Erinnerungen an die Sozialistin Ruth Oesterreich

Über die Linien schreiben

Eine Erinnerung an die Sozialistin Ruth Oesterreich, die in Plötzensee ermordet worden ist.

Der gesamte Juni des Jahres 1943 ist zu kalt für diese Jahreszeit, aber der Fünfundzwanzigste ist ein klarer, sonniger Tag. In der Nacht zuvor sind die ungewöhnlich günstigen Wetterverhältnisse von der Royal Air Force genutzt worden, um Wuppertal-Elberfeld zu bombardieren, zwei Tage vorher war bereits das Zentrum von Mülheim an der Ruhr in Schutt und Asche gelegt worden. Während im Westen des Landes der sogenannte »Battle of the Ruhr«, die »Schlacht um die Ruhr«, geführt wird, geht in der Hinrichtungsstätte des Gefängnisses Plötzensee im Berliner Norden der Mordbetrieb weiter – ganz so, als wären die Tage des NS-Regimes nicht schon längst gezählt. Wahrscheinlich zehn Männer und sieben Frauen werden am 25. Juni 1943 in Plötzensee hingerichtet. Sicheres weiß man nur von zwei Frauen aus dem polnischen Widerstand gegen die deutsche Okkupation, von Monika Dymska und Wanda Wegierska, die aus Polen ins Deutsche Reich verschleppt worden sind, und von der Dresdnerin Ruth Oesterreich, die an diesem Tag erhängt wird.

Ruth Oesterreich ist eine interessante Persönlichkeit innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung und eine wichtige Protagonistin der kommunistischen Bewegung, von der sie sich allerdings früh distanzierte, um in Gegnerschaft zu den von Stalin geprägten Kommunistischen Parteien weiterhin überzeugte Sozialistin zu bleiben und als solche die Nationalsozialisten zu bekämpfen. Umso erstaunlicher ist es, dass ihr Wirken bis heute nicht ausführlich gewürdigt worden ist, wenngleich ihr vom Druck der politischen Verhältnisse beförderter Hang zur Konspiration es der Forschung auch nicht leicht gemacht hat, Einzelheiten über ihr Leben in Erfahrung zu bringen. Fest steht: Ruth Oesterreich wurde am 6. Juni 1894 in Dresden als Tochter eines Klempnergehilfen geboren, schloss sich 1912 der Sozialdemokratischen und unmittelbar nach deren Gründung um die Jahreswende 1918/19 dann der Kommunistischen Partei Deutschlands an, in der sie während der ersten Hälfte der zwanziger Jahre eine wichtige Rolle spielte. Assistiert hat ihr dabei ihr zweiter Ehemann Arnold Rubinstein alias Jakob Reich alias Jakob Reichenberg alias James Reich alias James Thomas, der jedoch stets im Hintergrund blieb. Ihre erste Ehe mit dem Schriftsteller Otto Jensen war früh gescheitert.

Ruth Oesterreich und Arnold Rubinstein

Die zahlreichen Aliasse ihres zweiten Mannes haben ihren Grund: Der Russe Arnold Rubinstein, um bei dem Namen zu bleiben, unter dem er 1954 im US-amerikanischen Exil sterben sollte, hielt sich seit 1919 im persönlichen Auftrag Lenins in Berlin auf, um dort das illegale Westeuropa-Büro der Komintern zu leiten. Aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbare Geldsummen flossen durch seine Hände und durch die seiner Frau. Sie waren dazu bestimmt, die westeuropäischen kommunistischen Parteien zu unterstützen, denn noch ging die Parteispitze der KPdSU – Lenin, Trotzki und Sinowjew – davon aus, dass sich die bolschewistische Sowjetunion nur behaupten und konsolidieren könne, wenn es auch in westeuropäischen Ländern, insbesondere in Deutschland, zur Revolution kommen würde. »Die Gelder wurden aufbewahrt in der Wohnung, in der ursprünglich das Hilfsbüro sich befand«, sollte Ruth Oesterreich anlässlich einer Untersuchung im Jahr 1923 erklären, »und in der Wohnung des Genossen Thomas. Das Geld wurde aufbewahrt in Koffern, Taschen, Schränken, manchmal in großen Mappenwerken im Bücherschrank und hinter den Büchern.«

