Das Urteil im Jeton-Prozess

Der unpolitische Stampfkick

Ein junger Mann wurde im Juli 2009 am S-Bahnhof Frankfurter Allee im Berliner Bezirk Friedrichshain beinahe totgetreten. Vier Neonazis wurden für diese Tat angeklagt, nur einer von ihnen erhielt eine Haft­strafe ohne Bewährung.

Kopfschütteln und Augenrollen, diese Reaktion zeigten nicht nur Angehörige der Angeklagten, sondern auch zwei Justizbeamte am Donnerstag voriger Woche im Berliner Landgericht. Ole Weidmann, der Anwalt der Nebenklage, hielt sein Plädoyer zum Abschluss des Prozesses und erklärte, dass man sich zu etwas bekennen und eine politische Haltung ausdrücken möchte, wenn man Kleidung der Modemarke Thor Steinar trägt, die in der rechten Szene sehr beliebt ist.
Die Staatsanwaltschaft und das Gericht unter dem Vorsitzende Richter Kay-Thomas Diekmann waren an den vergangenen Verhandlungstagen zu einer anderen Einschätzung gekommen, sie gingen davon aus, dass der Angriff auf das Leben von Jonas K. nicht in erster Linie als politisch motiviert einzuordnen sei.

Auf beschlagnahmten Bildern, die als Beweismittel im Prozess zugelassen waren, ist der Angeklagte Marcel B. zu sehen, kurz vor der Tat zeigte er in der Friedrichshainer Diskothek Jeton den Hitlergruß. Der Anwalt von Jonas K. wies darauf hin, dass zumindest zwei der Angeklagten, näm­lich B. und Michael L., schon früher durch Ge­walt­taten gegenüber politischen Gegnern und die Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole auf­gefallen waren. Dem Richter reichte das nicht aus, um daraus eine politische Motivation für den Angriff abzuleiten. Damit folgte er den Ausführungen des Staatsanwalts Jörg Wetzel, der eine po­litische Motivation für den Angriff ebenfalls nicht bejahte mit dem Hinweis, bei dem Vorfall im Juli vergangenen Jahres sei es »nicht um links oder rechts, schwarz oder weiß, braun oder gelb« gegangen.
Zum Auftakt des Prozesses hatte das noch anders ausgesehen. In der Anklageschrift, die von der Staatsanwaltschaft vorgelesen wurde, ging man von einem Mordversuch »aus Gründen der Machtdemonstration gegen einen politischen Gegner« aus. Während der Beweisaufnahme erhärtete sich für das Gericht und die Staatsanwaltschaft der Verdacht, dass es zwischen einem vorangegangenen Angriff einer Gruppe Linker auf die vier angeklagten Neonazis und dem Angriff der Angeklagten auf Jonas K. keine zeitliche Zäsur gegeben habe. Die Linken hätten sich durch L.s Thor-Steinar-Jacke provoziert gefühlt. Juristisch bedeutet diese Feststellung, dass sich die Tat im unmittelbaren Anschluss an eine Notwehrsituation ereignete. Es gebe deutliche Hinweise, dass sich Jonas K. in der Gruppe der Angreifer befunden habe; anders sei es auch nicht zu erklären, dass die Flucht der Angreifer und der brutale Über­griff auf Jonas K. quasi gleichzeitig stattgefunden hätten.
Jonas K., der Nebenkläger, konnte sich an den Tat­hergang nicht erinnern. Er erlitt nach dem Angriff der Neonazis ein Schädelhirntrauma und eine Jochbogenfraktur, wegen Blutungen im Gehirn lag er auf der Intensivstation. Die ersten Not­rufe waren bei der Polizei am Morgen des 12. Juli zwischen 5.50 Uhr und 5.52 Uhr eingegangen – zu diesem Zeitpunkt lag Jonas K. schon regungslos am Boden.

Nach sieben Prozesstagen rekonstruierte der Vorsitzende Richter das Geschehen. Die Angeklagten K., B. und Michael G. seien ihrem Freund L., der von einem Angreifer mit einer Flasche am Kopf verletzt wurde, zur Hilfe gekommen. Daraus habe sich eine Schlägerei entwickelt, in deren Verlauf Jonas K. zu Boden gebracht und mit Schlägen und Tritten malträtiert worden sei. Bis zur Flucht derjenigen, die die Neonazis angegriffen hätten, handele es sich um eine klare Notwehr- bzw. Nothilfesituation, erst danach setze die strafrechtlich relevante Tat ein. Bei seiner Argumentation orientierte sich Diekmann an den seiner Ansicht nach neu­tralen Zeugenaussagen und folgte im Kern der Darstellung der angeklagten Neonazis und ihrer Verteidiger. Zeugenaussagen, die dieser Ansicht widersprachen, wurden hingegen als weniger glaub­würdig eingeordnet, weil sie mit der Gruppe der linken Angreifer in Verbindung gebracht werden könnten. Die Aussage einer als neutral ge­werteten Zeugin, die sagte, sie habe den Satz »Du Zecke stehst nicht mehr auf« gehört, wurde nicht in die Urteilsfindung einbezogen, da der Satz keinem der vier angeklagten Neonazis eindeutig zugeordnet werden konnte.
Am Ende verurteilte das Gericht den 26jährigen Oliver K. wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Der 21jährige Marcel B. und der 23jährige Michael L. wurden wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugend- bzw. Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Der 24jährige Michael G. wurde freigesprochen.
Damit blieb das Landgericht weit hinter den For­derungen der Staatsanwaltschaft zurück. Diese hatte wegen versuchten Totschlags acht Jahre Haft für K. und für die Angeklagten B. und L. drei Jahre Jugend- bzw. Freiheitsstrafe wegen gefährlicher Kör­perverletzung gefordert. Strafmildernd wirkte sich bei allen die starke Alkoholisierung aus.

B. hatte nach übereinstimmenden Aussagen zugetreten und erst von Jonas K. abgelassen, als ihm Zeugen zuriefen: »Hört auf, der bewegt sich doch gar nicht mehr.« L. wurde lediglich vorgeworfen, dass er Personen daran gehindert hatte, Jonas K. zu helfen. Eine DNA-Analyse der Kleidung hatte zwar ergeben, dass L. Blut von Jonas K. an seiner Kleidung hatte. Das Gericht kam dennoch zu der Einschätzung, dass er nicht zugetreten und sich nicht in der Nähe des Opfers befunden habe. Eine direkte Tatbeteiligung könne weder ihm noch dem Angeklagten G. nachgewiesen werden.
Was am Ende bleibt, ist eine widersprüchliche Darstellung einer Tat, nach der K., bedingt durch Alkohol und den Angriff auf den Kumpel, ausrastete und Jonas K. fast zu Tode trat. Bei der Begründung des Urteils bescheinigte der Richter dem Angeklagten K. zwar eine klare Tötungsabsicht – immerhin hatte der Angeklagte gegenüber Polizeibeamten zugegeben, Jonas K. mit einem »Stampfkick« auf den Kopf getreten zu haben. Weil die eintreffende Polizei den Tötungsversuch unterbinden konnte, rückte das Strafmaß jedoch in die Nähe eines minderschweren Falls.