann. Vor dem Krieg hatten alle Übergewicht. Die Leute lebten, um zu essen, anstatt zu essen, um zu leben.« Er lächelte matt. »Deutschland war nie gesünder.«
»Ja, aber haben Sie keinen Hunger?« ließ Knip­tash nicht locker.
»Essen ist nicht das einzige in meinem Leben, nicht das Wichtigste«, sagte Kleinhans. »Los jetzt, aufstehen!«
Kniptash und Coleman erhoben sich widerstrebend. »Sie haben Mörtel oder so was in der Mündung Ihres Gewehrlaufs, Väterchen«, sagte Coleman. Sie schlurften langsam zurück auf die mit Schutt übersäte Straße, wobei Kleinhans die Nachhut übernahm, mit einem Streichholz Mörtel aus der Mündung seines Flintenlaufs polk­te und gleichzeitig die Notizbücher brandmarkte.
Donnini suchte sich unter Millionen einen klei­nen Stein aus, trug ihn zum Fahrbahnrand und legte ihn Kleinhans zu Füßen. Er hielt kurz inne, die Hände in die Hüften gestemmt. »Heiß«, sagte er.
»Gerade richtig zum Arbeiten«, sagte Kleinhans. Er setzte sich auf den Kantstein. »Was waren Sie im Zivilleben? Koch?« sagte er nach langem Schweigen.
»Ich habe meinem Vater in seinem italienischen Restaurant in New York geholfen.«
»Ich hatte mal eins in Breslau«, sagte Kleinhans. »Das ist lange her.« Er seufzte. »Kommt einem jetzt idiotisch vor, wie viel Zeit und Energie die Deutschen darauf verwandt haben, sich mit fettem Essen vollzustopfen. Was für eine idiotische Verschwendung.« Er sah an Donnini vorbei, und sein Blick verfinsterte sich. Er drohte Coleman und Kniptash mit dem Finger. Sie standen mitten auf der Straße, jeder in der einen Hand einen Stein von der Größe eines Baseballs, ein Notizbuch in der anderen.
»Meiner Ansicht nach war das mit saurer Sah­ne«, sagte Coleman gerade.
»Packt diese Bücher weg!« befahl Kleinhans. »Habt ihr denn kein Mädchen? Sprecht über euer Mädchen!«
»Natürlich habe ich ein Mädchen«, sagte Coleman gereizt. »Heißt Mary.«
»Ist das alles, was man über sie wissen muss?« sagte Kleinhans.
Coleman blickte verwirrt drein. »Mit Nachnamen Fiske –, Mary Fiske.«
»Na, und ist diese Mary Fiske hübsch? Was treibt sie so?«
Coleman verengte nachdenklich die Augen. »Ein­­mal habe ich unten auf sie gewartet und ihrer alten Dame zugesehen, wie sie Zitronenbaisers gemacht hat«, sagte er. »Sie hat ein bisschen Zucker und etwas Stärkemehl und eine Prise Salz genommen und mit ein paar Tassen Was –«
»Bitte. Lasst uns über Musik sprechen. Mögt ihr Musik? » sagte Kleinhans.
»Und was hat sie dann gemacht?« fragte Knip­tash. Er hatte seinen Stein wieder hingelegt und schrieb jetzt in sein Notizbuch. »Sie hat Eier verwendet, stimmt’s?«
»Bitte, Jungs, nicht«, ersuchte sie Kleinhans.
»Klar hat sie Eier verwendet«, sagte Coleman. »Butter ebenfalls. Jede Menge Butter und Eier.«

II.
Es geschah vier Tage später, dass Kniptash die Buntstifte in einem Keller fand –, am selben Tag, an dem Kleinhans darum gebettelt hatte, von seinem Posten als Bewacher der Strafeinheit abgezogen zu werden, welche inständige Bitte abschlägig beschieden wurde.
