Abdruck aus dem Roman »Spucke«

Schwein oder Mensch

Von der Arbeit beim Popkulturmagazin Spucke, dem Hasen, der der Karotte hinterherläuft, und einem Leben, das von der Karriereleiter hinab in die Subkultur führt

Durch die Küche des Kreml lief eine Maus. Sie kam hinterm Schrank hervorgeflitzt, blieb unentdeckt und verharrte an einem Tischbein. Förster konnte das von seinem Platz an der Theke aus gut beobachten. Eine Durchreiche gab den Blick auf Arbeitsfläche, Herd, Töpfe und das Versteck frei. Se­kunden verstrichen, und der kleine Eindringling blieb auch noch an seinem Platz, nachdem Förster sich die fordblauen Augen, die nicht lügen können, ordentlich gerieben hatte. Das hier war nicht erfunden. Keine Szene aus ei­nem Kinofilm und auch keine Passage aus dem Roman, den er zu schreiben beabsichtigte. Vor wenigen Minuten hatte er Teigtaschen, Pelmeni, bestellt, ganz in echt, die im Kreml grundsätzlich schmack­haft zubereitet wurden. Die kleine Maus wirkte, das musste er sich schon eingestehen, wie ein Appetitzügler. Der Koch jedoch schien kaum beeindruckt vom ungebetenen Gast. Vermutlich hatte er das Tierchen, dessen spitze Nase vibrierte, während der Herzschlag das Brust­körbchen dehnte, nicht bemerkt. Und falls doch? Waren ihm die unhygienischen Zustände kein Dorn im Auge? Förster dachte an die Theorie seines Vaters über den Untergang des real existierenden Sozialismus. Gustav Förster wurde niemals müde zu betonen, dass die Leute im Ostblock sich nicht sonderlich angestrengt hätten, weil es durch mehr Engagement ja auch nicht mehr zu gewinnen gab. Doch erstens blieb zumindest bloße Macht eine Sorte Kapital, die es durchaus auch im Sozialismus anzuhäufen galt. Und der Koch des Kreml lebte inzwischen lang genug im kapitalistischen Haifischbecken, um Bescheid zu wissen. Klack. Eine Bewegung zu viel am Hackbrett, und die Maus würde auf und davon trippeln. Ha! Schon flitzte sie los wie Speedy Gonzalez, die schnellste Maus von Mexiko. Na ja, dachte Förster, in der Gastronomie hat man halt andauernd mit Ungeziefer zu kämpfen, und vermutlich sind in der Küche überall Fal­len aufgebaut. Was, wenn die kleine Besucherin bisher einfach Glück gehabt hatte? Förster schaute zur Lenin-Büste, die von der Zapfanlage auf die Kundschaft blickte. Klack. Der Koch hieb das Messer mit Wucht ins Lammfleisch.
Ein wenig Glück gehört einfach dazu.
Die Schaumkrone des russischen Biers, in die er seine Zunge tauchte, löste einen Proustschen Reflex aus. Förster fühlte sich an jene glücklose Zeit erinnert, als er in seiner ersten eigenen Bu­de wohnte. Damals hatte er es mit einem kruden Haufen zu tun gehabt. Der stets braun gebrannte, schwäbelnde Nachbar haute auf Butter- bzw. Kaffeefahrten arglose Rentner als Animateur und Heizdeckenverkäufer übers Ohr. Sicher war das nicht sein Kindheitstraum vom Leben gewesen. Einmal in der Woche füllte Roland Schneider unverdrossen vor der Haustür den Kofferraum seines Kombis mit dem wertlosen Plunder, den die Senioren ihm anscheinend wie geschnitten Brot aus den Händen rissen.
Parterre führte der Vermieter Hans Groß ein Textilgeschäft, das vollgestopft war mit Klamotten, die er bei Wohnungsauflösungen praktisch umsonst ergatterte. Als körperlich am Rande des Zusammenbruchs stehender Tattergreis hätte er sich mit den von Roland Schneider skrupellos ausgenutzten Altersgenossen solidarisch erklären können. Stattdessen aber fühlte Groß sich demselben System kapitalistischer Ausbeutung gegenüber verpflichtet. Sein Leben war auf Reibach getrimmt.
Die Geschäftsidee war clever. Aus dem ganzen Viertel strömten verzweifelte Hausfrauen in den Laden des Geizhalses, der einer Geschichte von Charles Dickens hätte entsprungen sein können, um nach Knöpfen zu suchen, die an jahrealten Kleidern und Anzügen ihrer Ehegatten abgefallen waren – und die man im Sortiment der Konkurrenz vergeblich suchte. Groß’ Erfolg verursachte selbstredend Neid und Missgunst. Ein griechisches Ehepaar betrieb den hauseigenen Schnellimbiss. Die beiden sahen nicht so aus, als hätten sie eine Wahl gehabt. Immer wenn Förster ihr fettiges Gyros verschlang, such­ten sie radebrechend das Gespräch, schimpften über die Politik und lästerten über Groß. Ja, es gab viele Gründe, sauer auf den Alten zu sein. Aber er war in mancher Hinsicht ein be­mer­kens­­wer­ter Mann, der die Geschichte europäischer Königshäuser in- und auswendig kannte.
