Das neue Album der Harfinistin Joanna Newsom

Gezupft, nicht gerührt

Die Distinktions- und Grabenkämpfe im Pop sind abgeflaut. An der Harfenistin Joanna Newsom aber scheiden sich mal wieder die Geister.

Drapiert auf Blümchenbettwäsche zu Blümchentapete liegt sie da, in sehr kurzem Kleidchen mit knallrot geschminktem Mund, dunkel bemalten Augen, und schaut kokett-verträumt. Eigentlich kommen die Pressefotos, die Joanna Newsoms drittes Album flankieren, dem erotischen Kitsch sehr nahe. Man könnte sie auch sexistisch nennen: Die allzu typische Pose weiblicher Verführung ist offenkundig, die Möglichkeit der Verfügbarkeit der Liegenden angedeutet. Alles in den handelsüblichen Klischeebahnen, die der männliche Blick so schätzt.
Natürlich bemüht man sich, anderes zu denken, denn Newsom ist ja nicht irgendein dahergelaufenes Pin-up-Girl aus dem Playboy. Die 28jährige Sängerin, Komponistin und Harfenistin gilt derzeit insbesondere unter Musikkritikern als Ausnahmekünstler in schlechthin. Die Kalifornierin, deren Stimme neuerdings etwas gebändigter klingt und verstärkt an die der frühen Kate Bush erinnert, war allerdings auch schon vor der Veröffentlichung ihres Opus magnum »Have One On Me« eine Berühmtheit.
Gemessen an den üblichen Maßstäben des Pop war bereits ihr zweites Album »Ys« aus dem Jahr 2006 eine überwältigende Leistungsschau. In fünf epischen Song-Erzählungen bewegt sich die Musikerin entlang der Grenzen klassischen Folks und fügt dem Genre viel Originelles hinzu. Es ist die Verschmelzung von Folk, West Coast Psychedelia, Kinder- und Kunstlied. Dazu maunzt, knödelt und krächzt Newsom – jeder Ton eine kleine Erzählung – mit ihrer selbst­bewusst melodiegebenden Stimme dunkel-romantische Texte.
Es ist wie beim Sport: Der Sieg schürt erhebliche Erwartungen, nicht zuletzt eigene. Der nächste Sieg sollte mindestens ebenso spektakulär und phantastisch sein. Tatsächlich umfasst »Have One On Me« nun drei CDs mit einer Gesamtspielzeit von gut zwei Stunden. Der große Van Dyke Parks, mit dem Newsom für »Ys« zusammenarbeitete, hat dieses Mal keine Arrangements beigesteuert, das 30-köpfige Orchester ist zuhause geblieben. Das längste Stück währt keine 17 Minuten, sondern nur elf. Es ist das Titelstück. Darin geht es, wie in vielen der neuen Songs, um Aufopferung, um »die Idee, sich selbst zu verlieren oder sich selbst zu verschenken«, so Newsom im Interview mit der Zeitschrift Spex. Zweifellos ist sie eine talentierte Lyrikerin, die rhythmisch pointiert und stets haarscharf an den tragenden Emotionen entlang erzählt; die wortreiche Texte produziert, die nicht hermetisch nach Innen abgeriegelt, aber eben auch nicht zu leicht zu verstehen sind. Die Bedeutungen dieser Liebeslieder drängen sich jedenfalls nicht auf wie ein taktloser Liebhaber.
Arrangements eines kleineren Orchesters gibt es auch auf »Have One On Me« – die ihres Mitmusikers Ryan Francesconi, der selbst Banjo, Akustikgitarre und Bulgarisches Tamburin spielt. Francesconis Arrangements sind leiser und subtiler als die Arrangements auf »Ys«. Mitunter schweben sie wie aus dem Hintergrund eines mit Tusche gemalten Bildes heran und wirken wie mit großer Diskretion aufgetragene Tupfer. Newsom sitzt nicht mehr nur hinter der Harfe, sondern auch am Klavier. Sie spielt melodisch reiche, von Debussy und Satie, von Vaudeville, Gospel und Blues inspirierte Songs mit weit geschlagenen Spannungsbögen, zahlreichen raffinierten Wendungen und einer bisweilen komplizierten Rhythmik. Sämtliche Stücke arbeiten an der Entbanalisierung des typischen Songformats. Nicht, dass es keine Refrains gäbe, doch sie werden geschickt verschleppt. Sie tauchen auf, verschwinden und sind plötzlich wieder da, und dann erinnert man sich. Es sind Songs, die nicht zuletzt der verwunschenen Zartheit der darin angeschlagenen Töne und Temperamente wegen und natürlich auch durch den Einsatz der Harfe an Märchen erinnern – an Märchen für anspruchsvolle Erwachsene wie »Alice hinter den Spiegeln«.
Jeder gesungene Ton ist wie eine kleine Erzählung. Und ein kluges Auspendeln von Spannung und Entspannung, was an zentrale Strukturmerkmale des Spiels erinnert: an das mal konzentrierte, mal befreite Hin und Her spielerischer Bewegungen. Ohne Newsoms Stimme, die hell und klar klingt, würde diesen märchenhaften Song-Erzählungen etwas Entscheidendes fehlen: die Protagonistin, die Prinzessin, ja, im Grunde die Verführerin, deren Bild aber nicht unbedingt ein profanes irdisches Begehren weckt, dafür sind Timbre und Modulationen des Gesangs zu fremdartig und zu eigensinnig. Sirenenhaft könnte man diese Stimme nennen, denn sie klingt wie nicht ganz von dieser Welt. Man muss sie nicht mögen. Gleichgültig sein kann sie einem kaum.
In einer bestens vernetzten Welt wild durch­einander purzelnder Einflüsse mit nur wenigen handfesten musikalischen Grabenkämpfen hatte Popmusik, verstanden als Distinktionsinstrument, zuletzt nicht mehr viel zu melden gehabt. Owen Palletts »Heartland« oder Antony And The Johnsons’ »The Crying Light« verwandt, ist Newsoms »Have One On Me« wegen seiner stilsicheren Minimal-Opulenz und möglichst ungewöhnlicher stimmlicher und musikalischer Gesten eine interessante Abwechslung, und bestens geeignet zum Basteln feiner Unterschiede. »Have One On Me« zieht einen Graben zwischen jenen, die beim Anhören exaltierter kunstsinniger Musik generell den Kopf schütteln, und denen, die sich mit der Vehemenz eines Vampirs zuletzt auf alles gestürzt haben, was ihrer rezeptiven Erwartung an eine überwältigende Leistungs- und Tiefenschau gerecht werden konnte. Dass »Have One On Me« mit seiner Nähe zur ­E-Kultur insbesondere das Musik-Feuilleton auf den Plan rief, verwundert nicht und ist vermutlich nur für Menschen ein Problem, denen alles, was nicht prollig klingt und mehr als drei Akkorde kennt, konservativ, bürgerlich und falsch vorkommt.
Newsom wurde immer wieder mit einer kindlichen Elfe verglichen. Sie selbst hasst diesen Vergleich. Vielleicht sind ihre Presse-Fotos ein Statement gegen dieses Bild der Elfe. Vielleicht sind sie auch einfach ein Versuch, der Idee moderner romantischer Liebe, die ja immer etwas leer bleibt ohne das Versprechen des Körperlichen, entsprechende Bilder hinzuzusetzen. Wie auch immer: Newsom gefällt sich in diesen Posen. Und sie hat sie selbst bestimmt. Einwände formulieren darf man trotzdem.

Joanna Newsom: Have One On Me (Drag City/Rough Trade)