Keine Bewegung in Sicht. Die Proteste gegen das Sparpaket

Hört her, es spricht der Funktionär

Am Samstag gingen in Stuttgart und Berlin mehrere tausend Menschen auf die Straße, um gegen das Sparpaket der Bundesregierung zu protestieren. Von einer breiten, von den Betroffenen selbst getragenen Protestbewegung war dabei kaum etwas zu sehen. Die Demonstrationen dienten vor allem als Bühne für Gewerkschaften und Oppositionsparteien.

Eigentlich passte alles. Pünktlich zu den in Berlin und Stuttgart schon vor Monaten angekündigten Demonstrationen unter dem Motto »Wir zahlen nicht für Eure Krise« verabschiedete die Bundesregierung ihr sogenanntes Sparpaket, das selbst in den der »bürgerlichen Koalition« nahestehenden Redaktionen als »unsozial« und »unausgewogen« eingeschätzt wurde. Trotzdem demonstrierten in beiden Städten nach Angaben der Veranstalter jeweils nur rund 20 000 Menschen. Auch wenn die Organisatoren sich zufrieden zeigten, kann dies kaum darüber hinwegtäuschen, dass angesichts einer Politik, die größtenteils bei jenen spart, die ohnehin am wenigsten haben, mehr Beteiligung hätte erwartet werden können. Die »Gefährdung des sozialen Friedens«, wie sie etwa Stefan Dietrich in der FAZ angesichts des Sparpakets imaginierte, ließ sich hier jedenfalls kaum ausmachen. Auch die vollmundige Aussage der Demonstrationsveranstalter, »die Menschen« würden nicht akzeptieren, »dass sie für die neoliberale Politik, die in die Krise geführt hat, zahlen sollen«, während »Banken und Konzerne als Verursacher ungeschoren davon« kämen, bewahrheitete sich offenbar nicht.
Mit den ähnlich motivierten Aktionen vom November 2003, als in Berlin zur Überraschung aller Beteiligten weit über 100 000 Menschen gegen die Hartz-Gesetze der Agenda 2010 demon­strierten, können die aktuellen Proteste nicht mithalten, und das nicht nur hinsichtlich der Teilnehmerzahlen. Während damals tatsächlich viele Betroffene spontan ihren Unmut äußerten, sich in vielen Städten in Arbeitskreisen oder Kampagnenbündnissen zusammenschlossen und durch Montagsdemonstrationen, Blockaden von Jobcentern oder andere Aktionen versuchten, den Protest dauerhaft am Laufen zu halten, ist von einer solchen Dynamik derzeit nichts zu spüren. Da braucht es noch nicht einmal eine »feindliche Übernahme« der Proteste durch die DGB-Gewerkschaften, die es, wie Anne Allex, eine Aktivistin der Erwerbslosenbewegung, damals in der Zeitschrift A&K feststellte, geschafft hatten, die Basisinititativen aus der Organisation der Anti-Hartz-Demonstration im April 2004 weitgehend auszuschließen. Denn die Demon­strationen vom Samstag waren von vornherein nicht von Basisorganisationen der Betroffenen des Sozialabbaus dominert, sondern von den drei Oppositionsparteien und den Gewerkschaften.

So standen in Stuttgart neben einem Sprecher von Attac ausschließlich Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre auf der Rednerliste. In Berlin hatten die Veranstalter immerhin die Auftaktkundgebung auch für einen antikapitalistischen Block geöffnet, der – Ironie der Geschichte – später von den Polizeieinheiten des rot-roten Berliner Senats in bewährter Manier angegriffen wurde – noch bevor ein offenbar von Demonstranten geworfener Sprengkörper nach Polizei­angaben 16 Polizisten leicht und zwei schwer verletzte.
Die Anliegen der Sozialdemokraten, der Grünen und der Partei »Die Linke«, denen es derzeit um nichts anderes zu gehen scheint als um ein »besseres und sozial ausgewogeneres Sparpaket«, waren mit den Zielen des antikapitalistischen Blocks kaum vereinbar. »Von Anfang an zum Scheitern verurteilt war die Hoffnung«, so heißt es im Aufruf des antikapitalistischen Blocks, »dass sich diese sogenannte Gesellschaftsordnung bändigen ließe, sei es durch die Marktkräfte oder den Staat.« Genau das aber war die Forderung aller Redner. So fokussierte sich die gesamte Kritik auf eine »Gegenwehr gegen die Politik von Schwarz-Gelb« und die »Ablösung der Regierung«, wie der bundesweite Aufruf zur Demonstration formulierte, während die Hartz-Gesetze der einstigen rot-grünen Bundesregierung oder auch das Krisenregime der Großen Koalition, das die Sozialisierung der Krisenverluste begonnen hatte, aus naheliegenden Gründen keinerlei Erwähnungen mehr fanden. Allein ein paar Trotzkisten der »Partei für soziale Gleichheit« versuchten während der Auftaktkundgebung in Berlin verzweifelt, auf die Widersprüche der rot-rot-grünen Opposition hinzuweisen.

Die relativ geringe Beteiligung an der Demonstration könnte allerdings mit jenen Widersprüchen zusammenhängen. Seit den Zeiten der Agenda 2010 haben Grüne und Sozialdemokraten offenbar die Fähigkeit eingebüßt, eine größere Zahl von Menschen zu Protesten gegen soziale Zumutungen zu motivieren. Und während 2003 die Enttäuschung und Entrüstung über die »linke« Regierung viele Menschen auf die Straße trieb, um gegen die Hartz-Gesetze der Grünen und Sozialdemokraten zu protestieren, kam der nun von der schwarz-gelben Koalition forcierte Soziallabbau kaum überraschend und wird von vielen offenbar resignativ hingenommen. Vielleicht halten viele auch die Sozialdemokraten heute schon wieder für eine soziale Wahlalternative zu Union und FDP, so dass der Protest auf der Straße ihnen nicht lohnend erscheint. Will man es der Regierung zeigen, kann man immerhin eine der drei Oppositionsparteien wählen – selbst wenn von diesen kaum ernsthafte Veränderungen zu erwarten sind.
Sich als soziale Wahlalternative zu profilieren, das war der Zweck der Auftritte von Grünen, SPD und der Partei »Die Linke«. Was sich auf der Straße abspielt, ist da weniger bedeutend, einige tausend Leute, die helfen, wenigstens die Form einer Demonstration zu wahren, bringen die Parteien und vor allem der DGB schon noch auf die Beine, für ein bisschen Klimbim darf dann die radikale Linke sorgen. Wichtiger als die Massen auf der Straße ist die Resonanz der Medien, vor allem für die »Resozialdemokratisierung« der SPD und deren kommende Wahlkämpfe.
Vor der Gefahr des sozialdemokratischen Reformismus als Instrument der Integration aller Proteste hatte 2003 noch eine Gruppe namens »Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft« gewarnt. »Nirgends dürfen die Gewerkschaften das Sagen haben, die jeden Widerstand in die bestehende Ordnung integrieren«, schrieben sie damals. »Überall müssen wir die Linke des Kapitals kritisieren, die den alten Plunder aus über hundert Jahren Reformismus feilbietet.« Solche Töne waren diesmal nicht zu vernehmen, und wenn, gingen sie wohl unter den Reden der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre unter. Vielleicht auch im Krach der Böller aus dem antikapitalistischen Block.