Und der vor Autoritäten keinen Buckel machte.
Förster entsann sich einer spannenden Begebenheit: Nach einem von den Griechen ausgelösten Gasalarm hatte Groß sich geweigert, der mit mehreren Einsatzwagen angerückten Feuerwehr die Wohnungstür zu öffnen. Mit der Erklärung, ein alter Mann sei kein D-Zug, ließ er die Helfer vor seiner Schwelle versauern, während die übrigen Hausbewohner auf der Straße der Explosion entgegenzitterten. Vermutlich zähl­te er Knöpfe. Förster konnte sich noch gut daran erinnern, dass Groß letztlich doch seinen grei­sen Kopf nach draußen steckte. Allerdings nur, um den Brandmeistern zu erläutern, dass er ihnen auf gar keinen Fall Zutritt zu den Kellerräumen verschaffen würde. Durch den Türspalt drang der stechende Geruch von Groß’ sabberndem Schäferhund. Auf die Frage, was er im Keller zu verbergen versuche, antwortete Ebenezer Scrooge als wahrhafter Rebell, der sich einen feuchten Kehricht um politische Korrektheit schert und aus seinem Herzen keine Mördergru­be macht:
»Leck mich am Arsch! Die Gestapo soll dich holen!«
Förster hatte sich vorsichtshalber die Ohren zu­gehalten. Doch der große Knall blieb aus. Hans Groß, so vermutete er nachher, beherbergt womöglich Leichen im Keller. Mit absoluter Sicherheit konnte man nur sagen, dass es in dem Gebäude von Mäusen wimmelte. Und die hätten das Gas wohl als Erste gerochen, wäre die Lei­tung denn tatsächlich leck gewesen – und vermutlich gab es in ihren Labyrinthen auch schon einen Notausgang für solche Ernstfälle. Clevere Bürschchen, die sie waren. Selbst wenn man es wild entschlossen mit der verfressenen Armee hätte aufnehmen wollen, wäre man chancenlos geblieben, da sich das Mekka und das Jerusalem der Nager im Keller befanden, dem mysteriösen Reich des Hans Groß und der idealen Brutstätte ihres auf Materialismus fixierten Daseins. Alles Käse? Försters Nachbar Schneider versuchte sein natürliches Glück als Fallensteller und gab beim Plausch im Treppenhaus regelmäßig den neuen Zwischenstand seiner Bemühungen durch.
»Heute wieder vier neue … Insgesamt vierunddreißig.« Er hielt eine Mülltüte in der Hand, aus der ein strenger Duft strömte.
»Bei mir war es bloß eine«, log Förster.
Zwar hatte er schon interessante Experimente durchgeführt – eine Maus, die seine Mülltonne durchstöberte, mit einem Tritt aufgescheucht, ihren Fluchtweg nach Sprung aus der Tonne im hohen Bogen studiert und den gewählten Aus­gang vor Wiederholung des Versuchs zugemauert, was zu Kopfschmerzen bei der Probandin ge­führt haben dürfte. Tödliche Fallen hatte er dafür gar keine aufgestellt. Das traute er sich dem ehrgeizigen Schwaben nicht zu verraten, al­so stockte auch Förster seine Bilanz täglich auf. Allerdings mussten nicht alle Posten der Auflistung gefälscht werden – zwei Mäuse hatten tatsächlich in Försters Wohnung den Löffel abgegeben. Eine hatte sich zum Sterben hinter seinen Gasofen gelegt, wo Förster sie fand, weil es, als er heizte, auf einmal verdächtig nach Verwesung roch. Als es einige Wochen später in der Küche ähnlich stank, wusste er sofort, was Sache war. Der Mief kam aus dem Spülschrank. Förster schwante nichts Gutes. Dort stand ein Eimer, weil das Abflussrohr ein kleines Loch hatte. Um das austretende Wasser zu sammeln, hatte Förster den Auffangbehälter absichtlich an dieser Stelle platziert. Hätte er mal besser das Rohr geflickt! Am Henkel war nämlich ein Band befestigt gewesen, wahrscheinlich weil man den Bottich mal aus einem Fenster daran heruntergelassen hatte. Die Kordel reichte vom Rand bis zum Boden. An dieser Leine musste die Maus als gute Kletterin in ihr Königsgrab gelangt sein. Und von dort aus gab es kein Zurück mehr. Die Arme. Vermutlich hatte ihr Todeskampf ewig gedauert. Wie oft mochte sie verzwei­felt gesprungen sein, bis sie buchstäblich für immer im Eimer war?
Wenn er das Dimitri Houdini erzählte!
