Das mediale Schauspiel um die Proteste

Mal mir ein Bild vom Bürgerkrieg

Angesichts des Konflikts um Stuttgart 21 wollen deutsche Medien eine »neue Protestkultur« oder gar eine »Dagegen-Republik« ausgemacht haben. Dass die Gegner des Stuttgarter Hauptbahnhof medial so viel Aufmerksamkeit erhalten, verdankt sich einer tiefgreifenden Spaltung des deutschen Bürgertums.

Die »Schere zwischen Arm und Reich« öffnet sich in der ganzen Euro-Zone, das ist das Wesen des Systems selber, doch hierzulande, sagt man, öffne sie sich schneller und stärker als anderswo. Unglücklich genug sind schon jene, die nahe genug am Gelenk der Schere sitzen, um nicht genau zu wissen, in welche Richtung das eigene Leben geht. Hier findet derzeit eine Spaltung des Restbürgertums statt, die am Ende jeden einzelnen Kopf schmerzen muss. Der perfekte Ausdruck dafür ist der demoskopische Aufstieg der Grünen, die offensichtlich die an den Protesten beteiligten Bürger erreichen. Sie tun das nicht durch eine eindeutige und kämpferische Politik, sondern durch Selbstwidersprüchlichkeit. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: In Bayern stimmen die Grünen in den politischen Institutionen für die Olympia-Bewerbung, zugleich profitieren sie von der Stimmung gegen das Projekt. Der Widerspruch ist nicht nur einer zwischen Führung und Basis, er entspricht dem Wesen des Projekts des »grünen Ökonomismus«. Man mag das Taktieren durchschauen und das Stimmungshoch für eine Seifenblase halten, die bei den Revolten der guten Bürger entsteht und später platzen wird, und dennoch drückt gerade die Widersprüchlichkeit der Grünen wie das Verschwimmen der Konfrontationen in den Medien das Wesen der prekären bürgerlichen Klasse aus, die selber nicht minder unentschlossen und verstört auf die eigene Lage reagiert.
In dieser Konstellation ist nur weniges so weit ausgehandelt, dass es in der Mehrheitskultur als einigermaßen geklärt erscheint. Dazu gehört der Polizeieinsatz in Stuttgart: Das geht gar nicht. Oder die Politiker: lügen, was das Zeug hält. Und schließlich scheint auch die Position der Demonstranten einigermaßen geklärt: Es sind die Guten. Auch wenn sie vielleicht nicht Recht haben, sind sie ikonografisch und dramaturgisch als die Guten kenntlich. Dieser Konsens wurde, wenn auch vorläufig und eher emotional als diskursiv vermittelt, in den bürgerlichen Medien hergestellt, in Zeitungen, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit seiner Sowohl-als-auch-Dramaturgie, im »gepflegten« Bilderraum. Die Trash-Medien, deren Einfluss am Ende überwiegt, hielten sich zunächst zurück. Was in der breiten Mehrheit ankommen wird, ist noch unklar.