Rubinstein druckte alle wichtigen Materialien und Dokumente der Bolschewiki und diejenigen, die mit der russischen Revolution in Zusammenhang standen. Er gründete zu diesem Zweck Verlage, Firmen sowie eine Kunst- und eine Buchhandlung und besorgte falsche Papiere und illegale Quartiere. Während er selbst nur selten in Erscheinung trat und illegal in Berlin lebte, fungierte Ruth Oesterreich als seine Kontaktperson zur Außenwelt und versuchte ihn zu unterstützen, als er aufgrund seines allzu sorglosen Umgangs mit dem Geld in die Bredouille geriet. 1923 berief der sowjetische Botschafter in Berlin, Nikolaj Krestinsky, eine Untersuchungskommission ein, der Rubinstein genauen Aufschluss über die Verteilung der Gelder geben sollte, die man ihm anvertraut hatte. Im Frühjahr 1925 wurde er sogar nach Moskau zitiert, wo er vom Exekutivkomitee der Komintern von allen Verpflichtungen als Verlagsleiter der Komintern entbunden wurde.

Mehrere Monate lang musste Rubinstein in Moskau um seine Freiheit fürchten, denn zum einen war er tatsächlich zu verschwenderisch mit den ihm anvertrauten Geldern umgegangen und hatte durch die Inflation Verluste gemacht. Zum anderen hatte sich die politische Konstellation nach dem Tod Lenins im Januar 1924 geändert. Stalin war seit 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Trotzkis Stern war am Sinken, und Sinowjew stand unmittelbar davor, seinen Posten als Kominternvorsitzender zu verlieren. Doch da Rubinstein bis zu diesem Zeitpunkt kein eingeschriebenes Mitglied einer kommunistischen Partei gewesen war, konnte man ihn auch nicht vor ein Parteigericht stellen und erlaubte ihm 1926 die Rückkehr nach Berlin.

Aber auch dort wurden die politischen Verhältnisse bald schwieriger: Die deutsche KPD-Führung behauptete, dass die Sozialdemokratie den größten Feind der deutschen Arbeiterklasse darstelle, da sie die revolutionären Massen durch ihren Reformismus in das bürgerliche System einbinde, statt sie dagegen aufzubringen. Ruth Oesterreich und Rubinstein opponierten gegen diese Linie und waren ein Teil derjenigen Minderheit innerhalb bzw. im Umfeld der KPD, die 1929 als sogenannte Parteirechte aus der Partei ausgeschlossen wurden. Sie gehörten zu den Leuten um Heinrich Brandler, Jacob Walcher, Paul Frölich und August Thalheimer, also zur Kommunistischen Partei Opposition, die sich als eigenständig organisierte Strömung innerhalb der kommunistischen Bewegung verstand.

Unmut über die von der Parteiführung verordnete Linie herrschte jedoch nicht nur bei den Kommunisten, sondern auch innerhalb der Sozialdemokratischen Partei. Auch von der SPD spaltete sich im Oktober 1931 eine Minderheit ab, die sich Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) nannte und noch heute vielen deshalb bekannt ist, weil der ehemalige Bundeskanzler der BRD, Willy Brandt, einst ihr Mitglied gewesen ist. 1932 wechselten gemeinsam mit einer von der KPO abgespaltenen Minderheit auch Ruth Oesterreich und ihr Mann Rubinstein zur SAP über, der es jedoch nicht mehr gelang, wesentlichen politischen Einfluss auszuüben. Notgedrungen musste sie ihre Aktivitäten 1933 ins Ausland verlagern, insbesondere in die tschechoslowakische Hauptstadt Prag, die vom Frühjahr 1933 an auch den Lebensmittelpunkt für das Exildasein von Ruth Oesterreich bildete.