Försters Bude war ein beliebter Treffpunkt – nicht nur für Mäuse. Die meisten seiner Freunde wohnten bei ihren Eltern und beneideten ihn um seine Unabhängigkeit. Bereits vorher hatte er nicht mehr bei seiner Mutter und ihrem Freund gelebt, sondern in deren Nähe ein Zimmer in einer möblierten Wohnung bezogen. Nach dem Abitur war er über den Rhein in diese größere – wenn auch sehr heruntergekommene – Zweizimmerwohnung umgesiedelt. Schon bald verstärkte die Autonomie vor allem seine Einsamkeit. Försters Freundin Beate hatte ihn unlängst verlassen, die Schule war für immer aus, und die Universität türmte sich vor ihm wie ein riesenhaftes Ungeheuer auf. Wenn er auch während seiner Schulzeit ernsthaft über einen möglichen Beruf nachgedacht hatte, so war ihm doch nichts Vernünftiges eingefallen. Und so ging es ihm noch immer. Lediglich eine diffuse Ahnung hatte er. Förster wollte irgendwas mit Schreiben machen. Doch in diesen Tagen kam es ihm vor, als wäre er bei voller Fahrt aus einem Zug gefallen. Er lag bis in die Puppen im Bett, schwänzte Seminare und Vorlesungen. Er war alles andere als glücklich mit der Wahl seines Magisterstudiengangs, Hauptfach Zombiewissenschaften. Er blieb unauffällig im Heer der Einzelkämpfer.
Zu Hause drehte er sich schon vor dem Frühstück den ersten Joint. Dann besorgte er sich im Supermarkt stets dieselbe Sorte der Fünf-Minuten-Terrine. Förster mochte die einfache Zubereitung und den künstlichen Geschmack der Astro­nautennahrung. Es dauerte nicht lange, da war er geradezu darauf konditioniert, nach der morgendlichen Haschtüte eine Portion Spaghetti Bo­lognese aus der Retorte zu vertilgen. Kurze Zeit später brauchte er schon zwei davon. Gesättigt saß er nach den Mahlzeiten am Küchentisch und schrieb seitenweise Blätter voll, die er jedoch im nüchternen Zustand sofort zerknüllte oder gar verbrannte. Das heißt, wenn er sie verbrannte, war er vermutlich schon wieder stoned.
Förster war nicht der Einzige, der die Karriere­leiter benutzte, um auf ihren Sprossen hinab in die Subkultur zu klettern – und nicht das einzige Drogenopfer der Gegend. Durch den Stadtteil streunte ein Obdachloser, den er Jesus von Holweide nannte. Der hatte wahrscheinlich Läuse, einen struppigen Bart, trug Lumpen und schlief auf einer aus Decken und Zeitungen gebastelten Matratze vor dem Pfarrhaus der Gemeinde. Angeblich ein Lehrer, der auf einem LSD-Trip hängen geblieben war.
Dimitri Houdini, ein guter Kumpel Försters, erzählte ihm, dass man dem Jesus von Holweide angeboten hatte, er könne ruhig drinnen übernachten. Er galt als friedfertig, tat keiner Men­schen­seele etwas zuleide und bettelte nicht einmal. Der Typ rannte einfach weltfremd im falschen Film herum. Jesus lehnte das Angebot ab. Er schlafe im Winter lieber vor dem Lüftungs­schacht des Pfarrhauses, denn dort komme heiße Luft raus.
Dimitri Houdini schaute beinahe täglich bei Förster rein. Er lebte gleich um die Ecke bei seinen Eltern, vor denen er ein ausschweifendes Dop­pelleben geheim zu halten hatte. Seine Erzeuger durften nicht mal ahnen, dass er als Asth­matiker Zigaretten rauchte, und noch viel weniger wissen, dass er dem Ganja-Konsum frönte, als wäre er zum Rastafarianismus konvertiert.

»Yo! Bum Rush the Show«, rappte Dimitri Hou­dini in der Küche mit, während er gewissen­haft an dem Joint bastelte.
»Giggedi-geile Platte, Mann. Seit wann haste die denn?«
Förster musste daran denken, wie Dimitri Houdini im Saturn beim Klauen erwischt worden war. Er hatte teure Platten in die Hüllen von Sonderangeboten geschoben, bis ein aufmerksamer Detektiv ihn auf frischer Tat ertappte. Die Elster aus Leidenschaft mit einer leichten Ten­denz zur Zwanghaftigkeit langte in die Hosentasche und warf noch etwas auf den Tisch: »Schau mal. Was hältste davon? Meinste, das könnte jemanden interessieren?«
Förster nahm das Ding in die Hand, um es zu begutachten. Der Schelm hatte aus einer Tetra-Pak-Apfelsaft-Verpackung ein Portemonnaie gefaltet und mit einem Knopf versehen, damit man es auf- und zumachen konnte. Deswegen also die Druckknöpfe!
»Abgefahren. Kannste mir auch so was basteln?«
»Kannste selbst. Brauchst nur zu falten. Ganz einfach.«
Schweißperlen tropften aus seinen blonden Locken. Houdini kümmerte sich um die Spitze des Joints, zwirbelte eine Lunte aus dem überstehenden Papier und zündete sie an. Als sie abgebrannt war, hielt er das Feuer an den Tabak und nahm einen tiefen ersten Zug. Sofort röteten sich seine Augen. Kurz bevor er ging, würde er sich diese kaschierenden Tropfen aus der Apo­theke reinträufeln, ohne die sein Leben nicht mehr denkbar war.
