Am Krisenherd

Der Enthusiasmus, mit dem der Mann mit der eckigen Brille gegen sieben Uhr morgens seine Livereportage für das ARD-Morgenmagazin beginnt, spricht dafür, dass er sein ganzes Leben davon geträumt hat, als Reporter von den Krisenherden dieser Welt zu berichten. Gut, der Krisenherd, von dem er berichtet, liegt blöderweise nur auf Rügen, genauer in der dortigen Ortschaft Altedingens, aber immerhin gibt es von dort Sensationelles zu berichten. Es hat geschneit! Und nicht nur das. Der Schnee wird auch weggeräumt, wie der Reporter mit einer Begeisterung berichtet, die man sonst nur von Journalisten kennt, die sich mitten in einem Bürgerkrieg befinden.
Der Mann mit der Brille erklärt die Fakten: Schnee. Nicht gut für den Verkehr. Muss deswegen weg. Aufgabe für erfahrene Spezialisten. So ein ganz kleines bisschen öde ist das alles schon. Deswegen: Auftritt der Prominenz. Der Mann mit der Brille fragt das, was Reporter immer fragen, wenn es um menschliche Schicksale in Katastrophenzeiten geht: Wie steht es mit der Solidarität? Dochdoch, die sei vorhanden, sagt der Bürgermeister, »die Nachbarorte und die Agrargenossenschaft helfen«.
Das ist nun ein bisschen dünne. Die menschliche Komponente fehlt, Berichte von jahrzehntelang verfeindeten Nachbarn, die plötzlich aufeinander zugehen und sich mit Nahrungsmitteln aushelfen, von modernen Romeos und Julias, die trotz Schneewehen zueinanderfinden, von jungen Menschen, die selbstlos ihre Mäntel teilen, um die Oma von nebenan zu wärmen, und überhaupt. »Hilft man sich da gegenseitig?« insistiert der Mann mit der Brille deswegen erwartungsvoll. »Ja, auf alle Fälle. Wir unterstützen die Bürger auch beim Schneeräumen«, antwortet der Bürgermeister. Der Mann mit der Brille hat genug und gibt zurück ins Studio. Dann halt beim nächsten Mal, irgendwo schneit es ja zum Glück immer.