Als sie sich an jenem Morgen aufgemacht hatten, war Kleinhans entsetzlicher Laune gewesen und hatte seine drei Schützlinge beschimpft, weil sie nicht im Gleichschritt und außer­dem mit den Händen in den Hosentaschen marschierten. »Los, redet, redet, redet nur, redet über Essen, ihr Weiber«, hatte er sie verhöhnt. »Ich brauche mir das nicht mehr anzuhören!« Triumphierend hatte er zwei Wattebäusche aus seiner Patronentasche gezogen und sich in die Ohren gestopft. »Jetzt kann ich meinen eigenen Gedanken nachhängen. Ha!«
Um zwölf stahl sich Kniptash in den Keller eines ausgebombten Hauses und hoffte, ein Regal mit vollen Einweckgläsern zu finden, wie es sie, wusste er, im Keller daheim gab. Schmutzig und entmutigt kam er wieder hoch, zur Probe an einem grünen Buntstift nagend.
»Wie sieht’s aus?« fragte Coleman hoffnungsfroh und sah den gelben, den lila, den rosa und den orangefarbenen Buntstift in Kniptashs linker Hand an.
»Wunderbar. Welchen Geschmack möchtest du? Zitrone? Traube? Erdbeere?« Er warf die Bunt­stifte auf den Boden und spuckte den grünen hinterher. Es war wieder Mittagspause, die Stun­de zum Essenfassen, Kleinhans saß mit dem Rücken zu seinen Mündeln und starrte nachdenk­lich auf Dresdens zersplitterte Silhouette hinaus. Zwei weiße Büschel ragten aus seinen Ohren.
»Wisst ihr, was jetzt gut wäre?« sagte Donnini.
»Ein Eisbecher mit heißer Schokolade drüber, und da noch geraspelte Nüsse und Marshmallow-Stückchen drauf«, sagte Coleman prompt.
»Und Kirschen«, sagte Kniptash.
»Spiedini alla romana!« flüsterte Donnini mit geschlossenen Augen.
Kniptash und Coleman zogen blitzschnell ihre Notizbücher hervor.
Donnini küsste sich die Fingerspitzen. »Hackbällchen am Spieß, römische Art«, sagte er. »Man nehme ein Pfund Hack vom Rind, zwei Ei­er, drei Esslöffel Romano-Käse und –«
»Für wie viele Personen?« erkundigte sich Kniptash.
»Sechs normale menschliche Wesen oder eine halbe Sau.«
»Wie sieht das Zeug aus?« fragte Coleman.
»Also, es ist ziemlich viel Zeug, an einem Spieß aufgereiht. » Donnini sah, wie Kleinhans sich einen Ohrstöpsel herauszog und fast augenblicks wieder zurücksteckte. »Es ist ein bisschen schwer zu beschreiben.« Er kratzte sich am Kopf, und sein Blick fiel auf die Bunststifte. Er nahm den gelben und begann zu skizzieren. Das Projekt weckte sein Interesse, und mit den anderen Buntstiften fügte er die subtileren Schraffuren und Glanzlichter hinzu sowie, zum Schluss, als Hintergrund, ein kariertes Tischtuch. Er überreichte Coleman das Notizbuch.
»Mmmmmmmmmmm«, sagte Coleman, schüttelte den Kopf und leckte sich die Lippen.
»Junge!« sagte Kniptash bewundernd. »Die kleinen Schweinehunde springen einen ja praktisch an, stimmt’s?«
Coleman hielt ihm beflissen sein Notizbuch entgegen. Die aufgeschlagene Seite trug die freimütige Überschrift »KUCHEN«. »Könntest du einen Lady-Baltimore-Kuchen zeichnen? Weißt du, weiß, mit Kirschen obendrauf?«
Entgegenkommend versuchte und schaffte Donnini es – mit ermutigendem Erfolg. Es war ein gutaussehender Kuchen, und als zusätzlichen Schnörkel fügte er oben noch einen Schriftzug in rosa Zuckerguss hinzu: »Willkommen daheim, Gefreiter Coleman!«
»Zeichne mir einen Stapel Pfannkuchen –, zwölf von der Sorte«, bat Kniptash dringlich. »›Genau das habe ich gesagt, Fräulein –, zwölf!‹« Donnini schüttelte missbilligend den Kopf, machte sich aber an einen Rohentwurf des Konstrukts.