»Ich nenn sie Tetrapockets.«
Houdini reichte den Joint rüber, Förster holte zwei Fünf-Minuten-Terrinen aus dem Schrank, setzte Wasser auf – kochend goss er es in die Becher mit dem Trockenfutter. Mehr als Umrühren, fertig vermochte er nicht mehr zu denken: »Hey Dimitri, nachher kannst du von mir aus Hüte draus basteln«, flachste Förster. »Als Erweiterung des Tetrapocket-Konzepts.«
»Was ist denn das?« Houdini hatte auf dem Boden eine Zeitschrift entdeckt. »Die neue Spucke«, erklärte Förster mit vollem Mund.
»Und wer ist die Tante auf dem Cover? Sieht ja irre aus.«
»Kate Bjelland. Die Sängerin von Babes in Toy­land. Kann ich gleich mal auflegen. Die Platte wird dich umhauen.«
Aber der Erfinder war nicht interessiert.
»Haste keine Tempo hier?« Förster konnte nicht antworten. Dimitri Houdini rümpfte die Nase und schaute sich um – suchte offenbar nach einer Erklärung für etwas, das ihm, seiner Miene nach zu urteilen, übel aufstieß. Hmmm. Außer dem Haschischduft und dem Fabrikaroma der dampfenden Terrinen hatte er einen weiteren durchdringenden Geruch vernommen, der aus dem Wohnzimmer mit der warmen Luft des Ofens herüberzog.
»Ey, kann es sein, dass es hier stinkt, als hätte der Hund vom alten Groß auf den Teppich geschissen? Verdammt, reiß mal das Fenster auf!« Houdini lachte sein irres Kifferlachen, das dem Rivalen eines Superhelden würdig war. Förster schwieg. Und lächelte. Das Gras zeigte Wirkung. An Försters Himmel loderten Sonnen, von denen Dimitri Houdini nichts ahnte.
Und dann bekam er es wieder mit der Angst zu tun.

Im Kreml brannte noch Licht. Dort, wo die Gräben am tiefsten, die Nacht am teuersten, die Kehlen am trockensten, hielt Natascha die Stellung hinterm Tresen und polierte Gläser. Draußen stand der Mond am Himmel und schaute mit derselben zerfurchten Visage wie immer durchs Fenster. Weit nach Mitternacht sah er nicht mehr vie­le Gäste, die im Kreml abhingen. Der verbliebene Rest schien das Äquivalent der abgestandenen Pfütze eines bis auf den letzten Schluck geleerten Bierglases zu sein – traurige Tröpfe mit aufgequollenen Gesichtern und hängenden Köpfen. Noch vor zwei Stunden war der Laden rappelvoll gewesen, voller Stimmen, Gerüche, Körper – und Natascha spürte vor allem in den Unterarmen und in den Kniegelenken, wie sehr die Meute sie umhergescheucht hatte. Aber wenn die Bedienung der Gäste bloß alles wäre, was sie in dem Laden zu leisten hätte! Beinahe jede Schicht im Kreml brachte eine handfeste Auseinandersetzung auf der anderen Seite des Tresens mit sich. Politik, Frauen, Fußball oder ein ähnlich brisantes Thema konnte der Auslöser sein. Alkohol bildete die Diskussionsgrundlage. Es galt das Faustrecht. Entweder die Zivilisation blieb draußen, oder sie wurde hier auf den Punkt gebracht. Wer würde das so genau wissen wollen? Im Endeffekt liefen beide Varianten auf dieselben Unannehmlichkeiten hinaus.
Einer winkte sie heran: »Wie ist dein Name?«
»Natascha.«
»Und weiter?«
»Fionova. Natascha Fionova.«
Der Typ schaute verschwörerisch. Offenbar verwechselte er das mit verführerisch. »Der Herr der Ringe. Kennst du?«
Sie nickte. »Ja. Möchten Sie etwas trinken?«
Der nach herbem Duftwasser riechende Bock dirigierte sie noch näher zu sich: »Du erinnerst mich an die Hobbits … Ich stehe nicht so auf Mo­dels mit zwei Meter langen Beinen …« Als sie sich abwendete, röhrte er: »Machen wir es russisch-orthodox?«
Natascha schüttelte ihren hellroten Wuschelkopf. Und so was muss ich mir als Jüdin auch noch anhören! Die Welt war gesegnet mit Irren. Nicht wenige davon trieb es in den Kreml.
Heute war es einigermaßen friedlich geblieben, nur einmal sah es für einen Moment so aus, als würde es richtig Ärger geben. Der Rosenverkäufer, der jeden Abend vorbeischneite, ein Pakistaner oder Inder, war von einem betrunkenen Deutschen beschimpft worden. Er solle sich seine Scheißrosen sonstwohin stecken und auf dem Elefanten abhauen, auf dem er ins Land ge­ritten sei! Förster musste an seinen Job als Eisverkäufer im Müngersdorfer Stadion denken und daran, wie er mit dem vollen Bauchladen und den Taschen voller Kleingeld von einem Zombie bespuckt worden war. Eine besonders demütigende Lage, sich nicht wehren zu können, wenn man wie Abschaum behandelt wird.
