Völlig losgelöst, völlig gaga

Berlin Beatet Bestes. Folge 27. Der erste Mensch im Kosmos. Reportage über den Weltraumflug Gagarins.

Flexible Schallplatten und Postkarten wurden im Ostblock insbesondere von der Budapester Schallplattenfabrik Colorvox und von der staatlichen russischen Firma Melodija produziert. Diese Postkarten konnte man auf der Rückseite beschriften, dann verschickte man sie, und der Empfänger konnte nicht nur etwas lesen, sondern auch noch ein Stück abspielen. Schade, dass es so etwas heute nicht mehr gibt. Ich würde gern eine Postkarte mit einem Lady-Gaga-Song verschicken. Leider schloss die weltweit letzte Fabrik, die noch Flexis herstellte, bereits Ende der neunziger Jahre. Einer E-Mail ein MP3 anzuhängen, ist irgendwie nicht dasselbe. MP3s wabbeln nicht so schön.
Eine besonders hübsche Tonpostkarte berichtet von der triumphalen Heldentat des Major Juri Alexejewitsch Gagarin. Gagarin, geboren am 9. März 1934, verstorben am 27. März 1968, war der erste Mensch, der im all die Erde umrundete, und zwar geschah dies am 12. April 1961.
Nach dem Sputnik-Schock war dies ein weiterer Erfolg der UdSSR im Wettstreit mit den USA. Der Komsomolze und Genosse Gagarin war fortan im Ostblock ein Idol. Und so enthält die Reportage dann auch viele blumige Propaganda­floskeln und natürlich eine Menge technischer Details. Man höre und staune:
Sechs Raketentriebwerke mit einer Schubkraft von zusammen zwanzig Millionen PS, der Leistung von fünfhunderttausend Personenkraftwagen, trugen die gigantische mehrstufige Rakete mit jener Kapsel ins All, in der Gagarin saß. (…) Gagarin befindet sich wohlauf. Er ist überwältigt vom Anblick der Sterne und der gleißenden Farben im Weltraum. Hundert-acht Minuten lang waren die größten Sternwarten und Radioteleskope der Welt wissenschaftliche Zeugen dieses bahnbrechenden Experiments. Diese hundertacht Minuten zwangen das kapitalistische Lager ein weiteres Mal zum Umdenken. Der Kalte Krieg ist sinnlos. (…) Wenig später ist Gagarin Mittelpunkt eines triumphalen Festes der jungen Generation des 20. Jahrhunderts. Ein Stahlgießer, ein bewährter Pilot, ein junger Kommunist, einer aus unserer Generation, die Zeuge dieses denkwürdigen Augenblicks war.
Die Reportage klingt aus mit einer musikalischen Hymne an Gagarin, im Stile Ernst Buschs:
Ja, das ist doch ’ne Wolke/Da ist doch alles dran/Da muss man doch den Hut zieh’n,/ Gagarin heißt der Mann.
Sozialistische Propagandapostkarten erschienen in vielen Sprachen und sogar auf Englisch. Aber wen würden heutige Propagandapostkarten ehren? Wer sind denn die Helden unserer Zeit? Blickt man auf das Jahr 2009 zurück, dann fallen mir sofort Michael Jackson und Guido Westerwelle ein. Westerwelle: vom von Akne befallenen Streber zum Außenminister eines großen Landes. Die Flexi könnte gelb sein, und darauf wäre Guido zu hören, wie er immer wieder sagt: »Den Mittelstand stärken.« Und: »Der Bürger braucht mehr Netto vom Brutto.«
Oder doch lieber Michael? »I love you! I love you! I love you!« Oder Guttenberg: »Mir hat niemand was gesagt! Aber by the way – es ist Krieg! Es ist Krieg! Es ist Krieg!« Oder vielleicht ein trauriges Abschiedslied der 100-Watt-Glühbirne. »Edison, Edison, das ist nun dein Lohn. Ewig brannte ich euch hell und heiß – jetzt gibt es nur noch diesen Leuchtstoffscheiß.«