Die Pubertät in Integrationsschulen

Sex in the Ghetto

Die Kindheit im Heim ist hart. Die Pubertät in Integrationsklassen ist es auch.

Ich kam 1966 zur Schule. Ich lebte in der DDR und war schwer behindert. Schule bedeutete deshalb für mich, dass ich von zu Hause weg und in einem Heim leben musste. Aus der Sicherheit herausgerissen und von den Eltern getrennt zu werden, war eine sehr schmerzliche Erfahrung. Da merk­te ich das erste Mal, dass ich behindert war. Zusammen mit 70 anderen defekten Kindern war ich aussortiert, verwahrt in einem Haus im Wald hinter Mauern. Doch bei aller Ghettoisierung und der Traumatisierung, die ich erleben musste – mit meiner sexuellen Sozialisation hatte ich keine Probleme.
Das Heim war nach außen hin stark abgegrenzt. Faktisch lebten wir in einem Gefängnis. Aber es war eine Welt für sich. Unsere Körper waren hier die Normalität – unsere Buckel und Skoliosen, unsere Spasmen und Dystrophien, unsere Verkürzungen und Verkrümmungen. Wir bildeten Cliquen, denen nicht jeder angehören konnte, trafen uns zum Wettwichsen auf dem Klo und prahlten damit, die meiste Wolle auf der Knolle zu haben. Diesbezüglich unterschieden wir uns nicht von anderen pubertierenden Jungen unserer Generation.
Wir verstanden es sogar, unsere Behinderung im Kontakt mit den Mädchen nutzbringend einzusetzen. So bat ich, wenn ich abends schon im Bett lag, die Mädchen, die laufen konnten und die sich oft in der Nähe unseres Zimmers aufhielten, mir eine Urinflasche zu bringen und zwischen meine Beine zu stellen. Eine gute Gelegenheit, ihnen unverfänglich etwas zu präsentieren, was ich für überaus prächtig hielt und das durchaus ihr Interesse weckte. Ähnliche Erfahrungen haben auch andere meiner behinderten Bekannten und Freunde gemacht, die in einem Heim aufwachsen mussten, egal ob in den siebziger oder neunziger Jahren, egal ob in Ost oder West. Etwas verkürzt kann man sagen: Auf eine schmerzliche verstörende Kindheit im Heim folgte dort eine starke Pubertät.
Leute, die auf eine integrative Schule gingen, scheinen oft entgegengesetzte Erfahrungen zu machen: Viele erinnern ihre Kindheit als behütet und stark, die Schule eröffnet den Kindern neue Möglichkeiten, die Welt zu entdecken, sich auszuprobieren und zu bestätigen. Die Pubertät aber ist der Beginn der Entfremdung von den Freunden. Man muss erkennen, dass man doch nicht in vollem Maße dazugehört. Einfach nur in Shopping Malls rumzuhängen, zu qualmen und zu gucken, wie man an Bier rankommt, mag cool sein, aber wenn man behindert ist, geht das nicht. Wenn man überhaupt mal rauskommt, dann zum therapeutischen Reiten oder Basteln.
Ein paar Jahre später, wenn dann ein Kumpel anruft und zur Party in der sturmfreien Bude lädt, kann es schon daran scheitern, dass der ­U-Bahnhof keinen Aufzug hat. Kaum eine Wohnung ist ohne Treppen zu erreichen. Die kräftigsten und hilfsbereitesten Gäste mögen es noch schaffen, einen Rollstuhlfahrer nach oben zu schleppen. Aber wie die steilen Treppen wieder nach unten gelangen, wenn in der Frühe alle vollgeknallt sind? Doch selbst wenn man sich all diesen Hindernissen stellt, wird es nicht belohnt. Jasmin wird von Dennis nach Hause gebracht, weil dieser sich davon verspricht, baldigst mit ihr im Paradies zu sein. Diane, die an Stützen geht, wird von Marcus begleitet, weil er ein soziales Gewissen hat. Vielleicht ist er fromm und erhofft sich davon eine Erhöhung seines Guthabens im Himmel.
Wenn man in eine integrative Schule geht, befördert das offenbar das Gefühl, erotisch unwert zu sein. Daraus abzuleiten, dass stark abgegrenzte Lebenswelten für behinderte Jugendliche anzustreben sind, wäre selbstredend Unfug. Vielmehr sollte nach Möglichkeiten gesucht werden, die es Kindern mit Behinderungen erlauben, ähnlich wie ihre nichtbehinderten Altersgenossen über sich zu verfügen. Ein guter Ansatz dafür ist der Assistenzgedanke. Er besagt, dass der, der die Hilfe benötigt, darüber verfügt, wer ihm die Hilfe gibt, wann und wo sie erfolgt, was getan wird und wie es getan wird. Behinderte Jugendliche sollten also Assistenten haben können, die sie nicht pädagogisieren, sondern tun, was die behinderten Jugendlichen ihnen sagen. Also eher mit ihnen um die Häuser ziehen, als Exkursionen für die Schule zu unternehmen. Ein schönes Ziel – in Zeiten ständiger Einsparungen leider auch ein fernes.

Matthias Vernaldi ist Redakteur von »Mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen«.