Dieses elende Geschäft mit den Rosen! Eines Tages hatte er auf dem Kölner Ring beobachtet, wie ein BMW Cabrio anhielt, der Fahrer ausstieg, vier oder fünf gebündelte Rosensträuße aus dem Kofferraum holte und sie einem dunkelhäutigen Mann in die Arme schaufelte, der sie alleine bis zu einer Haustür tragen musste. Währenddessen redete der Typ aus dem Cabrio auf ihn ein. Das war sicher keine freundschaftliche Konversation gewesen. Sie verschwanden im Gebäude, wo zweifellos noch mehr Verkäufer auf ihre Ware warteten. Ein ganzes Nachtleben lang würden sie sich die Füße wund rennen und sich zum Gespött der versoffenen Kundschaft diverser Kneipen und Bars machen. Förster kippte den Wodka runter, den Natascha ihm gerade in einem gekühlten Glas vors Faden­kreuz gestellt hatte. Sein Kumpel Romy goss Wasser nach und schaute verunsichert drein. Der Gewaltausbruch nebenan befremdete ihn. Offensichtlich verstand der Rosenverkäufer im Kreml nicht besonders gut Deutsch. Und in seiner Not fiel ihm auch nichts Besseres ein, als den Deutschen, der ihn provoziert hatte, einen Scheißrussen zu nennen. Romy schluckte, Förster schwante: Das würde die Situation kaum besser machen. Die Entgleisung des Rosenverkäufers brachte einen russischen Kleiderschrank, der direkt daneben stand und von seiner Begleiterin mit beschwichtigenden »Ivan, Ivan«-Salven vom Kon­frontationskurs abgelenkt werden sollte, in Rage. Der Gigant, dessen Kreuz die Spannweite eines Albatros andeutete, rempelte den Rosenverkäufer an, riss dem Hänfling die Rosen aus der Hand und pflückte genüsslich bei jeder einzelnen Pflanze die Blüte ab. »Sag noch mal Deutscher zu mir, sag noch mal … !«
Welch ein Triumph! Der Gedemütigte schimpf­te, seine Stimme wurde lauter und heller, die Klage blieb jedoch unverständlich. Wäre er nicht zunehmend hysterischer geworden, seine Litanei immer markerschütternder – er hätte den Eindruck einer Karikatur gemacht. Ihm musste kein Blut aus der Nase tropfen, damit jedem klar wurde, wie schwer er getroffen worden war. Doch ein körperlicher Gegenangriff aus lauter Wut und Verzweiflung hätte mit Sicherheit ein entstelltes Gesicht zur Folge gehabt. Es leuchtete wohl allen Zeugen ein, dass er es nicht auf einen Faustkampf mit dem Kleiderschrank ankommen lassen konnte. Aber was, wenn in eben­diesem Moment sein Chef, vielleicht war es der BMW-Cabrio-Fahrer, zur Tür hereingekommen wäre? Auf wen hätte er sich gestürzt? Man durfte ihn sich nicht als kulanten Typ vorstellen, der den Ausfall durch die zerstörten Rosen selber aufbringen würde. Sollte man also die Polizei ru­fen? Besser nicht. Wahrscheinlich besaß der Rosenhänfling gar keine Aufenthaltsgenehmigung, geschweige denn eine Arbeitserlaubnis. Ivan schien es schnuppe, der Wodka hatte ihn gesellig gemacht. Er nahm seine Freundin in einen lieb gemeinten Würgegriff und stimmte nach der Vernichtung der letzten Rose ein Lied an. Karl, der alles genau beobachtete, knöpfte sich lieber den Deutschen vor, den er schon auf dem Kieker gehabt hatte, als er sich an der Theke wie ein Schwein benahm. Er hätte ihm nur zu gerne die Fresse poliert. Aber dann musste er auf Toilette und vergaß es, weil es sinnlos war.
Das Vergessen hatte Sogwirkung. Romy, Karl und Förster starrten Stunden später alle drei mit glasigen Augen ins Nichts. Die Ebbe zur frühen Morgenstunde hatte den Ärger endgültig weggeschwemmt. Natascha wischte die Theke, redete mit einem letzten Gast, der sich gerade noch hereingeschlichen hatte und wie durch ein Wunder auf einem der Barhocker sitzen blieb.
Mit einer Mischung aus Zuneigung, Genervtheit und Kummer beobachtete sie aus dem Augenwinkel die drei Jungs in der dunklen Ecke, auf deren Deckel heute kein Platz mehr zum Tanzen war – und deren Alkoholspiegel das tiefe Tal der Alltagssorgen geflutet hatte. Waren sie immer noch damit beschäftigt, die Gesellschaft am Stammtisch zu verbessern? Stritten sie sich über verschiedene Wege zur Revolution? Diskutierten sie über die richtigen und falschen Platten und Filme? Beratschlagten sie, welche Hollywood-Tussi den geilsten Arsch hatte? Protzte noch jeder im Schatten seiner milieu­spe­zifischen Nische mit all dem gefährlichen Halbwissen und all dem geballten Assoziationsvermögen, das in die paar Sätze passte, mit denen die vorangegangene Behauptung widerlegt werden musste, um denjenigen, der sie aufgestellt hatte, in seine Schranken zu weisen? Nee, es war merklich ruhiger geworden.