Das Leben in Prag

Ruth Oesterreich hatte es schwer, sich in Prag zu behaupten und ihre Existenz und die ihrer 1924 geborenen Tochter zu sichern, die ihrerseits Ruth hieß. »Entschuldigen Sie, dass ich trotz des beigelegten Antwortscheines Ihren Brief nicht sofort beantwortet habe.« Das schrieb sie im März 1935 an Nettie Sutro-Katzenstein, deren Hilfswerk ihr eine kleine Unterstützung hatte zukommen lassen. »Der Grund war, dass ich mich durch die dauernde Verschlechterung der Lage der deutschen Emigration hier und international in einer so großen Depression befand, dass ich’s lieber vermeiden wollte, dies zu Papier zu bringen. Die Aussichten verschlimmern sich katastrophal, und nachdem der Versuch scheiterte, einen Verdienst durch Stricken zu bekommen, war ich vollkommen verzweifelt. Ich habe nach 25-jähriger Berufsarbeit, zum größten Teil an Schreib- und Buchhaltungsmaschinen, diese Verdienstquelle, die ja eine 14- bis 18stündige Arbeitszeit erfordert, nicht ausgehalten und musste es aufgeben.« Zu diesem Zeitpunkt lebte sie bereits mit ihrer Tochter alleine, denn Rubinstein hatte sich mit einer anderen Frau zusammengetan, mit der Psychoanalytikerin Annie Reich, die zuvor mit Wilhelm Reich verheiratet gewesen war, sich aber mit ihren Töchtern Eva und Lore ins Prager Exil geflüchtet hatte, während Reich zuerst nach Skandinavien ging und von dort aus in die USA gelangte.

Ruth Oesterreich hatte jedoch nicht nur emotionale, sondern auch politische Probleme und Ängste, denn die 8 000 bis 10 000 deutschen Flüchtlinge, die sich unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in die Tschechoslowakei geflüchtet hatten, waren auch dort bisweilen nicht sicher vor dem Zugriff der Gestapo. Im Falle des Ehemannes ihrer Freundin Ada Lessing, dem Schriftsteller Theodor Lessing, Autor der berühmten Abhandlung über den »Jüdischen Selbsthass«, erwies sich, dass selbst der tschechoslowakische Kurort Marienbad, wo Lessing im August 1933 ermordet wurde, keine Sicherheit mehr bot. Doch die Flüchtlinge aus Deutschland wurden nicht nur durch die Gestapo, sondern auch durch die sowjetische Geheimpolizei NKWD beobachtet, die ihre Aktivitäten nach Moskau meldete. Mitunter wurden von dort aus Kampagnen initiiert. Eine davon wurde dem ehemaligen Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion, Franz Pfemfert, und seiner Frau Anja zum Verhängnis, engen Freunden von Ruth Oesterreich. Beide wurden in der KP-Presse als »Trotzkisten« denunziert und mussten das Land wegen der daraus resultierenden Bedrohung im Herbst 1936 fluchtartig verlassen.

Während das Ehepaar Pfemfert sich vorerst in Paris installieren konnte und damit zumindest in Sicherheit war, erging es einer weiteren Freundin von Ruth Oesterreich sehr viel schlechter: Kreszentia Mühsam war die Witwe des im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordeten Anarchisten Erich Mühsam, die sich am Tag seiner Beerdigung mit Hilfe der US-amerikanischen Journalistin Dorothy Thompson in die Tschechoslowakei hatte retten können. Den Nachlass ihres Mannes schmuggelte der tschechoslowakische Dichter Camill Hoffmann, der zu diesem Zeitpunkt als Diplomat in Berlin arbeitete, in seinem Diplomatengepäck über die Grenze. Allen Warnungen zum Trotz entschloss sich Kreszentia Mühsam im Sommer 1935 jedoch, in die Sowjetunion zu reisen, denn die MOPR, die Rote Hilfe, hatte ihr versprochen, den Nachlass ihres Mannes in einer hohen Auflage und übersetzt in zahlreiche Sprachen zu veröffentlichen. Sie stellte die Koffer mit den Papieren ihres Mannes bei Ruth Oesterreich unter, verabredete mit ihr, man wolle nach ihrer Rückkehr zusammenzuziehen, nahm ihr das Versprechen ab, den Nachlass unter keinen Umständen aus den Augen zu lassen, und reiste ab.

»Eines Tages stellte sich in der Wohnung der Ruth ein tschechischer Advokat, Kommunist, Rechtsvertreter der Sowjetgesandtschaft mit einem Brief der Zenzl ein.« Das berichtete mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen, am 7. September 1957, der ehemalige Leiter der Roten Armee der bayerischen Räterepublik und spätere antistalinistische Publizist Erich Wollenberg dem Hamburger Journalisten Walter Hammer. »In diesem Brief ersuchte Zenzl, die Koffer mit dem Nachlass dem Advokaten (wenn ich nicht irre, hieß er Löwy) auszuhändigen. Ruth weigerte sich. Kurze Zeit darauf erhielt sie einen Brief der Zenzl, mit schwersten Beschuldigungen (›Vertrauensbruch‹, ›Diebstahl des Nachlasses‹ usw.). Zenzl schrieb, dass die MOPR Erichs gesamten Nachlass ungekürzt und natürlich unzensiert in mehr als einem Dutzend Sprachen (natürlich in Millionenauflage, 8 insgesamt) veröffentlichen will, und beschwor noch einmal Ruth, den Nachlass dem betreffenden kommunistischen Advokaten auszuhändigen. Ruth wusste sich nun keinen anderen Rat, ich war damals nicht in Prag, sie händigte also den Nachlass dem Vertreter der Prager Sowjetgesandtschaft aus. Wenige Zeit darauf wurde Zenzl zum ersten Mal in Moskau verhaftet.«

