Andi in der Plattenhölle

Spezial-Folge 40. The Thing. von Julia Tägert

Im Sommer war ich mit Andi in Amerika. Seine Begrüßung der Einheimischen sah so aus: »Guten Tag, mein Name ist An­dreas. Weißt du, wo ich hier gebrauchte Platten kaufen kann?« Anfangs war mir das peinlich, aber man gewöhnt sich daran. Andis Plattensuche brachte uns an jedem Ort in die verrücktesten Ecken. Touristisches Niemandsland.
In New York erzählte der Besitzer eines Comicladens uns von einem sagenhaften Laden, in dem es Hunderttausende von gebrauchten Platten geben sollte. Meterhoch gestapelt. Andis Augen leuchteten. Der Name des Ladens: »The Thing«.
Der Laden sei irgendwo im polnischen Teil von Brooklyn. »Klar können wir da noch hingehen, Andi, aber muss ja nicht heute sein, oder?« Schnell hatte ich den Laden wieder vergessen, und wir gaben uns der normalen New Yorker Besucherroutine hin: Moma, Central Park, Shoppen, Chinatown, Little Italy, Shoppen, Empire State Building, Ground Zero, Shoppen …
Am letzten Tag machten wir uns auf nach Greenpoint, Brooklyn. Von außen sah der Laden aus wie jeder andere Trödelladen. Dreckig und mit unheimlich viel unnützem Zeug, das die Leute nicht ohne Grund entsorgt haben wollten. Jeder normale Mensch hätte beim Vorbeilaufen mal einen Blick in den Laden geworfen und sich gefreut, dass er da nicht rein gehen muss. Andi nicht: »The Thing! Da ist es, ich mach’ erstmal ein Foto!«
Im Ladeninneren herrschte ein grauenhaftes Durcheinander. Überall Zeugs. Unbrauchbarer Schrott. Fast kein Licht, schlechte Luft, Staub, Dreck und ein übellauniger Besitzer, der aussah, als hasse er jeden, der in seinen Laden kommt.
Die Platten waren im Keller. Schon auf dem Gang zur Treppe lagen Kisten mit LP. Die Treppe war eng und morsch, und man musste den Kopf einziehen.
Und da waren sie: die Platten. Millionen von dreckigen, kaputten LP und Singles. Überall. An den Wänden waren Plastikkörbe gestapelt, die voll waren mit Schallplatten. In der Mitte war nur noch ein sehr schmaler Gang. An der hinteren Wand standen so viele Kisten mit Platten, dass man an die letzten Stapel gar nicht mehr rankam.
Andi war sprachlos. »Jetzt ist es vier Uhr. Der Laden schließt um sieben. Ich komme mal in zwei Stunden wieder.« Damit ließ ich ihn alleine und erkundete die polnische Nachbarschaft, die nicht viel zu bieten hatte.
Nach anderthalb Stunden ging ich wieder zurück, um nach Andi zu sehen. Der war völlig fertig. Klitschnass – »The Thing« hatte keine Klimaanlage. Außerdem war er total dreckig, er hatte diesen irren Blick, sah aber gleichzeitig etwas enttäuscht aus: »Die sind alle kaputt. Guck’ mal hier, die liegen einfach so rum ohne Hülle und zerreiben sich aneinander.« Dieses Plattenparadies war gleichzeitig eine Plattenhölle, und Andi hat auch nur eine Handvoll Singles gekauft. Und er schien irgendwie erleichtert, dass ich ihn aus dem Laden befreite. Ohne mich säße er wahrscheinlich heute noch dort: »Vielleicht ist dort drüben in der Kiste doch noch die tolle ­Single, nach der ich immer gesucht habe. Oder da unten, oder da oben, oder dort hinten …«

Julia Tägert ist die Freundin von Andreas Michalke, dem Autor von »Berlin Beatet Bestes«.