Über die Busker-Szene in London

Last Underground

Vom Popbusiness werden sie verachtet, von den Passanten ignoriert. Dennoch spielen die Busker in Londons U-Bahnhöfen ihre Songs und hoffen auf eine Karriere im Mutterland des Pop.

Es ist später Samstagabend, und allmählich verlassen die Leute die Pubs und Bars im Londoner West End und steuern die U-Bahnstation am Leicester Square an. Schon auf der Rolltreppe hört man eine E-Gitarre kreischen. Viele Londoner sind an den U-Bahn-Pop der Busker gewöhnt. Die Musiker in den Gängen der Tube gehören zur Stadt wie der Big Ben und der Tower of London. Doch einen Busker wie Benjamin Teacher hat noch keiner gesehen. Benjamin spielt die E-Gitarre, obwohl ihm eine Hand fehlt, und das genauso professionell wie jeder andere Gitarrist. Die Leute stehen mit Pfundstücken bewaffnet vor Benjamins Gitarrentasche Schlange, um ihm ein paar Münzen zuzuwerfen. Schnell wechselt der Musiker zu Michael Jacksons »Billy Jean« über. Ein Mann im Anzug pfeift dazu, Teenager singen mit, Touristen machen Fotos. Unter den Buskern, also den Straßenkünstlern, ist Benjamin ein Popstar.
Viele Musiker in London träumen von so viel Aufmerksamkeit. Gitarristen, Sänger und Keyboarder kommen aus aller Welt, um in Großbritannien zu spielen. Manch einer träumt davon, im Mutterland des Pop eine richtige Karriere zu starten; andere wollen nur ihren Spaß haben und ein bisschen was verdienen. Die Chance, in London entdeckt zu werden, scheint größer als in anderen Städten, schließlich wimmelt es hier von Talentscouts und Produzenten. Und manchmal wird das Pop-Märchen auch Wirklichkeit: Rod Stewart hörte Amy Belle auf den Straßen Glasgows. Kurze Zeit später sangen beide zusammen in der ausverkauften Royal Albert Hall in London. Viele berühmte Musiker begannen ihre Karriere auf der Straße. Eric Clapton war in den sechziger Jahren Straßenmusikant, Simon & Garfunkel reisten nach London, um auf dem Leicester Square zu spielen. Auch Lene Lovich, Protagonist der New-Wave-Szene der Siebziger und Achtziger, trällerte schon in den Gängen der Londoner U-Bahn, und Gerry Rafferty, bekannt durch den Song »Baker Street«, verdiente sein erstes Geld mit der Musik, die er in der gleichnamigen U-Bahnstation spielte.
Für Breno Val ist eine Karriere vorerst nicht in Sicht. Er sitzt in einem Gang am Leicester Square auf seinem Verstärker und scheint nur für sich zu spielen. Drei einsame Münzen liegen vor ihm. Die Passanten würdigen ihn keines Blickes. Dann ruft ihm jemand im Vorbeigehen »Stairway to Heaven« zu, und Breno spielt den Led-Zeppelin-Klassiker auch prompt, bekommt aber trotzdem kein Geld.
»Die Musik macht den Aufenthalt im Untergrund für unsere Kunden interessanter und lebendiger«, meint John Ball, zuständig für die Entwicklung von Serviceangeboten in der Londoner U-Bahn. Im Jahr 2003 wurde das Busking Scheme ins Leben gerufen, ein Projekt, das das Musizieren in den U-Bahnhöfen legalisierte. Rund 250 Busker erhielten eine Lizenz und dürfen in den Stationen der Tube spielen. Vorher mussten sie vor eine Jury treten und vorspielen. »Let the music transport you«, lautet der Slogan des Busking Scheme.
»Die Busker in den U-Bahnhöfen sind klasse«, sagt Leanne Rice, die täglich mit der U-Bahn zur Arbeit fährt. »Gerade nach Feierabend ist die Musik so beruhigend, viele Musiker sind richtig gut und keiner scheint jemals schlechte Laune zu haben. Auch wenn sie seit Stunden am selben Platz spielen und niemand ihnen etwas zu geben scheint.«
Viele Straßenmusiker leben von ihren Einnahmen. Rund vier Millionen Menschen benutzen täglich die U-Bahn; solch ein Massenpublikum will jeder haben. Aber das Busking-Projekt hat bereits so viele Musiker aufgenommen, dass in absehbarer Zeit keine weiteren Lizenzen ausgegeben werden. Kritiker des Projekts stören sich an der Reglementierung der Streetart-Szene und sind gegen das Lizenzverfahren, das nur neue Ausschlüsse produziere.
Außen vor blieb beispielsweise Fabio Morellato. Auch er lebt von der Straßenmusik und hat schon in Italien, Spanien und den USA gespielt. Vor einem halben Jahr zog der Italiener nach London, er hatte gehört, dass man als Straßenmusiker in London ganz gut über die Runden kommt. Dass das Busking-Projekt ausgebucht ist, wusste er nicht. Nun spielt Fabio auf dem Gehweg der Oxford Street, Londons bekanntester Einkaufsstraße. Ein kleiner Junge baut sich vor Fabio auf und starrt ihn an. Der Italiener singt Blues-Songs, einige Passanten mögen seine Sachen und werfen ihm Münzen zu. Im Gitarrenkoffer liegen CDs, ein Schild sagt: »CDs only 10 pounds«. An guten Tagen verkauft er sechs Stück. Heute nicht. Eine Frau ruft die Polizei. Nach zwei Liedern bricht Fabio ab und packt zusammen. »Es ist toll, in London zu spielen. Am liebsten stehe ich auf dem Piccadilly Circus, in Chinatown und auf der Oxford Street«, so Fabio. »Was aber nervt, ist, dass man ständig vor der Polizei weglaufen muss.«