Freundschaftshilfen

Kreszentia Mühsam wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei eine trotzkistische Agentin, die in Prag regen Kontakt mit Erich Wollenberg gehabt habe. Wollenberg, ein enger Freund Ruth Oesterreichs, war 1934 aus der UdSSR geflohen und hatte sich dort zu einem propagandistisch versierten Trotzkisten entwickelt. Die Bekanntschaft mit ihm wurde zahlreichen Menschen zum Verhängnis, die sich in die UdSSR geflüchtet hatten, der Brecht-Schauspielerin Carola Neher beispielsweise, aber auch Kreszentia Mühsam. Ruth Oesterreich kämpfte von Prag aus für ihre Freundin, alarmierte deren Familienmitglieder in Palästina und versuchte Solidaritätskampagnen zu initiieren, die auch kurzfristigen Erfolg hatten. Kreszentia Mühsam wurde entlassen, sollte aber im November 1938 zum zweiten Mal verhaftet und zu achtjähriger Lagerhaft verurteilt werden, an die sich eine langjährige Verbannung in die Gegend von Novosibirsk sowie Zwangsarbeit anschlossen. Erst 1955 konnte sie auf das Gebiet der DDR ausreisen, wo sie 1962 verstarb.

Doch nicht nur für die Freundin hatte Ruth Oesterreich sich eingesetzt: In Prag wurde sie Leiterin der »Zentralen Hilfsstelle für Flüchtlingskinder«, der Schweizer Hilfsorganisation für Emigrantenkinder, die Nettie Sutro-Katzenstein gegründet hatte. Sie engagierte sich nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Sommer 1936 für die Spanische Republik und arbeitete für deren Gesandtschaft in der Tschechoslowakei sowie als Sekretärin für Willi Schlamm, der in dieser Stadt seine sich dezidiert vom Stalinismus abgrenzenden Europäischen Hefte herausgab. Auch ihre politische Arbeit betrieb sie weiter: Von der SAP wechselte sie zur SOPADE, der in Prag exilierten Sozialdemokratischen Partei, und gehörte seit 1932 einer Gruppierung an, die sich »Neu Beginnen« nannte. »Neu Beginnen« war eine Art Geheimorganisation von KPD- und SPD-Mitgliedern, die zwar eine grundlegende Kritik an ihren jeweiligen Parteien formulierten, aber zugleich doch weiterhin parteiintern für ihre Vorstellungen agitieren wollten. »Neu Beginnen« war 1929 vom KPD-Mitglied Walter Loewenheim initiiert worden, der sowohl SPD als auch KPD vorwarf, angesichts der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung vollkommen versagt zu haben. Die SPD galt den Mitgliedern von »Neu Beginnen« als reformistisch; der KPD warfen sie vor, den Nationalsozialismus zu unterschätzen und ihn nicht zu begreifen. Darüber hinaus, so meinten sie, verstehe die KPD nicht, dass der Kampf für den Sozialismus einer freien Diskussion, einer gut geschulten Avantgarde und vieler Jahre Anstrengung bedürfe.

Ruth Oesterreich war es also im Laufe der Jahre gelungen, neue politische Verbindungen zu knüpfen, sich in Prag halbwegs gut einzurichten und ihren Lebensunterhalt sowie den ihrer Tochter zu sichern. Einmal pro Woche besuchte Ruth Oesterreich Junior ihren Vater, der mit Annie Reich und ihren Töchtern gleichfalls weiterhin in Prag lebte, aber im Frühjahr 1938 war es mit dieser Ruhe vorbei: Im Mai 1938 wurden die deutschen Truppen an der Grenze zur Tschechoslowakei zusammengezogen. Hitler meldete Ansprüche auf das Sudetenland an und erhielt am 29. September, auf der sogenannten Münchner Konferenz, von Frankreich und Großbritannien das Signal, dass beide Staaten nichts gegen die Einverleibung der vorgeblich deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei in das Deutsche Reich einzuwenden hatten und gegen eine Besatzung nicht einschreiten würden.