»Meine Zeichnung werd’ ich Kleinhans zeigen«, sagte Coleman glücklich und hielt seinen Lady-Baltimore-Kuchen auf Armeslänge.
»Jetzt den Sirup obendrauf«, sagte Kniptash, der Donnini heiß gegen den Nacken atmete.
»Ach, Mensch!« heulte Stabsunteroffizier Klein­hans, und Colemans Notizbuch flatterte wie ein verletztes Vögelein in das Gewirr von Trümmern nebenan. »Die Mittagspause ist vorbei!« Er schritt zu Donnini und Kniptash und schnappte sich die Notizbücher. Er stopfte sich die Bücher in die Brusttasche. »Jetzt zeichnen wir schö­ne Bilder! Zurück an die Arbeit, verstanden?« Mit großer Gebärde befestigte er ein Bajonett von phantastischer Länge an seiner Flinte. »Auf geht’s! Los!«
»Was ist denn in den gefahren?« sagte Kniptash.
»Ich habe ihm nur das Bild eines Kuchens gezeigt, und schon geht er in die Luft«, beschwerte sich Coleman. »Nazi«, sagte er lautlos.
Donnini ließ die Buntstifte in seine Tasche glei­ten und suchte Kleinhans’ entsetzlichem flinken Schwert zu entkommen.
»Die Artikel der Genfer Konvention besagen, dass Gefreite für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen. Arbeiten!« sagte Stabsunteroffizier Kleinhans. Er hielt sie den ganzen Nachmittag lang am Schwitzen und Grunzen. Sobald einer der drei eine Neigung zum Sprechen zeigte, bellte er einen Befehl. »Sie da! Donnini! Hier, he­ben Sie den tiefen Teller mit Spaghetti auf«, sagte er, indem er mit der Zehenspitze auf einen großen Felsbrocken deutete. Schwungvoll ging er zu zwei unförmigen Dachsparren hinüber, die auf der anderen Straßenseite lagen. »Kniptash und Coleman, meine Lieben«, säuselte er und klatschte in die Hände, »hier sind die Schokoladen-Eclairs, von denen Sie geträumt ha­ben. Für jeden eins.« Er näherte sein Gesicht dem Gesicht Colemans bis auf einen knappen Zoll. »Mit Schlagsahne«, flüsterte er.
Es war eine rechtschaffen niedergeschlagene Mannschaft, die an jenem Abend in die Einfriedung des Gefangenenlagers latschte. Vorher hatten Donnini, Kniptash und Coleman peinlich genau darauf geachtet, praktisch hinkend einzurücken, als wären sie von unerträglich harter Zwangsarbeit und nie nachlassender Disziplin geschlaucht. Kleinhans, seinerseits, war dadurch angenehm aufgefallen, dass er sie anblaffte wie ein schlechtgelaunter Hütehund, während sie zum Tor hereintaumelten. Jetzt wirkten sie wieder wie vorher, aber die Tragödie, die sie zu verkörpern suchten, war real.
Kleinhans riss die Barackentür auf und hieß sie mit gebieterischer Gebärde eintreten.
»Achtung!« schrie eine hohe Stimme aus dem Innern. Donnini, Coleman und Kniptash blieben stehen, und zwar krumm, die Hacken mehr oder weniger nah beieinander. Mit einem Knarren von Leder und einem Knallen der Hacken rammte Stabsunteroffizier Kleinhans seinen Flintenkolben auf den Fußboden, stand so gerade, wie sein alter Rücken es zuließ, und zitterte leicht. Die unangemeldete Inspektion eines deutschen Offiziers war gerade im Gange. Einmal im Monat war damit zu rechnen. Ein kleiner Oberst in Mantel mit Pelzkragen und schwarzen Stiefeln stand, die Füße weit gespreizt, vor einer Reihe Kriegsgefangener. Neben ihm war der dicke Wachfeldwebel. Alle starrten Stabsunteroffizier Kleinhans und die ihm Anvertrauten an.
»Nun«, sagte der Oberst auf deutsch, »was haben wir denn da?«
Der Feldwebel erläuterte gestenreich und eilig, wobei seine braunen Augen um Billigung flehten.
