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Manchmal scheint die Sonne nicht, so wie heute. Da ist es schön, wenn die Kollegin da ist, denn dann braucht es manchmal die Sonne gar nicht. Weil die Kollegin gewissermaßen die Sonne in ihrem Herzen trägt. Dann spürt man, wenn man in ihrer Nähe sitzt, eine wohlige Wärme, die sie, mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen, ebenso unfreiwillig wie unablässig verströmt. Nein, nicht, dass sie jetzt etwa denken, die in Rede stehende Kollegin sei Sanyassin oder Angehörige einer anderen obskuren Esoteriksekte. Ihr ist ein Wesenszug eigen, der heute kaum noch zu finden ist: Ausgeglichenheit. Ihre Chakren stehen sozusagen im Einklang mit sich selbst (oder wie sagt man da?). Sie besitzt, wonach so viele vergeblich streben: Weisheit. Würde uns etwa in diesem Moment die Eilmeldung erreichen, dass soeben der Atomkrieg ausgebrochen sei, fände sie sicher die richtigen Worte. »Etepetete, dingdong«, würde sie dann etwa sagen. Oder: »Das geschieht den Nazis ganz recht.« Sie hat, wenn man so will, ihre Mitte gefunden. Naja, sagen wir besser: ihre äußerste linke Mitte.
Doch die Kollegin hat freilich noch ganz andere Talente: Sie kann zum Beispiel zaubern. Aus einem kleinen, rostigen Metallgefäß zaubert sie von Zeit zu Zeit einen duftenden Espresso, auf ein griesgrämiges Gesicht zaubert sie ein Lächeln, aus einem unrasierten Redaktionsmisanthropen zaubert sie einen Clint Eastwood (»Das sieht so verwegen aus«) und aus einem wirren Buchstabenhaufen, in dem die Kommata unter Zuhilfenahme eines Zufallsgenerators platziert worden sind, zaubert sie einen Text. Viele Jahre hat sie nun damit zugebracht, den deutschen Linken in Fragen des Geschmacks und des Humors auf die Sprünge zu helfen, dem deutschen Kapital zu erläutern, was es meint, wenn es von »sozialer Marktwirtschaft« spricht, den deutschen Gewerkschaften zu erklären, was eine Gewerkschaft ist und wozu diese gut ist, und den deutschen Neonazis beizubringen, dass die falsche Schuhgröße oder Haarfarbe keine Gründe sind, einen Menschen totzuschlagen.
Die Kollegin verabschiedet sich nun von uns. Bald wird sie in einer anderen Zeitungsredaktion Platz nehmen, wo sie nicht nur ihre wohlige Wärme und ihre unermessliche Weisheit verströmen, sondern auch ihren neuen Kolleginnen und Kollegen behutsam und geduldig beibringen wird, wie man eine Zeitung macht. Wenigstens ist das zu hoffen.