Damit war über das weitere Schicksal der Tschechoslowakei entschieden: Am 15. März 1939 marschierten deutsche Truppen in Prag ein und besetzten das gesamte Land. Zwei Möglichkeiten nur gab es für die tschechoslowakischen Juden, die tschechoslowakischen Linken und diejenigen, die sich zuvor aus Nazideutschland hierher geflüchtet hatten: Abwanderung in den Untergrund oder planlose Flucht. Ruth Oesterreichs Freund Camill Hoffmann entschied sich gegen beides und wurde 1944, gemeinsam mit seiner Ehefrau, in Auschwitz ermordet. Doch sowohl der Familie Rubinstein/Reich als auch Mutter und Tochter Oesterreich gelang die Flucht. Erstere entkamen mit Annie, Eva und Lore Reich in die USA. Ruth Oesterreich Junior entschied sich dafür, bei ihrer Mutter in Europa zu bleiben, und floh mit ihr nach Frankreich. »Natürlich hat er versucht, seine erste Frau und die Tochter nachzuholen«, erzählte Ilse Oesterreich, Tochter von Ruth Oesterreich Junior und Enkelin von Ruth Oesterreich Senior im Winter 2009, »aber es gab eine Quote. Es ging nicht.« Überdies sei Frankreich nicht bereit gewesen, die beiden als Flüchtlinge anzuerkennen, und habe sie daher über die Grenze nach Deutschland zurückgeschickt.

Von Prag nach Belgien

Dicht an der Grenze zu Frankreich und Belgien, anderes blieb ihnen nicht übrig, gingen Mutter und Tochter also innerhalb Deutschlands nach Norden. Ruth Oesterreich war als Sozialistin lebensgefährlich bedroht, während ihre Tochter, wäre sie in die Hände der Nationalsozialisten gefallen, wegen ihres Vaters als Halbjüdin gegolten und ebenfalls in großer Gefahr geschwebt hätte. Doch sie hatten Glück und kamen bei Verviers unbeschadet nach Belgien hinein. Verviers ist eine kleine Stadt im Dreiländereck Belgien, Deutschland und Niederlande. Bis Aachen sind es von dort aus gerade einmal dreißig Kilometer, und diesen Umstand machte Ruth Oesterreich sich zunutze. Sie hatte inzwischen mit Stephan Mathar einen Mann getroffen, der gleichfalls einmal KPD- und dann SAP-Mitglied gewesen war und sich mit seiner Frau nach Verviers geflüchtet hatte, wo es ihm gelungen war, sich eine eigene berufliche Existenz aufzubauen.

Stephan Mathar war Inhaber einer kleinen Firma und hatte zahlreiche Kontakte zu LKW-Fahrern, die nach Deutschland fuhren oder von dort kamen. Die meisten der Fahrer konnten von Oesterreich und Mathar dazu bewegt werden, von ihnen erstelltes Propaganda- und Agitationsmaterial gegen den Nationalsozialismus nach Deutschland zu schmuggeln. Ruth Oesterreich fragte sie darüber hinaus nach den Lebensverhältnissen innerhalb des Deutschen Reiches aus und übermittelte die dabei gewonnenen Informationen an Karl Gröhl nach Paris, der sie von dort aus wiederum an die Emigrantenpresse weitergab.

Karl Gröhl war ein Genosse aus den Berliner Tagen. Unter dem Namen Karl Retzlaw und dem Titel »Spartakus« hat er über seinen Werdegang als Spartakist, als Mitglied in der jungen KPD und an der Seite von Arnold Rubinstein und Ruth Oesterreich berichtet. Nachdem Gröhl sich im Winter 1933 in Moskau aufgehalten hatte, hatte er sich dem Trotzkismus zugewandt und organisierte Ende der dreißiger Jahre Teile der antifaschistischen Emigrantenpresse im Pariser Exil. Gemeinsam mit Ruth Oesterreich, die in regelmäßigen Abständen von Belgien immer wieder illegal nach Frankreich reiste, arbeitete er bis zum Sommer 1939 jedoch auch für die Gesandtschaft der Spanischen Republik in Prag, der er gemeinsam mit Oesterreich Informationen über geplante deutsche Militäreinsätze in Spanien zukommen ließ. Sie war es gewesen, die ihn mit der Gruppe bekannt gemacht hatte, über die er in seinen Memoiren schreibt: »Ruth Oesterreich-Jensen führte mich einige Tage später zu einer Besprechung einer Abwehrgruppe, deren Aufgabe es war, Waffenlieferungen von Deutschland nach Spanien ausfindig zu machen und, wenn möglich, diese zu verhindern. Wir waren insgesamt nur 5 Personen. Ein Tscheche, der Leiter der Gruppe war, seine Frau, ein junger Mann namens Adam aus Dresden, Sohn eines früheren sozialdemokratischen Abgeordneten, verheiratet mit der Tochter eines deutschen Generals, Ruth Oesterreich-Jensen, und ich.«

