Wolfgang Schorlau: »Das brennende Klavier. Der Musiker Wolfgang Dauner«

Sozialer Aufstieg mit Jazz

Wolfgang Schorlau schreibt eine sehr offizielle Biografie des Pianisten Wolfgang Dauner.

Außenseiter – Spitzenreiter: Das Motto der alten DDR-Bastelsendung passt auch auf die Vita des Jazz-Pianisten Wolfgang Dauner, der es im Laufe seines 75jährigen Lebens zu Stuttgarts Kulturrepräsentanten schlechthin gebracht hat. Dass er dabei all die Jahre in der Stadt blieb, in der er als unerwünschtes, weil uneheliches Kind und damit schon als Außenseiter aufwuchs, ist das eigentlich Merkwürdige seiner Biografie: Denn ein schwäbischer Außenseiter flieht normalerweise, so schnell ihn seine Beine tragen, nach Hamburg, Berlin oder München; an Orte jedenfalls, wo abweichende Biografien und Lebensstile nicht so auffallen, in Städte, wo man auch schon in den Fünfzigern, als Wolfgang Dauner volljährig wurde, vor alltäglicher Drangsalierung durch Verwandte, Kollegen und Passanten – wie sie für das Sozialkontrollmodell des »Ländle« bis heute typisch ist – relativ sicher war.
Und doch ist auch das Leben des schwäbischen Daheim-Bleibers Dauner früh vom Willen zur Flucht geprägt, zu einer Flucht allerdings nicht in die Welt hinaus, sondern in die Musik hinein; in ihr entzog sich schon der Klavierschüler Dauner der Konvention, füllte musikalische Leerräume seiner Übungsstücke mit eigenen kleinen Ideen und änderte abgeschmackte Figuren nach eigenem Gutdünken ab. Zum Entsetzen seiner Großtante und Klavierlehrerin entdeckte der wie besessen übende Junge Improvisation und Offbeat auf eigene Faust, findet den Jazz – ohne noch von diesem musikalischen Mitbringsel der heranrückenden amerikanischen Truppen etwas zu wissen. Wolfgang Dauner bildet ein Verhaltensmuster aus, das seinen Spielstil vor allem in den ersten Jahrzehnten prägen sollte: Je schlimmer der Druck von außen wurde, desto wagemutiger improvisierte Dauner an seinem Piano, entwickelte dabei einen intensiven, gespannten, fast ruhelosen Stil.
Eine Art nach innen gewendeten Drucks also, den der Dauner-Biograf Wolfgang Schorlau durchaus spürt, wenn er Dauners Spiel so beschreibt: »Die Finger sind immer in Bewegung. Es gibt kein Anhalten, keine Ruhe. Nur Klänge, Akkorde. Leicht, singend, tänzerisch, dann wieder dramatisch intensiviert. Vielleicht hängt diese Dramatik damit zusammen, dass das Leben für ihn ursprünglich eine andere Rolle vorgesehen hat, nicht die eines großen, international anerkannten Musikers und Komponisten.« Trotz solcher Beobachtungen kommt das lebensgeschichtliche Motiv der Flucht in Tönen und in die Töne in Schorlaus Dauner-Buch »Das brennende Klavier« viel zu kurz, verschwindet, je näher sich Schorlau an die Gegenwart heranarbeitet, fast gänzlich hinter dem Helden-Epos eines sozialen Aufstiegs sondergleichen.
Dabei hatte es danach in den Fünfzigern zunächst gar nicht ausgesehen: Die überaus schwierigen Bedingungen seiner Kindheit lassen den jungen Dauner lyrisch vom »Cowboy-Land«, also Amerika, träumen, all seine Ersparnisse zielen allein auf ein Radio, um endlich die Musik Amerikas, den Jazz des AFN (American Forces Network), hören zu können. Schließlich findet der Klavierschüler in einer verlassenen Kaserne eine Trompete, das Instrument, das ihm 1956 den Besuch der Musikhochschule ermöglichen sollte – aber nicht ohne in den Jahren zuvor auf gehörigen Druck von Großtante und Pflegemutter »ebbes Gscheid’s« gelernt zu haben: Das war natürlich das Regionaltypische schlechthin, eine Lehre als Maschinenbauer in einem Familienunternehmen. In dem bisschen Freizeit, das blieb, führte er das Leben eines rebellierenden Jazz-Kids jener Tage, mit frechen Einlagen wie der bei einem Count-Basie-Konzert: Erst durch den Hintereingang für lau einschleichen, dann den zufällig freien Platz am Piano entern und einfach mitspielen (Bühnen-Security gab es damals noch nicht). Ansonsten übt Wolfgang Dauner in den Mittagspausen der 47-Stunden-Woche – plus des »freiwilligen« samstäglichen Putzens in der Fabrik – Trompete und Klavier.
