Die Linke muss ihre Lähmung überwinden

Die Paralyse brechen

Die emanzipatorische Linke muss sich mit der Oppositionsbewegung im Iran solidarisieren, auch um ihre eigene Lähmung zu überwinden.

Der Zufall brachte mich in einem Antiquariat zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Autonomie, dem Zentralorgan undogmatischer Linksradikaler aus dem Jahre 1979. »Massenautonomie im Iran« ist ihr Titel, der auch von heute sein könnte. Das ganze Heft zeugt von Begeisterung für diese Revolution, für einen wirklichen Umbruch von unten. Die radikale Linke ist damals auf der Suche und bemüht zu verstehen, was die Menschen im Iran treibt, wie sie kämpfen, was für Erfahrungen sie machen. Die Welt ist bei weitem nicht so globalisiert, Youtube und Facebook gibt es nicht. Aber jeder Papierfetzen, den die deutschen Aktivisten damals über die Kämpfe im Iran oder von iranischen Denkern bekommen, wird sorgfältig durchgearbeitet. Das neue Phänomen des politischen Islam und dessen Verbindung zu linken Theo­rien, wie sie insbesondere durch den Chef­ideo­logen und Fanon-Übersetzer Shariati forciert wurden, löst eine ahnungslose Bewunderung aus.
Heute wissen wir, wie die Linke damals innerhalb und außerhalb des Iran die Gefahren des Islamismus unterschätzt hat. Der Preis, den sie dafür zahlen musste, war die Tragödie einer ganzen Generation. Wegen dieser Tragödie hatte ich früh begonnen, das Thema Iran zu verdrängen. Wie viele andere Kinder von Exil-Iranern war ich von den Biographien der Elterngeneration traumatisiert. Die Geschichten von Hinrichtungen und Folter begleiteten uns und machten den Iran für uns zu einem dunklen Kapitel ohne Hoffnung.

Es war genau vor zehn Jahren, als dieses Bild zu bröckeln begann. Mit Khatami wurde im Iran ein Reformpräsident gewählt, die iranische Nationalmannschaft qualifizierte sich für die Fußball-Weltmeisterschaft, woraufhin Millionen Iraner im Angesicht der Kulturpolizei Basij auf den Straßen tanzten. Das war das erste Anzeichen einer Revolte. Die iranische Mannschaft überreichte dem Team der USA Blumen, bevor sie diese mit 2:1 besiegte, und wieder tanzten die Leute die ganze Nacht. Ein Jahr später, am 18. Tir, dem 9. Juli 1999, kam es zum Aufstand der Studenten. Der Krieg ge­gen den Irak war vorbei, und eine neue Generation fand anstelle dessen, was die Revolution ihnen versprochen hatte, ein Regime des alltäglichen Terrors und eine klerikale Oli­garchie vor. Damit kam die Zeit der Reformer, die sich teilweise aus etablierten Denkern des alten Systems, aber insbesondere auch aus der neuen Generation des öffentlichen Lebens rekrutierten. Das politische System der islamischen Republik Iran ist in dem Sinne relativ modern, da es versucht, solchen gesellschaftlichen Veränderungen durch einen hohen Grad an Elitenpluralismus zu entsprechen.
Im Kern aber ist das System eine theokratische Diktatur. Dies ließ die Reformbewegung sehr schnell an ihre Grenzen stoßen. Das bedingt die aktuelle revolutionäre Krise. Auch wenn der Aufstand am 18. Tir 1999 gewaltsam niedergeschlagen wurde, war dieser Tag wie ein Fanal, mit dem eine neue Periode von permanenten sozialen Auseinandersetzungen im Iran anhob. Das, was sich in den vergangenen Wochen in Teherans Straßen abspielte, fiel nicht vom Himmel, und den Menschen auf der Straße geht es nicht nur um die Wahlen. Seit über zehn Jahren gären politische, soziale und kulturelle Konflikte. Die Iraner begannen, sich im Alltag gegen die Zumutungen des Regimes zu wehren. In den vergangenen Jahren verging kaum ein Tag ohne Streiks oder Betriebsbesetzungen. Die Universitäten wurden zum Hort des Ungehorsams, die Frauenbewegung wuchs zur größten in der Geschichte des Nahen Ostens heran. Die Gesellschaft war mit der Revolution schwanger, und nun haben die Wehen be­gonnen. Für meine Generation ist die Verdrängung endlich Geschichte.