Romy checkte sein Handy – wem in Teufels Namen schrieb er jetzt eine SMS? Karl kauerte apa­thisch zwischen Stuhl und Tisch und wackelte mit dem Kopf wie ein hospitalistischer Ele­fant im Zoo. Förster trocknete den Schaum vor seinem Mund, indem er einfach mal die Klappe hielt. Das war gut so. Natascha mochte es nicht, wenn Förster sich in Rage redete und die Übersicht verlor. Oder wenn Romy durch Begriffstransfers zwischen Street und Akademie provokante Augenblicksdiagnosen erstellte bzw. gar ein Lebensmotto entwarf, das so weit vom Prag­matismus entfernt war wie ein Auto ohne Räder. Natascha wünschte sich manchmal, die Jungs würden Bomben basteln, statt zu schwafeln. Doch bevor sie mit Dynamit die Welt verbesserten, sollten sie eine Bank ausrauben. Und wenn sie immer noch eine eigene Zeitschrift aus der Taufe heben wollten – sie war aus dem Projekt Seifenblase ausgestiegen –, warum beschäftigten sie sich nicht mit den praktischen Problemen statt mit dem theoretischen Fundament? Natascha fand es wichtig, diesen Missstand anzuprangern. Im Grunde hätte sie gerne mit den Jungs einen Staat gemacht. Indes konnte sie nicht begreifen, wie man die Gedanken derart verschwenden konnte. Sie wollte was davon haben. Und wenn sie an Förster dachte! Wie jung er aussah, wenn er im Kreml eintrudelte. Aber die Arbeit machte ihn langsam zum Monster.
Zombie! Behauptete Förster zumindest.
Natascha, deren Eltern mit ihr im Gepäck aus Taschkent, Usbekistan eingewandert waren, als sie noch grün hinter den Ohren war, studierte Medienhysterie im Kompaktseminar. Ihr Ziel war ein Volontariat beim WDR, dem großen Rund­funkhaus der Stadt. Natürlich stand sie mit diesem Vorhaben nicht alleine da. Es gab viele junge ehrgeizige Leute mit allen möglichen Talenten, die in die Medien strebten, Kunst machen oder einfach nur nicht klassisch arbeiten woll­ten. Förster hatte in der Redaktion der Spucke angeheuert, und das ohne Studium! Lange Jahre hatte er nicht mal ein Ziel gefasst, wusste Natascha. Was hatte er bloß für Glück gehabt! Dennoch waren seine Beschwerden für sie ein bisschen verständlich, wenn sie sich Mühe gab, die ewigen Klagen nachzuvollziehen. Förster trug Verantwortung für seine Tochter Nele, verdiente nicht viel Kohle und empfand den Mythos der Spucke, der ihn seine Freizeit vergessen ließ, als schwere Last.
Einmal hatte er in sein Bier gejammert: »Jeder Tag ist eine einzige Überforderung. Warum mache ich den Scheiß? Ich will raus aus dem Jedermann-Anzug!« Armes Würstchen!
Ne daj sebja naebat’!, dachte Natascha.
Für die Mitarbeiter der Spucke lief momentan keine einfache Phase, wusste Natascha und rekapitulierte, was man über das Magazin erzählte. Vor geraumer Zeit war das zwei Jahrzehnte lang von Künstlertypen herausgegebene Blatt, in dem Popkultur von revolutionärem Interesse war, an einen Wiener Fleischfabrikanten namens Feiersinger verkauft worden. Der wollte sich einen Namen im Kultursponsoring machen, so war zu vermuten, um seine Wurstwaren aufzumotzen. Zuerst hatte er ein paar eigene Maga­zine produziert. Nach deren Erfolg kam der Ausverkauf bei Spucke gerade recht. In den eingeweih­ten Kreisen hielt man das Schauspiel wahlweise für absurdes Theater, einen schlechten Scherz oder den Untergang des Abendlandes.
Demnächst sollte durch einen Umzug nach Wien, in die Zentrale von Feiersingers Imperium, die Kölner Redaktion rasiert werden. Daniel, Fred, Jan, Bruno und die anderen waren machtlos.
Natascha sah es so, dass Spucke ein Projekt gegen den Strich gewesen war. Ein Heft, wo sich anfangs Individualisten aus der Szene der Bildenden Kunst mitsamt anderen Außenseitern zusammenrauften, um mit Hilfe neuer Schreibweisen über alte Themen die eigene Gegenwart im Hier und Jetzt zu demonstrieren. Wir machen was und wissen es besser. Oder auch: Wir wissen, dass wir es besser machen. Punk war eine wichtige Inspiration. Das Konzept des subjektiven New Journalism spielte eine Rolle, Hunter S. Thompson und seine Schule des Gonzo-Journalismus, wo der Autor sich als Mittelpunkt seiner Story inszeniert. Nachfolgende Generationen waren von den Autoren des Magazins, die zu Helden eines Mikrokosmos wurden, schwer beeindruckt und ließen sich beeinflussen.