Der Oberst spazierte langsam über den Ze­ment­­fußboden, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Vor Kniptash blieb er stehen. »Ein pöser Pube kefesen, wie?«
»Jawoll, Sir, stimmt genau«, sagte Kniptash schlicht.
»Und jetzt tut es Ihnen leid?«
»Jawoll, Sir, ganz bestimmt.«
»Gut.« Der Oberst umkreiste die kleine Gruppe mehrmals, summte vor sich hin und blieb einmal stehen, um Donninis Hemdstoff zu befingern. »Ssie verstehen mich, fenn ich Enklisch spreche?«
»Jawoll, Sir, es ist sehr deutlich«, sagte Donnini.
»Nach felchem Teil von Amerika klinkt mein Agzent?« fragte er eifrig.
»Milwaukee, Sir. Ich hätte schwören können, dass Sie aus Milwaukee stammen.«
»Ich könnte als Spion in Milvaukee arbeiten«, sagte er stolz zum Feldwebel. Plötzlich fiel sein Blick auf Stabsunteroffizier Kleinhans, dessen Brustkorb sich kurz unterhalb seiner Augenhöhe befand. Seine gute Laune verflog. Er schlich zu Kleinhans hinüber, um sich direkt vor ihm aufzubauen. »Stabsunteroffizier! Die Brusttasche Ihrer Feldbluse ist nicht zugeknöpft!« sagte er auf deutsch.
Kleinhans’ Augen waren weit aufgerissen, als er nach der anstößigen Brusttasche griff. Fieberhaft versuchte er, das Oberteil zum Knopf her­unterzuziehen. Es reichte nicht, die Tasche war zu prall gefüllt.
»Sie haben etwas in Ihrer Tasche!« sagte der Oberst, und sein Gesicht rötete sich. »Daran liegt es. Raus damit!«
Kleinhans zog hastig zwei Notizbücher aus der Brusttasche und knöpfte sie zu. Er seufzte vor Erleichterung.
»Und was steht in Ihren Notizbüchern, na? Eine Liste von Gefangenen? Vielleicht Minuspunkte im persönlichen Führungszeugnis? Zeigen Sie her.« Der Oberst entriss sie den kraftlosen Fingern. Kleinhans rollte die Augen.
»Was ist das?« sagte der Oberst ungläubig, und seine Stimme wurde noch höher, Kleinhans setzte zum Sprechen an. »Ruhe, Stabsunteroffizier!« Der Oberst lüpfte die Augenbrauen und hielt das eine Notizbuch so, daß auch der Feldwebel etwas zu sehen bekam. »Fass ich zuallererst essen ferte, fenn ich nach Hause komme«, las er langsam.
Er schüttelte den Kopf. »Ach! ›Zfölf Pfannkuchen und dazfischen je ein Spiekelei!‹ Oh! ›Und mit heißem Ssirup opentrauf!‹« Er wandte sich an Kleinhans. »Ist es das, was Sie sich wünschen, Sie armer Junge?« sagte er auf deutsch. »Und dazu so ein schönes Bildchen gezeichnet. Mmmm.« Er griff nach Kleinhans’ Schultern. »Stabsunteroffiziere müssen immer an den Krieg denken. Gefreite dürfen an alles denken, was sie wollen – Mädchen, Essen, lauter so gute Sachen –, solang sie tun, was ihnen die Stabsunteroffiziere sagen.« Geschickt, als hätte er dergleichen schon oft getan, ergriff der Oberst Kleinhans’ Schulterstücke. Schlapp prallten sie an der am weitesten entfernten Barackenwand ab. »Gefreite haben es gut.«
Erneut räusperte sich Kleinhans, wollte um Sprecherlaubnis bitten.
»Schnauze, Gefreiter!« Der kleine Oberst stolzierte aus der Baracke und zerfetzte im Gehen die Notizbücher.

III.