Denn ob der Aufstand der guten Bürger gegen destruktive Kapital- und Bagger-Bewegungen zu einem gesellschaftlichen Projekt wird, entscheidet sich womöglich am Verhalten der Bild-Zeitung, die wiederum eine Leserschaft repräsentiert, unter der sich wenige Demonstranten gegen Stuttgart 21, die Olympischen Spiele oder Atomkraftwerke befinden dürften. Wo der Weg auch hin gehen könnte, verrät eine Überschrift der Bild, der erster Häme-Ausfall: »Protest-Opa gerät ins Zwielicht«. Da es immerhin um einen älteren Mitbürger geht, der in Gefahr ist, sein Augenlicht zu verlieren, testet man bereits die Bereitschaft der Leser zur Erbarmungslosigkeit aus. Vielleicht mag ja diese Mehrheit genau so gern »Protest-Opas« hassen wie langhaarige Chaoten?
Warum aber die bürgerlichen Medien die Protagonisten des bürgerlichen Aufstands schätzen, versteht man nur zu gut: Man spricht die gleiche Sprache, man teilt »Werte«, von denen man ahnt, dass sie im Begriffe sind, verloren zu gehen, und zwar durch eine neuerliche Allianz der ansonsten so trefflich getrennten Kulturen von Geldbewegern und Bild-Lesern. Die bürgerlichen Medien können sich nun zugute halten, die Produktion eines neuen Feindbildes verhindert zu haben (sei es der »Protest-Opa« oder die traumatisierten Gymnasiasten, die Demokratie-Unterricht am eigenen Körper erlebten) und damit auch die offenkundig beabsichtigte Spaltung der bürgerlichen Demonstranten. Vielleicht könnte man, lässt man die FAZ einmal außen vor, sogar ein kleines Projekt erkennen, auf vorsichtige, abwägende Distanz zu den jüngsten brachialen Manifestationen der beschleunigten Kapitalakkumulation zu gehen, und das wäre auch nicht ganz uneigennützig, geht es dabei doch auch um die eigene Existenzberechtigung.
Der Allianz der Guten kommt zudem entgegen, dass auf der anderen Seite offensichtlich eine geballte Ladung von Dummheit und Ignoranz steht, deren Charisma und Unterhaltungswert gegen Null tendiert. Es sind die Technokraten und Egomanen, die selbstherrlichen Entscheider und Betonköpfe, denen Demokratie nichts als lästige Verzögerung ist. Die baden-württembergische Regierung, die Polizeiführung oder Bahnchef Rüdiger Grube, der den Kontrahenten schlicht das Widerstandsrecht absprach, wirken, als hätte man sie regelrecht erfunden, um die Bürger zu empören. Es scheint, als habe man es geradezu darauf angelegt, nicht nur in den Demonstranten den alten Feind (die Kommunisten, die ungewaschenen Chaoten, die Rowdies) zu rekonstruieren, sondern dies auch durch die eigene Präsentation als Feindbild zu beschleunigen. Wenn Innenminister Heribert Rech formuliert, die Demonstranten würden von einer »grundsätzlichen Antipathie gegen den Staat« geleitet, dann beleidigt er genau jene, die sich als den harten Kern des demokratischen Staatsvolks verstehen. Dass es bei den bürgerlichen Aufständen nicht mehr um punktuelle Widerstände, längst nicht mehr allein um das Ärgernis vor der eigenen Haustür, sondern um die Konfrontation einer wachsenden Gruppe von Menschen mit der Regierung geht, dafür hat diese selbst gesorgt.

Die Citoyens, die im Zentrum des Protests gegen Stuttgart 21 stehen, inszenieren sich betont bourgeois, etwa sitzen bei »Beckmann« einem Bahn-Manager und der baden-württembergischen Verkehrsministerin Tanja Gönner der Schauspieler Walter Sittler und die Stuttgarter Bürgerin Christine Oberpaur gegenüber, und schon durch deren äußere Erscheinung wird klar, dass hier Vertreter eines alten, von Besitz, Kultur, Bildung und bürgerlicher Liberalität geprägten Bürgertums Vertretern eines neuen Bürgertums gegenübertreten, das für Effizienz, Populismus und Technologie steht. Sittlers Attacke gilt denn auch jener Politik, die die Menschen »allein lässt«.
Diese Rhetorik wird von den Medien nur zu gerne aufgenommen: Es geht offensichtlich um Menschen, die gerade eben erst »enttäuscht« wurden, die bis gerade eben an die harmonische Verbindung von Demokratie und Kapitalismus glaubten. Und tatsächlich erhebt sich daraus die Forderung nach der Volksabstimmung als klammheimlicher Bankrotterklärung der repräsentativen Demokratie. Zum indirekten Verhandlungsgegenstand der Talkshows mit ihren offensichtlichen Image-Inszenierungen ist der Tod des Thomas-Hobbes-Staats geworden, der für das faire gegenseitige Vertragsverhältnis seiner Bürger zu sorgen hat. Seine Vertreter, die immer wieder nur auf die Vertraglichkeit, die demokratische Rechtsstaatlichkeit, auf die formale Regelung des Verhältnisses von Staat, Wirtschaft und Volk pochen, erscheinen als Vertreter einer untergehenden Ordnung. Doch ihre Gegenüber machen den Eindruck, als wären sie sich des Ausmaßes dieses Zusammenbruchs gar nicht bewusst, ja mehr noch, als wollten sie nichts lieber, als sich von der ungeliebten Straße wieder zurückzuziehen in bürgerliche Innen- und Kulturwelten.
Auf diese Krise der repräsentativen Demokratie antwortet Ministerpräsident Stefan Mappus mit einem dieser Blubberworte, die die Wandlung von Demokratie in Postdemokratie begleitet haben: »Dialogagenda«. Und in einem offenen Brief, den die Stuttgarter Zeitung abdruckt, bleibt er der progressistischen Linie, trotz aller Zusicherung, »bei Vorschlägen genau hinzuhören«, treu: »Wir in Baden-Württemberg haben uns stets dadurch ausgezeichnet, dass wir die Zukunft schon aktiv gestaltet haben, während andere noch verharrten. Daimler und Bosch sind nur zwei Namen unter vielen, die rund um den Globus einen guten Klang haben.«
Die handlungsmächtige Wirtschaft, das klassische Vorbild der Progressisten. Doch Daimler-Chef Dieter Zetsche hat sich schnell davon distanziert, auf die Seite der Befürworter festgelegt zu werden, weil auch die guten Bürger des Aufstandes Mercedes-Fahrer bleiben oder werden sollen. »Der Riss geht quer durch die Gesellschaft, durch Unternehmen, durch Familien«, schreibt die FAZ und belegt dies mit Zetsche, »der selbst ein Verfechter von Stuttgart 21« sei, aber »Schwierigkeiten« habe, »seine Frau vom Demonstrieren abzuhalten«. »Ich müsste sie anbinden«, sagt Zetsche der FAZ. Da lacht er, der FAZ-Leser. Dem gleichen Artikel zufolge warnt der Unternehmensberater Matthias Filbinger, der übrigens Sohn des einstigen Ministerpräsidenten ist: »Man muss sensibel sein. Jeder Gewerbetreibende muss prüfen, wie förderlich oder schädlich sich eine Äußerung aufs Geschäft auswirkt.«
Bei der politischen und medialen Spaltung des deutschen Bürgertums also ist die Wirtschaft aus nahe liegenden Gründen nicht bereit, offen für den progressistischen und gegen den konservativen Werte-Flügel Stellung zu nehmen. Gewitzt, wie sie nun einmal sind, versuchen sich die Markenhersteller beide Kundenstämme zu erhalten, so wie sich die Grünen gewitzt in beiden Diskursen bewegen wollen. Und gewitzt, wie sie nun einmal sind, könnten die Medien bis in die bürgerliche Mitte hinein notfalls das Narrativ wechseln und sich der Allianz gegen die »Feinde des Fortschritts« anschließen. Und dann wäre der Aufstand der Bürger an der Gewitztheit ihrer Instrumente gescheitert.