Woher sie das wusste? Für Natascha war das Heft ein wichtiger Bezugspunkt gewesen, als sie in Deutschland ankam und die Sprache zunächst nicht verstand, wie sie dem verblüfften Förster erklärt hatte. Spucke wurde zur Schulzeit regelmäßige Lektüre. Sie erinnerte sich an die erste Schulstunde im Kunstunterricht. Der Lehrer, augenscheinlich ein ziemlich irrer Typ, redete auf sie ein. Sie verstand ein paar Brocken, kannte auch den letzten Ausspruch, den er ihr als Frage an den Kopf warf. Es war die Pointe eines Witzes, den ihre Großmutter oft zum Besten gab. Er handelte von einem Usbeken, der auf einen taubstummen Ukrainer trifft und ihn nach dem Weg fragt. Trotz mangelnder Englisch­kenntnisse ringt der Usbeke sich nach dem Durchprobieren von einem Dutzend Sprachen und Dialekten zur selben Frage wie Nataschas Lehrer durch: Do you speak english? Nein, Natascha sprach kein Englisch, genauso wenig wie der taubstumme Ukrainer in diesem Witz. Doch im Gegensatz zu ihm hatte sie alle Möglichkeiten und begann das Deutschwelsch der Medien in sich aufzusaugen, bis es Sinn ergab. Dieses secondary life war die eigentliche neue Welt, in die sie eintauchte. Mit affigen Teutonen und ihren seltsamen Sitten war zu rechnen gewesen. Doch dieses künstliche Universum übertraf Nataschas Erwartungen. Schnell wurde ihr klar, dass die Zukunft nur dort liegen konnte, sonst hätte sie gleich wieder umkehren können. Später fand Natascha heraus, dass sie in der Oberstufe auf dieselbe Schule gegangen war wie Förster. Also hatte sie auf genau dem Schulhof Spucke gelesen, auf dem Förster das Magazin Jahre zuvor mit Bobby Belmondo entdeckt hatte. Belmondo und Förster waren so gebannt gewesen, als wären sie auf heilige Schriftrollen gestoßen. Nur Dimitri Houdini wollte lieber Prinz oder Tempo lesen.
Es gab durchaus einiges an Spucke auszusetzen. Die für Außenstehende eher verworrene Ausdrucksweise, die Eitelkeit der Kritik, die ungewohnte Perspektive brachte eine Menge Feinde in Stellung. Was sie an Spucke benörgelten, gehör­te für Bobby Belmondo, Förster oder auch Natascha zum guten Ton. Dass man Schallplatten und Comics so ernsthaft untersuchen konnte, wie ein Profikiller seinem Beruf nachgeht, erschien ihnen als Offenbarung. Weder nahm Natascha die Begeisterung für Konsumgüter auf die leichte Schulter, noch fand sie es erstaunlich, auf die Erzählungen Eingeborener zu treffen, die offenbar von ihnen großgezogen worden wa­ren. Natürlich grassierte Realitätsverlust in der Spucke, und Natascha stellte fest, dass es Idioten gab, die Geschmack an ihr gefunden hatten. Aber solange sich ein paar der richtigen Leute angesprochen fühlten, ergab der Austausch innerhalb des Mikrokosmos Sinn. So dachte auch Förster, als er über die Shotaro Connection und Lisa Graf beim Verein gelandet war. Bis ihm Karl Schreiner eines Tages, die Ellenbogen auf der Kreml-Theke, ins Gewissen redete, während die beiden Wodkas kippten.
»Du bist nicht versichert, arbeitest 24 Stunden am Tag für einen Hungerlohn, hast dich einer Marke verschrieben, der Spucke, die sich Feiersinger leistet, um auf Partys als Herausgeber einer Zeitschrift glänzen zu können – und nicht bloß wegen seiner Leberwurst. Und dann erzählst du mir noch, dass du eine erfolgreiche Po­litik am Werk siehst, wenn du mit ein paar Leu­ten gut auskommst und so kooperierst, dass schöne Texte entstehen. Aber so läuft der Hase nicht. Der läuft nämlich der Karotte nach!«
»Welche Karotte meinst du?«
»Das Erfolgsversprechen. Wofür die ganze Scheiße sich lohnt. Schau mal, versuchst du nicht einfach, besser zu sein als andere, und hecheln da nicht schon Praktikanten hinter dir her, die deine Stelle gerne übernehmen, sobald du schlappmachst? Sie werden sie zu den Bedingungen – dem Tempo, verstehst du, dem Honorar, um mal Klartext zu sprechen – übernehmen müssen, die deine Leidensbereitschaft diktiert. Weil euer Heft von außen betrachtet durch seinen Look so glamourös ausschaut, dass immer neue Freiwillige angelockt werden wie die Mücken vom Licht. Ihr solltet euch zusammenschlie­ßen und gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, solltet aufs Dach steigen und die Arbeit verweigern – so wie woanders auch für bessere Arbeitsbedingungen gekämpft wird. Damit wäre etwas gewonnen, nicht durch ein paar schöne Formulierungen zu dieser oder jener Platte, diesem oder jenem Buch, dem oder dem Film, Solidarität, verstehst’, Solidarität und kein Geschwätz … Solidarität!«
Förster verstand, wollte es aber so nicht hinnehmen und rechtfertigte sich über die Idee eines Netzwerks, dessen Aufbau an einem Ort wie der Spucke-Redaktion vermittelnd, quasi sub­versiv vorangetrieben werden könne. Außerdem brächten ihm der Job und das soziale Kapital womöglich Vorteile für die Zukunft.