Jedes Mitglied dieser Gruppe beobachtete einen europäischen Hafen daraufhin, ob es dort Waffenlieferungen oder deutsche Soldaten gab, die nach Spanien verschifft werden sollten, und meldete diese Beobachtungen dann nach Prag. Während Gröhl in regelmäßigen Abständen nach Rotterdam und Antwerpen fuhr, um die Häfen dieser Städte zu beobachten, ist unklar, in welche Hafenstädte Ruth Oesterreich selbst reiste. Gleichzeitig muss ihr klar gewesen sein, dass ihre Existenz in Belgien eine äußerst prekäre war, denn sie bemühte sich darum, nach Kanada auswandern zu können. Nettie Sutro-Katzenstein, die Leiterin des Kinderhilfswerks, für das Oesterreich in Prag gearbeitet hatte, berichtet über sie: »Längere Wochen für uns wie verschollen, schrieb sie am 4. August 1939 aus Belgien, dass sie nun endgültig nach Kanada auswandern und dort siedeln wolle. Voraussetzung dafür sei eine Anzahlung von 800 bis 1000 Schweizer Franken. Welche Erleichterung, als wir ihr schon eine Woche später 1600 Franken versprechen konnten.«

Flucht, Verhaftung und Hinrichtung

Fast hätte sie es also geschafft. Doch am dritten September 1939 erklärte Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Es sollte noch einige weitere Monate dauern, bis die Deutschen am 10. Mai 1940 in Nordfrankreich, aber auch in Luxemburg, in die Niederlande und in Belgien einmarschierten. Damit saßen alle Flüchtlinge in Belgien in der Falle, denn der Weg nach Südfrankreich, von wo aus man sich unter Umständen noch nach Übersee hätte retten können, war ihnen nun versperrt. Wahrscheinlich hat Ruth Oesterreich gedacht, dass man in einer Großstadt besser untertauchen kann, aber das kann nur vermutet werden, denn sie setzte sich mit ihrer Tochter von Verviers nach Brüssel ab. Dort wehte die Hakenkreuzfahne vom Gestapo-Hauptquartier in der Avenue Louise.

Vom Frühsommer 1942 an versuchte die Gestapo der belgischen und derjenigen Juden habhaft zu werden, die im belgischen Exil lebten, und verbrachte sie in ein Lager in der Stadt Mechelen, bevor sie dann in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden. Unter den davon Betroffenen waren der Maler Felix Nussbaum aus Osnabrück und seine Ehefrau Felka, die im Juni 1944 denunziert und daraufhin über Mechelen nach Auschwitz deportiert wurden, wo man sie – wahrscheinlich im August dieses Jahres – ermordet hat. Unter ihnen war auch der spätere Schriftsteller Jean Améry, der Auschwitz überlebte und nach Brüssel zurückkehren konnte. Unter ihnen waren schließlich fast zwei Drittel oder rund die Hälfte (genaue Zahlenangaben liegen bis heute nicht vor) aller in Belgien lebenden Juden, die der Gestapo in die Hände gefallen waren. Aber ein vergleichsweise hoher Prozentsatz der in Belgien lebenden Juden konnte sich retten, weil ein »Komitee zur Verteidigung der Juden«, das von zahlreichen Belgiern unterstützt wurde, für die Rettung der Gefährdeten arbeitete.

