Berlin Beatet Bestes, Folge 66

Ganz schön fado

Berlin Beatet Bestes. Folge 66. Hermínia Silva: »A Hermínia canta Yé-Yé« (1970).

Diese EP hing im Lissaboner Plattenladen Carbono in der Rua do Telhal als Dekoration an der Wand. Ich hätte sie allein wegen des Covers gekauft, ohne die Platte vorher gehört zu haben. Als ich fragte, wie viel die Platten an der Wand kosten, schüttelte der Verkäufer nur den Kopf. Nicht zu verkaufen. Schade, dachte ich. Aber auch, dass ich ja wirklich keine einzige Platte mehr »brauche«. Ich habe schon sehr viele. Durch Zufall fand ich die Platte dann bei Louie Louie in der Rua Nova da Trinidade. Nicht im besten Zustand, aber immerhin erschwinglich.
In diesem Laden konnte ich die Platte auch erstmals anhören. »Hermínia singt Yé-Yé« steht vorne drauf, und das ist auch tatsächlich das, was man zu hören kriegt. Keiner der vier Titel ist richtiger Beat, wie er auf den drei »Portuguese Nuggets«-Compilations zu finden ist (diese Sampler bieten einen guten Überblick über die portugiesische Rockszene der sechziger Jahre). Es ist falscher Beat, der noch dazu viel zu spät kam, die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1970. Da war der Rock überall auf der Welt längst progressiv. Und wer ist diese ältere Dame? Lustig singt sie »Chunga Chunga«, eine portugiesische Coverversion von »Sugar Sugar« von den Archies. Archie ist eine Comicfigur und in den USA so berühmt wie Micky Maus. Er hatte ab Mitte der Sechziger sogar eine eigene Trickfilmserie, die Archie Show. Die darin entwickelte virtuelle Garage-Band »The Archies« kam dann 1969 mit »Sugar Sugar« auf Platz Nummer eins der US-Hitparade. Es war die einzige fiktive Musikgruppe, die jemals in die Top Ten gelangte.
Das alles wusste ich, als ich in Lissabon im Plattenladen stand. Aber wer war Hermínia? Erst zuhause in Berlin verschafften mir Google und Wikipedia Aufklärung. Hermínia Silva gehört zu den größten Stars des Fado. Als sie 1993 starb, hatte sie eine mehr als 60 Jahre währende Karriere als Sängerin gemacht.
Eigentlich kann ich aber nichts mit Fado anfangen. Meist klingt es nach schrecklichem Gejammer. Nach einem Lied denke ich bereits: Leg mal ’ne andere Platte auf! Wer mag schon Gejammer. Umso überraschter war ich, als ich in Lissabon allerlei lustige Fado-Platten fand: Songs über Fußball, die langen Haare der jungen Leute und welche, die sich über den Faschismus lustig machten. Auf meinem Blog habe ich sie alle schön ordentlich gescannt und digitalisiert vorgestellt. Diese Platte von Hermínia, der berühmten Fado-Sängerin, ist dagegen gar kein Fado. Es singt eine 63jährige Dame, mit großer Stimme und offensichtlichem Vergnügen an der Maskerade. Sie singt mit einem Augenzwinkern Popsongs für Teenager. Sicher, Alter ist nur eine Zahl, und ich persönlich habe noch nie irgendeine Verpflichtung mit irgendeiner Zahl verknüpft. »Jetzt bist du 20 und musst das tun, und jetzt bist du 40 und musst das tun.« So zu denken, macht alt. Trotzdem hoffe ich, mit 63 auch noch mit so viel Witz und Spaß meine Feder zu schwingen. Und dass ich tanze und lache und am Leben bin.