Das Buch »Das Dorf des Deutschen« vom Boualem Sansal

Späte Revolte

Der Schriftsteller Boualem Sansal hat mit seinem brisanten Roman »Das Dorf des Deutschen« die Zusammenarbeit ehemaliger SS-Männer mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN thematisiert.

Ich glaube, ich bin als Harraga geboren, das heißt: einer, der auf der Flucht die Straße unter sich verbrennt. Sich niemals in der Gewissheit einrichten, niemals nur mit einem Auge sehen und nur mit einem Ohr hören, das ist es, was den echten Harraga kennzeichnet.« Der diese Sätze über sich schreibt, hat sein Geburtsland bislang dennoch nicht verlassen: Wir korrespondieren mit Boualem Sansal, geboren 1949, der zu einer Zeit erwachsen wurde, in der das 1962 unabhängig gewordene Algerien noch nicht den Weg der kulturellen und politischen Versteinerung eingeschlagen hat. Zu Beginn der siebziger Jahre kommt er nach dem Ingenieursstudium als Lehrer an die Universität der 50 Kilometer östlich von Algier gelegenen Stadt Boumerdès, wo er heute noch lebt.
»Zu dieser Zeit war der Campus ein außergewöhnliches menschliches Mosaik: 8 000 Studenten, von denen ein gutes Fünftel aus verschiedenen afrikanischen und arabischen Ländern kam, und mehr als 800 ausländische Lehrkräfte 30 verschiedener Nationalitäten, von denen eine Hälfte aus Ostblockländern kam und die andere aus den westlichen Ländern. 50 Kilometer östlich von Algier an der Küste an einem herrlichen Ort gelegen (Meer, Berge, Wald), bot der Campus alle denkbaren Annehmlichkeiten, um in Ruhe zu arbeiten und angenehm zu leben. Ich habe diese Zeit in wunderbarer Erinnerung, die bis zum Beginn der achtziger Jahre angedauert hat.«
Diese Zeit aber findet sich in Sansals Literatur nur in wehmütigen Erinnerungen, die Zerfall und Stagnation nur noch greller hervortreten lassen, und so sehr Sansal sein Leben in Boumerdès geliebt haben mag: In der Rückschau ent­deckt er die Gründe für die späteren Entwicklungen schon im Unabhängigkeitskrieg.
Wurden in den langen Jahren der Diktatur Col Houari Boumédiènes zumindest soziale und ökonomische Reformen durchgesetzt, änderte sich die Situation nach seinem Tod 1978. Der hochrangige Armeeoffizier Chadli Ben Djedid, der vom Zentralkomitee der FLN zum Präsidenten ernannt wurde, so erzählt Sansal, »traf andere politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die sich bald als katastrophal für das Land herausstellen sollten: die Arabisierung, die Islamisierung, die Algerianisierung. Dies manifestierte sich in der massiven und schnellen Entlassung aller ausländischen Mitarbeiter und deren umgehender Ersetzung durch algerische Funktionäre und Lehrkräfte, die kaum in der Lage waren, deren Nachfolge anzutreten. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten, der Campus verwahrloste und wurde zur Arena aller möglichen Kämpfe: Arabisierer gegen Frankophone, Islamisten gegen Demokraten, die Verwaltungsfunktionäre gegen das Lehrpersonal, für und gegen die Regierung usw.«
Später arbeitet Sansal als hoher Beamter in einem Ministerium. Sein Freund, der 1996 in Frankreich verstorbene Schriftsteller Rachid Mimouni, ermutigt ihn zum Schreiben; direkter Anlass ist der von den Islamisten angezettelte Bürgerkrieg. »Eines Tages 1997, als Algerien in eine unglaubliche Barbarei versunken war, habe ich dann plötzlich angefangen zu schreiben. Der ›Schwur der Barbaren‹ ist aus einem Anfall von Fieber und Wut geboren worden.« Der Roman erscheint 1999 in Frankreich bei Gallimard und erhält im selben Jahr den renommierten Prix du Premier Roman. Neun Jahre und vier Romane später erscheint Anfang 2008 »Das Dorf des Deutschen«, ein Buch, das bei seiner Veröffentlichung in Frankreich mit großer Aufmerksamkeit gewürdigt wird, weil Sansal in ihm eine Linie vom Nationalsozialismus zum Islamismus zieht.
In Algerien wird es sofort nach Erscheinen verboten, wie auch seine anderen Romane. Sansal verliert 2003 seinen Job, im vergangenen Jahr musste seine Frau ihre Arbeit aufgeben. Jetzt ist »Das Dorf des Deutschen« in deutscher Übersetzung erschienen, und es stellt sich die Frage, ob der Roman auch hier so aufmerksam rezipiert werden wird.