Im Frühsommer 1942 befand sich Ruth Oesterreich jedoch schon seit mehr als einem Jahr in den Händen der Gestapo, denn am 21. April 1941 waren sie und ihre Tochter in Brüssel verhaftet worden. »Verraten von einem Belgier«, sagt ihre Enkelin noch heute voller Bitterkeit. Mutter und Tochter wurden zuerst sechs Wochen lang im Gefängnis St. Gilles von der Gestapo verhört, wobei dieser glücklicherweise verborgen blieb, dass Ruth Oesterreich Junior einen jüdischen Vater hatte. Über Aachen wurden beide dann in die Untersuchungshaft nach Karlsruhe gebracht. Ruth Junior konnte dieses Gefängnis zwar im Februar 1942 verlassen, weil sie immer wieder beteuert hatte, von den Aktivitäten ihrer Mutter nichts zu wissen. Um diese stand es jedoch schlimm: In Karlsruhe erhielt Ruth Oesterreich die Vorladung für ihren Prozess am 18. Februar 1943 vor dem Volksgerichtshof in Berlin, wo sie dann gemeinsam mit Elsa und Stephan Mathar aus Verviers ihren Anklägern gegenüberstand. In diesem Fall handelte es sich nicht um dem berüchtigten Roland Freisler; über Oesterreich und Mathar urteilten die Richter Dr. Zieger und Dr. Großpietsch.

Elsa Mathar versicherte ihnen, dass sie von den Aktivitäten ihres Ehemannes und von dessen Verbindung zu Ruth Oesterreich nichts wusste, und wurde freigesprochen. Was Mathar und Ostereich anging, da kam das Gericht zu der durchaus richtigen Auffassung, sie hätten Propagandamaterial aus dem Ausland ins Deutsche Reich eingeschleust. Ruth Oesterreich selbst gab ohne Weiteres zu, für die Spanische Republik gearbeitet und jede ihr nur mögliche Anstrengung zur Bekämpfung der Nationalsozialisten unternommen zu haben. Entsprechend erklärte der Volksgerichtshof über Mathar und Oesterreich: »Ihre Beseitigung ist deshalb im Interesse des Lebenskampfes, den das deutsche Volk zur Zeit führen muss, notwendig.« Stephan Mathar und Ruth Oesterreich wurden noch am selben Tag wegen Feindbegünstigung, Wehrkraftzersetzung, Vorbereitung zum Hochverrat und Aufforderung zum Landesverrat zum Tode verurteilt. Es gibt Kassiber, die sie hinausschmuggeln konnte aus dem Gefängnis in Moabit, wo sie auf ihren Tod warten musste. Kassiber, die heute im Besitz ihrer Enkelin sind. »Gestern 43. Ruhepause in den Hinrichtungen. Noch zwei vor mir!« heißt es gehetzt im – wahrscheinlich vorletzten – Brief, den Ruth Oesterreich an ihre Tochter schreiben konnte. »Nun wird die Entscheidung bald kommen.«

Die Entscheidung kam. Am 23. Juni 1943 musste Ruth Oesterreich ihren letzten Gang gehen. Zuvor wurde sie an einen Tisch gesetzt, wo sie ihrer Tochter auf liniertem Papier – »Nicht über die Linien schreiben!« – einen Abschiedsbrief schreiben durfte. Dass sie gefasst sei, schrieb sie darin, und dass es besser sei, wenn es überstanden sein werde. Dann wurde sie, davon zumindest muss ausgegangen werden, im Hinrichtungsraum des Gefängnisses Plötzensee erhängt, obwohl Menschen, die als weniger gefährliche oder weniger verhasste Gegner des nationalsozialistischen Regimes galten, zu diesem Zeitpunkt gewöhnlich noch guillotiniert wurden. Ihre Tochter zog es vor, sich vorzustellen, ihre Mutter habe den schnelleren und somit schmerzfreieren Tod unter dem Fallbeil erlitten, doch Erich Wollenberg wird Walter Hammer am 26. November 1953 auf dessen Anfrage hin mitteilen, dass das Urteil durch Erhängen vollzogen worden sei.