Donnini fühlte sich mies, und ebenso mies fühlten sich, das wusste er, Kniptash und Coleman. Es war der Morgen nach Kleinhans’ Degradierung. Äußerlich ließ Kleinhans sich nichts anmerken. Er schritt so rüstig aus wie immer, und er schien immer noch fähig, aus der frischen Luft sowie den Frühlingsboten, die sich aus den Ruinen bohrten, Vergnügen zu ziehen.
Als sie in ihrer Straße ankamen, die immer noch unpassierbar war, sogar für Fahrräder, trotz drei Wochen Strafeinsatz, setzte Kleinhans zuvor. Er befahl ihnen auch nicht, beschäftigt zu tun, wie er das all die Tage getan hatte. Statt dessen führte er sie direkt zu der Ruine, in der sie ihre Mittagspausen verbracht hatten, und be­deutete ihnen, sie sollten Platz nehmen. Klein­­hans schien zu schlafen. So saßen sie schweigend dort, und an den Amerikanern nagte die Reue.
»Es tut uns leid, dass Sie unseretwegen Ihre Schulterstücke verloren haben«, sagte Donnini schließlich.
»Gefreite haben es gut«, sagte Kleinhans düster. »Zwei Kriege habe ich mitgemacht, um Stabsunteroffizier zu werden. Jetzt«, er schnipste mit den Fingern, »paff. Kochbücher sind verboten.«
»Hier«, sagte Kniptash mit bebender Stimme. »Möchten Sie was zu rauchen? Ich habe eine ungarische Zigarette. » Er hielt ihm die kostbare Zigarette hin.
Kleinhans lächelte matt. »Lassen wir sie herumgehen.« Er zündete sie an, nahm einen Zug und gab sie an Donnini weiter.
»Woher hast du eine ungarische Zigarette?« fragte Coleman.
»Von einem Ungarn«, sagte Kniptash. Er zog die Hosenbeine hoch. »Hab meine Socken dafür eingetauscht.«
Sie rauchten die Zigarette fertig und lehnten sich gegen das Mauerwerk. Immer noch hat­te Kleinhans nichts über Arbeit gesagt. Wieder schien er weit entfernt, in Gedanken verloren.
»Sprecht ihr Jungens gar nicht mehr über Ernährung?« sagte Kleinhans endlich, nach weiterem langem Schweigen.
»Seitdem Sie Ihre Schulterstücke verloren haben, nicht mehr«, sagte Kniptash ernst.
Kleinhans nickte. »Das geht schon in Ordnung. Wie gewonnen, so zerronnen.« Er leckte sich die Lippen. »Ziemlich bald wird dies aus und vor­bei sein.« Er machte es sich bequem und reckte sich. »Und wisst ihr, was ich an dem Tag machen werde, an dem endgültig Schluss ist, Jungens?« Der Gefreite Kleinhans schloss die Augen. »Ich werde drei Pfund Rinderschulter besorgen und sie mit Speckstreifen spicken. Dann werde ich sie mit Knoblauch einreiben, pfeffern und salzen und mit Weißwein und Wasser in einen Topf aus Steingut legen, sowie natürlich auch mit –«, seine Stimme wurde durchdringend, »– Zwiebeln und Lorbeerblättern und Zucker –«, er stand auf, »– und Pfefferkörnern! In zehn Tagen, Jungens, ist er dann soweit!«
»Was ist soweit?« sagte Coleman aufgeregt und griff an die Stelle, an der sein Notizbuch gewesen war.
»Der Sauerbraten!« schrie Kleinhans.
»Für wie viele Personen?« fragte Kniptash.
»Nur für zwei, mein Junge. Tut mir leid.« Kleinhans legte Donnini die Hand auf die Schul­ter. »Genug Sauerbraten für zwei hungrige Künstler –, was, Donnini?« Er blinzelte Kniptash zu. »Für Sie und Coleman werde ich etwas sehr Sättigendes anrichten. Wie wär’s mit zwölf Pfannkuchen, und dazwischen je eine Scheibe Oberst, und obendrauf kommt ein dicker Klecks heißer Sirup, was?«

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Kurt Vonnegut: Der taubenblaue Drache. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Verlag Kein und Aber, Zürich 2009. 397 Seiten, 19,90 Euro. Das Buch erscheint in Kürze.