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Vermutlich sind Umgangsformen, die aus Feudalzeiten in die Gegenwart herüberreichen, bei manchen unserer Leser nicht besonders anerkannt. Vielleicht gilt dies gar für den Gebrauch von Visitenkarten, die ihren Namen dem Umstand verdanken, dass Besucher einst zur Ankündigung ihres Kommens den Bediensteten des Hauses Namenskärtchen überreichten. Sie können uns glauben: Wir sind keine Freunde feudaler Umstände. Aber seit heute morgen erwarten wir nichts ungeduldiger als die Lieferung eines Pakets neuer Visitenkarten, auf denen unser Logo prangt, und das uns erlösen soll von Situationen eher unangenehmer Art.
Denn wenn Ihnen Ihr Gesprächspartner ein Kärtchen in die Hände drückt, das doch vertrauensvoll seinen Namen, seine Adressdaten, seinen Posten und nicht selten seinen Geschmack kundgibt – was sollen Sie da entgegnen, wenn Ihnen ebensolche Kärtchen fehlen? Nach Stift und Zettel kramen, Ihre E-Mail-Adresse buchstabieren, auf Ihr Profil bei Facebook verweisen? Ab morgen, so hoffen wir, erleichtern uns kleine weiße, mit Bedacht gestaltete Visitenkarten den Kontakt zu all jenen Menschen, für die diese Kärtchen zum sozialen Leben dazu gehören.
Etwa zu Iranern im Exil, bei denen der Visitenkartentausch häufig zum freundlichen Handschlag gehört. Denn die Revolte im Iran, die in den internationalen Medien langsam an Resonanz zu verlieren droht, soll bei uns nicht an Aufmerksamkeit einbüßen. Im Auslandsressort berichten Kazem Moussavi und Andreas Benl über die Repression im Iran. Auf der Wissenschafts­seite informiert Jörn Schulz über Islamkritik und Säkularisierung. Ins Dossier haben wir verschiedene Autoren eingeladen, zu den Unruhen im Iran Stellung zu beziehen, und dies tut sogar Jörg Sundermeiers »letz­ter linker Student«.
Aber trotz neuer Visitenkarten sprechen wir weiterhin auch mit all jenen, die keine Visitenkarten tauschen, ja auch mit denen, die nie im Leben kleine weiße Karten mit ihrem Namen und ihrer Anschrift überreichen würden, sondern höchstens einen Vornamen nen­nen, der dazu mit Sicherheit nicht stimmt. Das beweist unser Thema über Militanz und Gentrifizierung. Aber wir sind nicht blöde. Wer uns kein Kärtchen mit seiner Adresse gibt, der bekommt auch keines von uns. Nicht, dass es dann am Schluss in einem Bekennerschreiben heißt: »Wegen kleinbürgerlicher Kritik an unserem Kampf flambierten wir zwei Luxuskarossen vor der Tür der Redaktion Jungle World«. Denn das wollen wir nicht. Selbst dann, wenn die Luxuskarossen vor der Tür nicht uns gehören.