Die Nachgeschichte

Ruth Oesterreich Junior wurde unmittelbar nach der Ermordung ihrer Mutter schwanger und brachte am 30. April 1944 – noch in Karlsruhe und unter Gestapo-Aufsicht – ihre Tochter Ilse zur Welt. »Wir kamen über Hans Schoemann zurück nach Belgien«, erzählt diese heute. »Schoemann war als Jude nach Belgien geflohen, während der deutschen Besatzung untergetaucht, hatte überlebt und kam nach dem Krieg im Dienst der Alliierten nach Deutschland. Meine Mutter arbeitete dann als Dolmetscherin für ihn und kehrte mit seiner Hilfe nach Belgien zurück.« Ruth Oesterreich Junior wollte unter keinen Umständen in Deutschland bleiben, sondern lebte bis zu ihrem Tod im August 1998 in Belgien, wo auch ihre Tochter Ilse nach wie vor wohnt. Sie wandte sich von Brüssel aus an den Berliner Gefängnispfarrer Harald Poelchau, der, selber Mitglied der Bekennenden Kirche, zahlreiche zum Tode Verurteilte auf ihrem letzten Gang begleitet hatte, um ihn zu ihrer Mutter zu befragen, aber der verwies sie an den Pfarrer Dr. Ohm. Sie korrespondierte mit dem Journalisten Walter Hammer, der über Ruth Oesterreich recherchierte, aber sie verzichtete darauf, Ansprüche geltend zu machen oder zu versuchen, gegen jemanden vorzugehen, der Schuld am Tod ihrer Mutter trug. »Sie wollte nicht über diese Geschichte sprechen«, sagt Ilse Oesterreich, »sie wollte auch nicht Deutsch sprechen. Aber als Dolmetscherin musste sie es ja.«

Auch aus der Familie Reich/Rubinstein legte niemand Wert darauf, nach Deutschland zurückzukehren. Arnold Rubinstein verstarb in den USA, ohne dass den amerikanischen Behörden jemals klar geworden wäre, um welch wichtigen Repräsentanten der Bolschewiki es sich bei dem Mann gehandelt hatte, der in den USA nur noch als Privatgelehrter tätig war. Seinen Nachlass, darunter auch Manuskripte über die Geschichte Russlands, übergab seine Stieftochter Eva im Jahr 1970 dem Archiv der Universität von Maine, wo er sich noch heute befindet. Hin und wieder war er nach Belgien gereist, um seine Tochter zu besuchen, gemeinsam mit Annie Reich, die sich in den USA als freie Psychoanalytikerin etabliert hatte und 1971 verstarb. Ihr ehemaliger Ehemann, Wilhelm Reich, war – weitgehend unverstanden von der US-amerikanischen Öffentlichkeit – bereits 1957 in einem US-amerikanischen Gefängnis einem Herzanfall erlegen. Dennoch knüpften beide Töchter, sowohl die 2008 verstorbene Eva Moise Reich als auch die jüngere Lore Rubin, an das Vermächtnis ihrer Eltern an und wurden ihrerseits bekannte Psychoanalytikerinnen.

Ruth Oesterreich hingegen ist in Vergessenheit geraten. Schuld daran war auch die Tatsache, dass sie durch die Broschüre »Der Leidensweg von Zenzl Mühsam«, die der Anarchosyndikalist Rudolf Rocker 1949 in den USA verfasst hatte, in ein schiefes Licht geraten war. Denn Rocker hatte in seiner Schrift angedeutet, dass Ruth Oesterreich den Nachlass Erich Mühsams den sowjetischen Behörden in die Hände gespielt haben könnte. Daraufhin wandten sich auch Freunde wie das Ehepaar Pfemfert von ihr ab, nicht wissend, dass Ruth Oesterreich inzwischen hingerichtet worden war. Genugtuung, das Gefühl von später Gerechtigkeit stellte sich für niemanden der Betroffenen jemals ein. 5 200 Menschen seien in nur zehn Jahren vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt worden, konstatierte der Jurist und Historiker Ingo Müller im Januar 2010. Nur ein einziger ehemaliger Richter des Volksgerichthofes, Hans-Joachim Rehse, sei in der gesamten Geschichte der BRD jemals deswegen vor Gericht gestellt worden. Dieser Prozess endete am 6. Dezember 1968 mit einem Freispruch und »mit der empörenden Feststellung«, schreibt Müller, »das Nazi-Tribunal sei ein ordentliches Gericht und seine Richter seien nur dem Recht und ihrem Gewissen verantwortlich gewesen.« Erst 1985 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Resolution, in der man in dürren Worten erklärte, dass den Entscheidungen des Volksgerichtshofs keine Rechtswirkung mehr zukomme, und erst am 25. August 1998 wurden alle Urteile, die der Volksgerichtshof gegen Gegner des nationalsozialistischen Regimes gefällt hatte, also auch das vom 18. Februar 1943 gegen Ruth Oesterreich und Stephan Mathar, durch das »Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege« annulliert.

Von Birgit Schmidt erscheint im Oktober eine Biographie über Ruth Oesterreich im Verlag Edition AV