»Denk an die Shotaro Connection … «
»Ach was. Das ist doch bloß Glückssache. Du glaubst dem Erfolgsversprechen.«
»Diese Glückssache nennt man auch Erfahrung!«
»Du bist Teil des Problems«, legte Karl ungerührt nach, »nicht Teil der Lösung.« »Entweder Schwein oder Mensch. Entweder Überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod. Entweder Problem oder Lösung. Dazwischen gibt es nichts«, rezitierte Förster alte Stadtguerilla-Weis­heit. Darüber hatte er letztens viel gelesen!
»Sag ich doch. Und du versuchst, es dir im Dazwischen bequem zu machen. So bequem, wie es nun mal geht.«
Karl zündete sich die hundertste Ernte 23 der Nacht an.
»Wir können in Spucke die Uhren öffentlich vergleichen … ein paar der Autoren ticken schon richtig …«
»Du kannst dir doch nicht mal eine Uhr leisten!«
»Karl, ich sehe das so: Es gibt zu wenige Typen wie dich, die ihre steilen Thesen in der Spucke veröffentlichen. Aber ich bin der Erste, der sagt: Schreib das auf, Mensch! Ich verstehe dich ja, aber warum diskutieren wir das eigentlich nicht in der Spucke, die doch angeblich so auf den Hund gekommen ist?! Immerhin wird das Heft jetzt von mehr Leuten gelesen als früher, wo die Welt noch in Ordnung war. Wir sollten die Spucke nicht aufgeben. Nachher können wir immer noch was Eigenes auf die Beine stellen, wenn Feiersinger uns einen Tritt in den Arsch verpasst.«
»So, was denn?«
»Na, wie wär’s mit einer eigenen Zeitschrift?« Das fand Förster nun selber komisch. Und Karl lachte auch, zeigte der Welt die seinen scharfen Verstand andeutenden Vampirzähne: »Klingt nach einer schönen Seifenblase.«
Natascha war nicht nach Lachen zumute. Den ganzen Abend lang hatten am Tresen lauter kaputte Gestalten gesessen. Zwar waren sie verschieden, aus ihrem jeweiligen Holz geschnitzt, aus diversen Wolken gefallen, über unterschiedliche Meere getrieben, auf eigenen Wegen an Ort und Stelle angelangt. Doch hockten fast alle deprimiert über ihren Gläsern, mit dem Rücken zu den Fenstern, durch die das Licht in den Raum fiel – und dachten weder an Nataschas Knie- noch an ihre Rückenschmerzen.
Natascha erinnerte das Szenario an Platons Höhlengleichnis, wo die Menschen zeitlebens festgebunden auf die Schatten starren, die von Gegenständen zwischen der Sonne und ihren Rücken an die Wand vor ihnen geworfen werden. So nehmen sie die Welt wahr und werden böse, sobald jemand zur Erkenntnis, also zur Sonne hinaufsteigt und sich anschließend dazu herablässt, ihnen die Wahrheit zu stecken. Natascha war beim Licht gewesen. Sie wollte im Gegensatz zu den anderen nicht hier sein, genauso we­nig wie sie noch in Taschkent hätte sein mögen, nördlich der großen Seidenstraße. Doch sie hielt den Mund und ließ sich nichts anmerken, interpretierte mit der Kundschaft das Spiel der Schat­ten an der Wand, die Umrisse der verkehrten Welt. Ein kalkuliertes Missverständnis. Irgendwann würde sie das nicht mehr nötig haben, diese Verstellung und Verlogenheit. Aber es hieß: Prioritäten setzen. Müde stellte sie vier eiskalte Gläser in einer Reihe auf ein Tablett, holte den besten Wodka aus dem Kühlschrank, Russian Standard, schenkte in einem Schwung ein, fast ohne einen Tropfen zu vergeuden, trug das Tablett hinüber zum Tisch in der dunklen Ecke, wo Förster, Karl und Romy wortlos saßen. Sie selbst wirkte abwesend und anwesend zugleich. Ihre Augendeckel flatterten wie zwei Kolibris, als sie ihr Glas erhob, um mit den anderen anzustoßen. »Letzte Runde, Jungs.«
Es sitzt schon der Abend auf unserem Haus.
Im Stillen zählte sie die Mäuse, die sie verdient hatte.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Wolfgang Frömberg: Spucke. Verlag Hablizel, Lohmar 2009. 223 Seiten, 14,90 Euro. Der Roman ist soeben erschienen.