Im Grunde ist es kein großes Rätsel, was Linke in solchen Situationen zu tun haben: Progressive Bewegungen gilt es zu unterstützen, trotz ihrer inneren Widersprüche. Darüber hinaus gilt es von den zeitgenössischen Bewegungen zu lernen. Im Iran erleben wir den ersten großen postmodernen Aufstand: Die Revolte ist sehr plural, ohne klare Führung, netzförmig, hat keine strengen Konturen und kaum feste Strukturen, ist aber insbesondere über Facebook, Youtube und Blogs klug organisiert. Der Schatz dieser Erfahrungen ist unermesslich. Aber die aktive Solidari­tät ist bedauerlicherweise innerhalb der Linken noch nicht die große Mode.
Statt dessen haben wir es mit »Linken« wie Hu­go Chávez zu tun, der zu den ersten gehörte, der Ahmadinejad zum »Wahlsieg« gratulierte. Die von mir bisher bei aller Kritik geschätzte Tageszeitung Junge Welt interviewte zu den Wahlen und Un­ruhen in aller Ausführlichkeit den iranischen Botschafter, einen ehemaligen Gefängnisleiter, der zuständig für eine Botschaft ist, die hier in Deutschland mehrere linke und kurdische Oppositionelle durch Terrorakte erschießen ließ. Am 25. Juli brachte die Junge Welt die internationale Be­wegung, die sich mit den iranischen Demonstranten solidarisierte, in den Zusammenhang mit der CIA und vermeintlichen Kriegsvorbereitungen gegen den Iran und verhielt sich damit just wie die iranische Staatspropaganda. Ein kleiner Rand der Linken ist zum direkten und indirekten Fürsprecher der paramilitärischen Aufstandsbekämpfung im Iran geworden – Seite an Seite mit Ahmadinejad und seinem Mentor Ayatollah Messbahe Yazdi, die zusammen die Ankunft des schiitischen Messias planen.
Angenommen, Ahmadinejad und seine Leute wären wirklich die antiimperialistischen Vertreter der kleinen Leute, für die sie manche halten: Selbst dann dürfte man sie nicht für ihre Verbrechen decken. Schließlich können die Armen, egal ob im Iran oder anderswo, auch der reaktionären Rechten hinterherlaufen. Außerdem kämen Linke in Europa auch nicht auf die Idee, die FPÖ gut zu finden, nur weil die meisten österreichischen Arbeiter diese Partei wählen. Aber Ahmadinejad und seine Leute sind noch nicht einmal antiimperialistische Vertreter der kleinen Leute. Der Iran ist längst kein vom Imperialismus unter­drück­tes Land mehr, sondern selbst eine regionale Macht, die nach Hegemonie strebt. Und die kleinen Leute, die urbanen Armen, waren zwar nicht der Ausgangspunkt, sind aber Teil der Revolte, das bestätigen alle Berichte. Es ist doch auf­fällig, dass Ahmadinejad, abgesehen von den ersten beiden Tagen nach dem Wahlergebnis, kei­ne Massen mobilisieren konnte. Für ihn kämpft nur der ideologisierte Militärapparat.
Die groben Dummheiten seitens des Rands der Linken, der sich mit Ahmadinejad solidarisiert, sowie die Passivität unseres politischen Mainstreams haben der neuen Linken im Iran, die trotz der Verfolgung in den vergangenen Jahren wieder zu einem politischen Faktor werden konnte, enormen Schaden zugefügt. Doch mehr als das: Wenn der »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« auf der Seite der schießenden Paramilitärs steht und wenn die deutsche Linke in ihrem emanzipa­torischen Auftrag von der Mitte der Gesellschaft überholt wird, verliert sie hier an Terrain, das kaum wieder gutzumachen ist.