Das Grundmotiv der frühen Jahre bleibt also: einerseits sich den sozialen Anforderungen beugen und das zugleich durch musikalische Exzentrik kompensieren, die Pflicht durch Offbeat und Synkope konterkarieren. Kein Wunder, dass es Dauners Trio ist, das bahnbrechend für Deutschland in den frühen Sechzigern ist und das den modernen Jazz revolutionierende Klavierspiel von Bill Evans aufgreift.
Diesen künstlerischen Freiraum aber erkauft sich Wolfgang Dauner durch einen Gang in die allerfinsterste badische Provinz: Sein persönlicher Förderer wird der Erbe der damals noch prosperierenden Villinger Saba-Werke, Hans-Georg Brunner-Schwer. Der Magnat ist Jazz-Liebhaber und leistet sich ein eigenes Studio samt dem eigenen Platten-Label MPS (Musikproduktion Schwarzwald): Die Musiker müssen in der Villa mit der Familie zu Abend essen und Brunner-Schwers Rolls-Royce bewundern, bekommen dafür aber immer wieder freie Hand für ungewöhnliche Produktionen: Am besten beleuchtet dieses Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Abhängigkeit und künstlerischer Freiheit der zeitliche Zusammenhang zwischen Dauners schlechtester Komposition und seiner innovativsten Phase: 1970 zwingt Brunner-Schwer Dauner zur Bearbeitung eines Glenn-Miller-Potpourris für das Saba-Werksorchester mit der Bedingung, dass das Opus keine einzige Synkope enthalten darf; Dauner gehorcht schließlich, weigert sich aber, das Werk auch nur ein einziges Mal anzuhören. Zugleich wagt er sich mit der LP »Rischkas Soul« (1970) und mehr noch mit »Knirsch« (1972) an einen avantgardistischen Versuch einer Fusion aus Free Jazz und Kraut-Rock – natürlich unter Nutzung von Brunner-Schwers Infrastruktur.
Doch gelingt es Dauner in diesen Jahren auch, sich aus dem Privat-Mäzenatentum zu lösen und unter die staatlichen Fittiche, namentlich die des Süddeutschen Rundfunks, zu wechseln; es sind die Jahre, in denen der Jazz, ja sogar der Rock zum musikalischen Aushängeschild eines sich kulturell modern geben wollenden Deutschlands wird. Und Dauner nutzt diese Gelegenheit ebenso wie andere seiner Kollegen: Jazz-Musiker wird zu einem anerkannten Beruf mit Sozialversicherungspflicht, einem Beruf, der einem sogar die Ehrenmedaille der Stadt Stuttgart und das Bundesverdienstkreuz aus der Hand von Günther Oettinger einbringen kann – ein Foto dieser Zeremonie nimmt denn auch die Top-Position auf Dauners Homepage ein.
Und warum auch nicht, ist das doch ein konsequentes Sinnbild der in den Siebzigern einsetzenden Musealisierung des Jazz, der zur zweiten Sparte (neben der Klassik) der öffentlichen Musikerziehung avanciert. Wolfgang Dauner seinerseits entblödete sich im Lauf der folgenden Jahrzehnte nicht, beispielsweise mit dem spießigsten aller Showmaster, Max Schautzer, eine Tournee zu machen oder für die Leichtathletik-WM in Stuttgart eine völlig vergessenswerte Hymne zu schreiben.
Leider gilt das Adjektiv »vergessenswert« auch für die zweite Hälfte von Schorlaus Biografie: Ab einem Punkt irgendwann in den späten Siebzigern werden die Geschichten langweilig, gegen Ende sogar lobhudelnd und klischeehaft. So tut man sich selber einen Gefallen, wenn man die Lektüre etwa beim Kapitel »Preise und Stipendien« beendet. Und was für Dauners Biografie gilt, trifft auch auf seine Diskografie zu: Spätestens ab »Changes« (1978) ist sie für den abenteuerfreudigen Hörer irrelevant.

Wolfgang Schorlau: Das brennende Klavier. Der Musiker Wolfgang Dauner. Edition Nautilus, Hamburg 2010, 224 Seiten, 19,90 Euro