Ein denkwürdiges Erlebnis zu Beginn der achtziger Jahre. Auf einer Reise im Landesinneren stößt Boualem Sansal auf ein Dorf, das ihm durch seine Sauberkeit und Ordentlichkeit auffällt. Als er seine Gastgeber nach dem Dorf befragt, wird ihm stolz berichtet, dies sei das »Dorf des Deutschen«: Es werde von einem ehemaligen SS-Offizier aus Deutschland geführt, der durch die Vermittlung des ägyptischen Diktators Nasser am Unabhängigkeitskrieg teilgenommen und die algerische Staatsbürgerschaft und den Islam angenommen habe. »Mit der Shoah bin ich sehr früh in Berührung gekommen, ich war 18 oder 19 Jahre alt. In einem Buch, das ich auf einem Flohmarkt der für ihre Antiquariate berühmten Rue de Tanger in Algier fand, habe ich von den Ereignissen während des Zweiten Weltkriegs erfahren. Das Thema hat mich offenbar sehr beunruhigt, denn seitdem habe ich nie mehr aufgehört, mich für diese Ereignisse zu interessieren. Als ich Anfang der achtziger Jahre auf dieses Dorf stieß, in dem ein ehemaliger Nazi lebte, wurde ich von einer richtigen ›Leidenschaft‹ für die Shoah erfasst, einer geheimen ›Leidenschaft‹, denn in Algerien war sogar das Wort Shoah unbekannt. Ich habe das für mich behalten. Von den Juden zu sprechen, war zu dieser Zeit gleichbedeutend mit Hochverrat. Meine beiden Brüder und Freunde, die in Frankreich lebten, schickten mir Literatur über die Shoah, darunter die Bücher von Primo Levi. Als in Algerien der Bürgerkrieg ausbrach, halfen mir meine Reflexionen über die Shoah, die Barbarei zu verstehen, in der wir uns befanden.«
Die Handlung des Romans »Das Dorf des Deutschen« spielt in den neunziger Jahren. Die Protagonisten sind die beiden Brüder Malrich und Rachel, Söhne des Deutschen Hans Schiller. Die Brüder werden fernab der Eltern, die in einem kleinen algerischen Dorf leben, in Paris von einem Onkel großgezogen und bleiben auch als Erwachsene in Frankreich. Rachel, der Ältere, ist verheiratet, hat einen gut dotierten Job, ein Haus und ist französischer Staatsbürger. Malrich, sein 14 Jahre jüngerer Bruder, lebt ein perspektivloses Leben in einer Banlieue, die Gang ist sein einziger Halt.
Der Roman setzt ein mit der Ermordung der Eltern, die im fernen Algerien bei einem Massaker der Islamisten umgebracht werden. Rachel, der ältere Bruder, reist dorthin und entdeckt im leeren Haus seiner ermordeten Eltern einen Koffer mit Dokumenten und Erinnerungsstücken, die die Nazi-Vergangenheit seines Vaters belegen. Von da an beginnt für ihn eine Irrfahrt durch Europa auf den Spuren seines Vaters, die ihn bis nach Auschwitz führt und zurück in die Pariser Banlieue, wo er sich, davon überzeugt, für seinen Vater sühnen zu müssen, in einer Garage selbst vergast, mit geschorenem Kopf und in einem gestreiften Pyjama.
Diese Szene, in der sich Rachel aus Scham über die Verbrechen des Vaters so sehr mit den Opfern identifiziert, dass er seinen Selbstmord im Gas inszeniert, schreckt beim Lesen zunächst einmal ab. Ist Rachels Identifikation mit den ermordeten Juden nicht irgendwie zweifelhaft? Doch so einfach kann sie nicht zurückgewiesen werden. Wie jede Identifikation ist Rachels Haltung ebenso sehr Voraussetzung zu Empathie und Selbstreflexion wie die Möglichkeit zur Flucht eben davor.