Der Kern des Problems liegt in der Geopolitik. Der Nahe Osten ist in den vergangenen Dekaden zum wichtigsten Schlachtfeld geworden. Der Westen verlor in der ressourcenreichen Region an Einfluss und versuchte, dies militärisch zu kompensieren. So wurde die Region zum Aufmarschplatz westlicher Truppen. Zugleich wuchs die islamistische Bewegung von Jahr zu Jahr und von Land zu Land. Schlüsselereignis hierfür war die Revolution im Iran 1979. Die Linke und die progres­siven sozialen Bewegungen waren in der Region zunehmend und insbesondere nach 1989 marginalisiert. In dieser Konstellation schaukelten sich zwei extreme Pole innerhalb der globalen Lin­ken hoch: Die einen, die linkslackierte Avantgarde der deutschen Neokonservativen, suchten das Heil bei den westlichen Invasoren und ihren »zivilisatorischen Standards«. Die anderen sahen den Fortschritt nur in der Niederlage dieser Invasoren und hofften auf den Sieg der Gotteskrieger. Bei­de Positionen sind ein genereller Exit aus der Linken – beides sind Formen des mit Antihumanismus gesättigten Metropolenzynismus. Beide denken nur noch in Fraktionen des heutigen imperialen Gefüges, die Frage der Befreiung ist für sie erledigt. In dem, was sie tun, und in dem, was aus ihren Positionen folgt, gibt es faktisch keine Option für progressive Veränderung von unten, sondern nur die Wahl zwischen den beiden Polen der Großmächte. Die große Mehrheit der Linken hierzulande ist durch diese beiden Extreme paralysiert.

Die Bewegung im Iran hat das Potenzial, diese Paralyse zu brechen. Eine Revolte von unten gegen den islamistischen Staat wird den radikalen Islamismus als Ideologie des Widerstands delegitimieren. Die anderen Diktaturen in der Region werden destabilisiert, und in Israel wird der Lieb­lingsfeind der israelischen Rechten verschwinden. Ohne Ahmadinejad, den Holocaust-Leugner mit der Atombombe, wird eine Welle der Pazifizierung und Humanisierung der israelischen Gesellschaft zu erwarten sein. Wenn die Revolte gelingt, hat der Iran das Potenzial, ein Land zu werden, in dem die sozialen Bewegungen zu einem wichtigen Machtfaktor in der Gesellschaft werden. Das könnte weit in den Nahen Osten ausstrahlen.
Die Solidarität mit der Opposition im Iran ist auch deshalb wichtig, weil die Sympathien für diese Oppositionsbewegung weit über die iranische Community hinausgehen. Auch andere migrantische Gruppen sympathisieren mit dem Widerstand gegen das iranische Regime. Angesichts der Schüsse von Ahmadinejads Falange auf muslimische »Brüder und Schwestern«, die »Allahu Akbar« rufen, hat es der reaktionäre Islamis­mus in Deutschland derzeit überhaupt nicht leicht. Wenn die deutsche Linke nun angesichts der Verbrechen in Teheraner Gefängnissen schweigt, wie sie auch schwieg, als im Frühjahr im Gaza-Streifen ein humanitäres Verbrechen stattfand, braucht sie sich keine Illusionen über ihre Verankerung in der migrantischen Jugend zu machen, denn für diese ist die Gewalt gegen die Menschen in ihren Herkunftsländern ein bedeutender Teil ihrer Lebensrealität. Solidarität mit der iranischen Oppositionsbewegung bedeutet daher auch Solidarität mit den Menschen hier. Zu­gleich ist solche Solidarität eine Chance, die Paralyse des linken Internationalismus endlich zu brechen.

Pedram Shahyar ist Mitglied des Koordinierungskreises von Attac Deutschland und engagiert sich im Netzwerk junger Iraner in Berlin.