»Wir können nicht jedem Musiker erlauben, die Gehwege einzunehmen«, kommentiert der Pressesprecher des Stadtrates von Westminsterdie Räumungen. Oft spricht die Polizei nur Verwarnungen und Platzverweise aus. Weigert sich der Straßenmusiker zu gehen, kann der Stadtrat Instrumente und Equipment einziehen lassen.
Nur in Covent Garden ist Straßenmusik erlaubt. Der Markt im Herzen von London ist bekannt für seine Street Performer. Komiker, Artisten und Musiker treten täglich vor Massen von Touristen auf. Auch hierfür brauchen die Künstler eine Genehmigung. Ausgenommen davon sind Opernsänger.
Paul Potts war mal einer von ihnen. Der britische Tenor gewann die Castingshow »Britain’s Got Talent« und wurde durch einen Spot der deutschen Telekom auch hierzulande bekannt. Bevor er das Fernsehpublikum mit seinem Vortrag begeisterte, stand auch er mit einem Kassettenrekorder auf dem Covent Garden Market und schmetterte seine Arien vor Touristen.
Pop- und Rocksänger dürfen nur außerhalb des Marktes spielen, dazu brauchen sie keine Genehmigung. Der erfahrene Straßenmusiker Julian Davies hat es ausprobiert. »Unter den Covent-Garden-Musikern besteht ein riesiger Konkurrenzkampf«, erzählt er. »Man muss früh um 9 Uhr aufschlagen und sich anstellen. Jeder bekommt eine Stunde. Manchmal wartest du einen halben Tag und hörst andere Künstler all die Lieder spielen, die du singen wolltest.«
Das fand Julian zu stressig. Seit fünf Jahren hat er nicht mehr in Covent Garden gespielt. Stattdessen suchte er sich einen anderen Ort, die South Bank, vor dem an der Themse gelegenen Museum Tate Modern. Auch dort ist Straßenmusik nicht erlaubt, allerdings verirrten sich zunächst nur wenige Musiker dorthin, so dass man auf die Duldung der Polizei zählen konnte. Doch die Konkurrenz schlief nicht, bald kamen immer mehr Künstler, um dort zu singen, und irgendwann kam auch die Polizei.
»Es wird immer schwieriger, dort zu spielen. Jedes Mal, wenn ich vor dem Tate Modern spiele, kommt nach einer halben Stunde die Polizei«, so Julian. »Das ist lächerlich. Die Polizei verbringt mehr Zeit damit, Musiker zu verjagen, als Verbrecher aufzuspüren. Könnte die Öffentlichkeit entscheiden, dann wäre Straßenmusik schon längst legal.«
Die amerikanische Folk-Sängerin Spring gab irgendwann auf. Sie spielte 2006 fast täglich vor dem Museum in London. Sie sagt: »London ist ein toller Ort für Straßenmusik. Du triffst Leute aus der ganzen Welt, und du hast die Chance, eine riesige Fangemeinde aufzubauen.« Aber die Polizeikontrollen wurden ihr zu viel. Jetzt versucht Spring ihr Glück wieder auf Straßenfestivals in Italien.
Auch Fabio hatte in London alsbald seine Standortprobleme. »Mit der Polizei kann ich leben«, meint er, »aber die Kälte bin ich nicht gewohnt.« Den Winter verbringt er lieber in Venedig.
Julian wäre am liebsten mitgekommen. Er hat 30 Jahre lang in ganz Europa und Amerika gespielt. Am besten hat es ihm in Italien gefallen. »Dort wird man wie ein Superstar behandelt«, so der 46jährige. Er glaubt nicht, dass die Menschen in Großbritannien positiver auf Straßenmusik reagieren als in anderen Ländern. Im Gegenteil: »Engländer sind in der Hinsicht sehr negativ. Mit der Zeit ist es ein wenig besser geworden. Noch vor ein paar Jahren wurde man hier als Bettler beschimpft. Das ist Gott sei Dank vorbei. Jetzt sind die Briten nur noch unbeeindruckt.«
Unbeeindruckt ist auch das Musikbusiness. Pop-Songwriter Dean Muscat nennt Busker in der U-Bahn »gescheiterte Musiker«, die keine Konzerte abbekommen. Katie Thiebaud, Geschäftsführerin des Plattenlabels Faculty Music Media, sagt: »Solange die Musiker nicht ihr eigenes Repertoire spielen, haben sie keine Chance, entdeckt zu werden.« Aber mit eigenen Liedern lässt sich auf der Straße kein Geld verdienen.
Benjamin hofft weiterhin, irgendwann entdeckt zu werden. Vielleicht wird dieser Traum bald wahr. Die britische Boulevardpresse hat sich schon auf den gehandicapten Gitarristen gestürzt. Vor kurzem durfte er für die neue Staffel von »Britain’s Got Talent« vorspielen. Vielleicht sieht man Benjamin bald in der Telekom-Werbung.