Rachel liest alles, was er über die Ermordung der Juden finden kann. Er ist mit einer weißen Französin verheiratet, Ophelia. In dem Buch geht es nicht nur um die schrille arabische Variante der Holocaustleugnung, anhand der Figur der Ophelia wird auch die stille französisch-europäische Form der Verdrängung der Shoah zum Thema. »Eines Abends, als ich gerade mit neuen Büchern unter dem Arm nach Hause kam, sagte Ophelia mir mit einer Unachtsamkeit, die mich erschreckte: ›Es waren nicht wir, die sie getötet haben, diese Juden, warum interessierst du dich dermaßen dafür?‹«
Für deutsche Leser mag vieles im Roman konstruiert oder didaktisch aufbereitet wirken, weil die Erzählung unbeschädigt ist vom europäischen Erinnerungsdiskurs. Die im Roman vor­geführte Identifikation dagegen wirkt ebenso bedrückend wie herzerfrischend.
Anders als seine vorherigen Romane kann »Das Dorf des Deutschen« nicht in Algerien spielen. »Wenn ich Malrich und Rachel in Algerien gelassen hätte, wäre ich gezwungen gewesen, eine Geschichte zum Ruhme des Vaters und damit des Nationalsozialismus zu schreiben. So wie Geschichte in Algerien unterrichtet wird, wären Rachel und Malrich zweifellos stolz auf die Geschichte ihres Vaters gewesen, auf ihn, der zwei Mal gegen die Kolonialmacht Frankreich gekämpft hat, einmal als deutscher Soldat und dann ein zweites Mal als Untergrundkämpfer in den Reihen des FLN. Aus diesem Kontext musste ich sie herausholen, um sie mit der Shoah zu konfrontieren und ihnen die Freiheit zu geben, sich zu prüfen und zu handeln. Zudem hatte ich auch das Bedürfnis, von außen über Algerien zu sprechen.«
In Algerien wurde die Veröffentlichung von »Das Dorf des Deutschen« von vielen Intellektuellen mit Leerformeln quittiert, die Sansal schon gewohnt ist: Er sei antinational, antialgerisch, antimuslimisch, zionistisch und deshalb ein Verräter. Sansal wundert sich, dass kein einziger seiner Kritiker ihm genaue Gründe für die Ablehnung nennen wollte. »Manchmal denke ich, dass die Kritiken deshalb so vage geblieben sind, weil die Machthaber nicht wollen, dass in Algerien eine Debatte über die Shoah, den Nationalsozialismus und dessen Verbindungen zum Islamismus entsteht – um dem guten Namen gewisser algerischer Persönlichkeiten nicht zu schaden, die sich in ihrer Jugend in Hitlers berühmten arabischen Bataillonen engagiert haben.«
In den Romanen »Der Schwur der Barbaren« und »Erzähl mir vom Paradies« sind Sansals Protagonisten ältere Männer kurz vor dem Ruhestand, und der Zeitrahmen ist die ins endlose gedehnte Gegenwart der stagnierenden algerischen Gesellschaft. »Das Dorf des Deutschen« befasst sich mit der Generation unter dreißig, und zugleich ist es der Roman, der geschichtlich am weitesten reicht, nämlich zurück in die Zeit des Nationalsozialismus. Tatsächlich findet hier erstmals ein geschichtlicher Prozess Eingang ins Oeuvre Sansals, ist sein Thema doch ansonsten der Stillstand und die Ohnmacht in Algerien.
»Mehr noch als die Kinder unserer Eltern sind wir die Kinder der Geschichte«, erklärt Sansal. »Je besser wir sie kennen und je besser wir uns selbst kennen, desto besser können wir uns selbst bestimmen. Die Unkenntnis der Geschichte setzt uns der Gefahr aus, früher oder später auf Realitäten und Wahrheiten zu stoßen, die uns zerstören können. So ist es auch für Rachel und Malrich: In dem Moment, da die Geschichte sie einholt, stürzt eine Welt aus Wahrheiten und Gewissheiten ein – ohne jeden Ersatz.« Die Literatur Sansals ist politisch im Sinne von Albert Camus: Das Individuum gewinnt seine Freiheit, wenn es aufhört, den Einbruch des Politischen in das eigene Leben zu leugnen.
