Über den neuen Film von Lars von Trier »Antichrist«

Hänsel und Gretel im Hexenhaus

Lars von Triers »Antichrist« ist ein Horrorfilm, und als solcher sollte er auch rezipiert werden.

Gerade ist in Berlin das Fantasy Filmfest zu Ende gegangen. Bei diesem Festival ist es Sitte, formschöne Splatterszenen zu beklatschen – nerviges Gör, das es wirklich verdient hat, knallt gegen die Windschutzscheibe: Applaus! Lars von Triers »Antichrist« wäre von diesem Publikum nur mit Wohlwollen aufgenommen worden, der Beifall wäre dem Film sicher gewesen. Der aber hatte als Arthouse-Projekt in Cannes seine Uraufführung, wurde dort kontrovers diskutiert, hat teils für gepflegte Empörung gesorgt und gilt schon jetzt als Skandalwerk. Weil in Cannes »die Stellen« nicht einfach weggeklatscht, sondern nur für eklig befunden wurden. Man sieht dort beispielsweise einen erigierten Schwanz bei der Penetration, eine Masturbationsszene unter einem knorrigen Baum, Hauptdarsteller Willem Dafoe wird ein Schleifstein durch ein Bein gerammt, und Charlotte Gainsbourg verstümmelt sich selbst in Großaufnahme die ­Vagina. Zugegeben: Das sind teilweise krasse Szenen, was die ganze Aufregung soll, ist dennoch kaum verständlich. Porno ist schließlich längst auch im Arthouse-Bereich immer öfter zu finden, und ein Film, der explizit mit dem Genre des Horrorfilms mehr als bloß flirtet, kann wohl kaum auf ein paar Schockmomente verzichten. Lars von Trier selbst freut sich bereits wie ein kleiner Junge über die ganze Aufregung, die er mal wieder verursacht hat. Der Mann liebt es zu provozieren, je mehr Unverständnis ihm entgegenschlägt, desto glücklicher ist er.
Natürlich kann man fragen, was das alles sein soll: Ein Paar begibt sich zur Aufarbeitung der Trauer über den Verlust des eigenen Kindes in ein Haus mitten im tiefsten Wald, und dort bricht der Horror über die beiden herein. Die Natur tritt ihnen feindselig gegenüber, der Wahnsinn befällt die Frau, Tiere fangen an zu reden, nur wer tötet, wird selbst nicht getötet. Darum geht’s im Wesentlichen. Klingt krude, ist krude. Aber hallo: Wir reden hier von einem Horrorfilm. Und gegen die Stories von »Freitag der 13.« bis zu »Saw V« ist das Geschehen in »Antichrist« sogar weitestgehend intelligent, und auch für einen Horrorfilm von Lars von Trier sollte einfach gelten, was für einen Horrorfilm eigentlich immer gilt: dass das Zeigen von ein paar schönen Schockmomenten keiner weiteren Erklärung bedarf.
Wer Lars von Trier Effekthascherei vorwirft, hat nicht verstanden, dass es um diese ja auch geht. Schon die Eingangssequenz ist von atemberaubender Schönheit, sie ist maniriert und überästhetisiert, aber wie hier albtraumhaft der Geschlechtsakt der Eltern mit dem Tod des eigenen Kindes zusammengeschnitten wird und so die Schuld evoziert wird, die fortan treibende Kraft für das weitere Geschehen ist, das ist hohe Kunst.
Auch der Rest des Films ist, zumindest vom Standpunkt des Horrorfilm-Genres aus betrachtet, meisterlich. Horrorfilme funktionieren ja meist nach diesem Schema: Eine Gruppe begibt sich in ein einsames Häuschen im Wald, das Grauen ist unbestimmt, bald gibt es das erste Opfer, weitere folgen, das Grauen bekommt ein Gesicht, die Spannung sinkt, das Schlachten geht weiter, das final girl entkommt dem Geschehen. »Antichrist« dagegen ist konzentrierter, minimalistischer Horror, undurchdringlich erscheinen die seltsamen Ereignisse im Gehölz: Ein Pärchen begibt sich in ein Häuschen im Wald, das Grauen ist unbestimmt und – für einen Horrorfilm schier unerhört – es bleibt bis zum Schluss. Das Böse bekommt keine konkrete Form, und ein final girl gibt es natürlich auch nicht. Am Ende ist der Vorhang zu, aber alle Fragen offen.
»Antichrist« ist auch großes Schauspielerkino, ein Zwei-Personen-Stück im deutschen Wald, wo der Film gedreht wurde. Charlotte Gainsbourg hat für ihre Performance als Furie und Hexe mit enormem Trieb zur Selbstzerstörung in Cannes die Goldene Palme bekommen, und Willem Dafoe, das alte Knautschgesicht, das für immer und ewig auf den Bösewicht abonniert war, schafft es immerhin, nicht zu nerven.
Für vulgärpsychoanalytische Deutungen und für das nächste Gender-Studies-Seminar ist »Antichrist« sowieso ein Fest: Sie ist das irrational Weibliche, er der Vernünftige. Er muss sich auf ihrem Terrain behaupten, in der Natur, im feuchten Moos, klar, dass er damit nur schlecht zurande kommt. Sie hat es sich in ihrem Hexenhäuschen wohlig eingerichtet, glaubt an das böse Wesen der Frau wie in den finstersten Zeiten der Hexenverfolgung, er verlangt von ihr, nicht jeden Unfug aus dem »Hexenhammer« für bare Münze zu nehmen.
Der Film sei misogyn, wird Lars von Trier nun vorgeworfen. Tatsächlich treibt der Regisseur seine Frauenfigur konsequent dem Wahnsinn entgegen, wofür sie am Ende auch noch bestraft wird. Doch Frauen müssen bei Lars von Trier eigentlich immer leiden, das zieht sich durch von »Breaking The Waves« bis »Dogville«. Normalerweise nehmen diese Frauen ihr Schicksal aber immer an, ohne groß zu murren. In »Antichrist« jedoch übernimmt die Frau den aktiven Part. Sie erduldet, lässt aber auch erdulden, sie wird gequält, quält selbst aber auch.
Wenn man so will, haben wir es hier auch mit einem Black-Metal-Film zu tun. Denn Hexen, der Wald, Hass, das Böse, Verklärung der Natur, das ist auch das Programm im Black Metal, dessen Manifest und Urszene, das Album »Black Metal« der englischen Band Venom aus dem Jahr 1982, zufälligerweise oder doch gelenkt von einer dunklen Macht, passend zum Start von »Antichrist« gerade in einer kritischen Ausgabe als Doppel-CD neu erschienen ist. »Bloodlust«, »In Nomine Satanas«, »Don’t Burn The Witch«, so heißen hier die Stücke, die übrigens vergleichsweise erschreckend lahm, holprig und rockig klingen, wenn man bedenkt, was aus Black Metal heute für ein brachiales und soundmäßig infernales Terrorgenre geworden ist. Im Booklet sieht man die Typen von Venom in bizarren Posen im – natürlich – Wald herumkaspern. Die drei meinen es bitterernst, zugleich aber auch so gar nicht. So wie Lars von Trier in seinem Film.

Lars von Trier: Antichrist. Mit Charlotte Gainsbourg, Willem Dafoe (D, F, I, S). Start: 10. September. Venom: Black Metal (Sanctuary)