Die Reaktionen der israelischen Linken

»Gefahr, Gefahr, Kriegsregierung«

Viele israelische Linke haben ähnlich auf die Vorfälle um die Gaza-Flotille reagiert wie Linke in anderen Ländern. Allerdings trugen sie auf ihrer Demonstration Israel-Flaggen.

Wie kann Israel der Welt die Vorfälle erklären? Am Tag nach dem Debakel auf hoher See versuchte ein ratloser David Witzthum in den Spätnachrichten herauszufinden, was nun zu tun sei. Dem TV-Moderator zugeschaltet war der ebenfalls ratlose Militärspezialist und Haaretz-Analyst Reuven Pedatzur. »Gar nicht«, war seine Antwort, so etwas könne man nicht erklären. Pedatzur sprach von schwerwiegendem Versagen des Militärs und der Geheimdienste. Für die hasbara, so lautet das hebäische Wort für »Erklärung«, welches heute vor allem die Lage Israels bezeichnet, eine unlösbare Aufgabe.
Gleicher Kanal, gleiche Sendung, einige Tage zuvor, Witzthum im Gespräch mit Yossi Levy, Sprecher im Außenministerium. Bereits hier wurde deutlich, dass es mit dem »Erklären« schwierig ist. Auch auf eindringliches Nachfragen Witzthums, wie Israel denn auf die »Friedensflotte« reagieren solle, antwortete Levy ausschließlich mit altbekannten Schlagworten, die in der Lobpreisung der High-Tech-Errungenschaften des Landes gipfelten.

Yossi Levy sei einer der lächerlichsten Propagandisten des Landes, urteilte Gideon Levy in der Haaretz. Israel habe sich in einem Netz von Lügen und Taktiken verstrickt, keiner außer den Israelis selbst würde mehr an diese Lügen glauben. Aber auch weniger radikale Kritiker der Regierung ließen es in Haaretz an deutlichen Worten nicht fehlen. So etwa der prominente Journalist Ari Shavit, der von einer Serie falscher Entscheidungen sprach, die die »Mavi Marmara« in eine palästinensische »Exodus« verwandelt habe. In einem Editorial der Zeitung hieß es, die gewalttätige Auseinandersetzung sei eine Folge aus falscher Politik, Prestige-Kriegen und einem grundlegendem Missverständniss der Konfliktsituation.
Die wöchentliche Sendung »Politika« thematisierte am Tag nach dem Einsatz ebenfalls das Versagen der hasbara. Die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin Orit Galili Zucker konstatierte, dass Israel für die aktuellen Anforderungen an die hasbara nicht gerüstet sei, sondern an veralteten Strukturen und Konzepten festhalte. Radikale Veränderungen von Personal, Strukturen und Entscheidungsprozessen hält auch Yehezkel Dror, der Mitglied des Winograd-Komitees zur Untersuchung des zweiten Libanon-Kriegs war, für unumgänglich. Sollte der Schock der misslungenen Operation helfen, diese Veränderungen einzuleiten, dann wäre »unser Verlust unser Gewinn«.

Die Schriftsteller Amos Oz und David Grossmann, zwei im Ausland sehr gefragte Exponenten der Linken, kamen in der New York Post und dem Guardian zu Wort. Amos Oz sieht die Aktion als Produkt des Mantras »was nicht mit Gewalt erreicht werden kann, kann mit größerer Gewalt erreicht werden«, das auf der falschen Annahme beruhe, die Herrschaft der Hamas könne mit Gewalt oder Waffen gelöst werden. Auch David Grossmann, sein Kommentar erschien mittlerweile auch in deutscher Übersetzung in der FAZ, prangert das Vorgehen scharf an, sei es doch »Resultat einer rigiden Machtpolitik, die an jedem entscheidenden Kreuzweg, immer dort, wo Weisheit, Feingefühl und kreatives Denken vonnöten wären, unweigerlich auf Ausübung exzessiver Gewalt zurückgreift«.
Und die Politik selbst? Am 2. Juni kam es zu einer turbulenten Knesset-Sitzung, während der Anastassia Michaeli, populäre Abgeordnete der Partei Yisrael Beiteinu, das Podium stürmte, um die arabische Abgeordnete Chanin Soabi, die selbst an der sogenannten Friedensflotte teilgenommen hatte, am Weiterreden zu hindern. Die Likud-Abgeordnete und ehemalige Armeesprecherin Miri Regev Soabi rief ihr auf Arabisch zu: »Geh nach Gaza, du Verräterin!« Von den arabischen Abgeordneten abgesehen, verhielt sich die Linke in dieser Diskussion auffallend still. Lediglich Chaim Oron, Vorsitzender von Meretz, forderte die Einrichtung einer staatlichen Untersuchungskommission zusätzlich zur Untersuchung innerhalb der Armee. Dov Chanin von Chadasch bezeichnete den harschen Umgang mit den arabischen Abgeordneten und der arabischen Bevölkerung als neuen Tiefpunkt in der Geschichte des Landes.

Noch am selben Tag, an dem die nächtliche Aktion auf See bekannt wurde, fand in Tel Aviv eine spontane kleine Demonstration gegenüber der Kirija, dem Hauptquartier der Armee, statt. »Generäle und Minister, hört auf, Demonstranten zu töten« und »Gefahr, Gefahr, Kriegsregierung« skandierten die der Friedensbewegung zugehörigen Demonstranten. Adam Keller von Gush Shalom sagte gegenüber dem NGO-Internetkanal Social TV, dass sich das Problem der Gaza-Offensive wiederhole, dass nämlich der Großteil der israelischen Medien die Version der Armee übernehme, ohne sie zu hinterfragen.
Unter dem Slogan »Die Regierung ertränkt uns alle« kamen am Samstagabend etwa 10 000 Demonstranten in Tel Aviv zusammen, um gegen das Vorgehen auf der »Mavi Marmara« zu protestieren. Der ursprünglich zum 43. Jahrestag des Sechs-Tage-Kriegs und damit der Besatzung von Westbank und Gaza angesetzte Protestzug wurde von Meretz, Chadasch und verschiedenen Gruppen der Friedensbewegung veranstaltet. Zu sehen waren auffallend viele israelische Flaggen, da die Teilnehmer deutlich machen wollten, dass sie nicht gegen den Staat an sich, sondern ausschließlich gegen die Regierung Benjamin Netanjahus protestierten. Als die Demonstranten vom Rabin-Platz Richtung Tel Aviv Museum marschierten, kam es zu Auseinandersetzungen mit rechtsgerichteten Gegendemonstranten. Schließlich wurde sogar eine Rauchgranate auf die linken Demonstranten geworfen. Ironischerweise hatten die rechten Störer damit die Wahrnehmung der linken Demonstration in den großen Medien gesichert.