Doch Sansals Personen sind alles andere als Figuren eines literarisch-politischen Experiments, seine Romane haben nichts Thesenhaftes. »Wenn Literatur sich Grenzen setzt, ist sie keine. Die Dinge beim Namen zu nennen, ist ein wesentlicher Schritt im gegenseitigen Verständnis. Das ist es, was die Literatur von der politischen Rede unterscheidet. Die eine benennt, die andere nicht. Falls die Literatur eine größere Macht hat als die politische Rede, dann bezieht sie diese aus der Freiheit und der Aufrichtigkeit des Autors, aber auch aus der Sprache, mit der sie eine in gewissem Sinne magische Beziehung unterhält. Das, was benennt, ist nicht bloß das Wort, es ist das auf eine bestimmte Weise gesagte Wort.«
Beginnt man, Sansal zu lesen – es ist egal, mit welchem Roman man anfängt –, ist man sofort versucht, das Buch wieder aus der Hand zu legen, so massiv und verstörend begegnet einem die Sprache. Aber es handelt sich bei Sansals Literatur keineswegs um eine vitalistische Prosa, die die Authentizität irgendwelcher indigenen Völker feiert oder eine autochthone Identität hochleben lässt. »Diese Märchen von Rasse, Haut­farbe, Herkunft sind alle besonders blöd, das Leben nimmt die Formen an, die es will, wo es will, und es kann uns ziemlich leicht, schon dieser Tage, als Kühe oder Schweine reinkarnieren«, schreibt er in seinem Essay »Postlagernd Algier«, in dem er mit den Mythen der algerischen Geschichte aufräumt und die Versöhnung mit den Islamisten verurteilt.
»Postlagernd Algier« erschien in Frankreich 2006. Der Essay zeigt eine weitere Entwicklung in Sansals Werk an: Sein Engagement für Algerien wird von der Literatur getrennt, und zugleich erweitert sich damit der geografische und geschichtliche Horizont seiner Romane. Waren dem Romandebüt »Der Schwur der Barbaren« noch Zeitungsartikel oder essayhafte Exkurse eingearbeitet, verzichtet der Autor seither auf solche Montagen.
Im »Dorf des Deutschen« ist die chaotische Verzweiflung einem ruhigeren Duktus gewichen, der zwar nicht weniger wütend, aber doch deutlich zielgerichteter wirkt. Es ist, als emigriere Sansal nicht physisch, sondern literarisch, indem er eine Welt schafft, in der es noch Möglichkeiten gibt, sein Leben zu gestalten.
Boualem Sansals Literatur entwickelt sich von »Der Schwur der Barbaren« zu »Das Dorf des Deutschen« in mehrerlei Hinsicht: Der erste Roman bedient sich des Krimi-Genres, während die späteren Bücher der Form nach freier werden und unterschiedliche Elemente verarbeiten. Zentral ist immer die Konfrontation zweier unterschiedlicher Figuren, deren Gegensätzlichkeit jedes Gespräch, zumindest unter den gegebenen Bedingungen, ausschließt. In »Harraga« trifft die einsame Kinderärztin Lamia auf Chérifa, ein schwangeres Mädchen, unverheiratet und stark geschminkt; »Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum« inszeniert die Begegnung zweier zum Tode Verurteilter in der Zelle, der eine ein Islamist, der andere ein Franzose, der illegal nach Algerien eingereist ist; im jüngsten Roman, der aus dem Dialog der Tagebücher der beiden Protagonisten besteht, wird dieses Prinzip vollendet. Weil diese Begegnungen aber ihr Fundament ausschließlich in der Phantasie des Autors haben, entbehren auch ihre Schilderungen nicht des Phantastischen.
So wirkt der Reflexionsprozess Malrichs, des jüngeren Bruders, der erst durch den Suizid Rachels auf die Geschichte gestoßen wird, in gewissem Sinne »märchenhaft«: Die Auseinandersetzung mit der mörderischen Geschichte der eigenen Familie mündet in die eigene Befreiung und führt zu einer Gegnerschaft zum Islamismus in der Banlieue. So werden hier ein politischer Spielraum eröffnet und politische Handlungsmöglichkeiten sichtbar – auch wenn einem diese Wendung wenig realistisch vorkommt. Die einsame Entscheidung Malrichs, dem Vorstadt-Mullah die Stirn zu bieten, gemahnt an die Haltung Camus’, an den existenziellen Charakter einer Entscheidung, die der Einzelne nur für sich zu treffen hat. Sansals Roman vertritt die Perspektive einer bewussten Ablösung von Geschichte und Tradition, in der die Möglichkeit zur Freiheit liegt – ausgerechnet in einer Geschichte, die, in der zeitgenössischen deutschen Literatur erzählt, nur in Versöhnungskitsch würde enden können.
»Ja, ich bin wirklich ein Emigrant. In meiner Tasche ist alles, was ich zum Schreiben brauche, und das reicht mir. Wenn es ein Land gibt, in dem der Emigrant, der ich bin, sich nicht niederlassen wollen würde, dann ist das sicherlich Algerien: das Leben dort ist zu hart, und seine Kinder fliehen es auf allen Wegen.«

Boualem Sansal: Das Dorf des Deutschen. Merlin-Verlag, 2009, 340 Seiten, 22,90 Euro