Oder es käme anders. Stellen wir uns vor, alle diese Konflikte um Stuttgart 21 und Atommüll-Endlager seien nur Vorgeplänkel für einen fundamentaleren Konflikt, und die beiden Fraktionen des deutschen Bürgertums ließen sich durch alle Gewitztheit nicht mehr zusammenhalten, es käme zur Spaltung des Bürgertums in den progressistisch-ökonomischen und den humanistischen Werte-Flügel, die staatstragende Klasse wäre entzweit. Und käme der deutsche Staat ohne diese staatstragende Klasse aus?
Stellvertretend wird also in den Medien einem Staat der Prozess gemacht, der die Beziehung zu seinem Bürgertum verloren hat. Nicht zufällig wird immer wieder betont, dass es nicht so sehr um die Bevölkerung gehe als um »die Bürger«. Wahlweise könnten wir nun behaupten, das sei ein verdammt guter Trick, die Ausbreitung der Proteste zu verhindern. Hartz IV- und Niedriglohnempfängern kann es egal sein, ob ein Bahnhof über oder unter der Erde liegt, wie viele Milliarden dafür verballert werden und in wie vielen Minuten man schneller in Paris wäre. Tatsächlich gibt es ganz einfach niemanden, der von Stuttgart 21 wie von der Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerk wirklich profitiert, außer eben den üblichen Profiteuren. Nur ein vages Versprechen von »Fortschritt« bleibt, von Urbanität und Dynamik, das nur leider keinen Inhalt mehr hat. Der progressistische und der konservative Flügel des Bürgertums, die sich im klassischen kapitalistisch-demokratischen Staat ergänzten, literarische und moralische Reibereien inbegriffen, müssen sich immer mehr entzweien, wenn der Fortschritt nichts mehr verspricht außer der weiteren Produktion von Armut auf der einen und Profit auf der anderen Seite.
Angesichts dessen, dass dem Fortschrittsglauben sein soziales Beiwerk verlustig ging, wandeln sich seine Vertreter in Karikaturen des einstigen progressistischen Flügels. Wie weit das gehen kann, zeigt der baden-württembergische Tunnelbau-Unternehmer Martin Herrenknecht, der in der Talkshow »May-Britt Illner« eine sehr merkwürdige Satzkonstruktion wählt: »Eine Demo ist heute, in einer Demokratie, eben in.« Wir wagen es nicht, diesen Satz textkritisch zu behandeln, jedenfalls nicht ohne Rücksprache mit einem Rechtsanwalt, aber Herr Herrenknecht (für den Namen kann er ja nichts, es gibt nur seltsame Zufälle in dieser Welt), offenbart sich selbst genug: »Wenn die CDU die Landtagswahlen verliert, würde ich in die Schweiz gehen.« Es sind mediale Schauspiele wie diese, die die Spaltung des Bürgertums vorantreiben. Denn vor lauter »positivem Denken« haben die Vertreter der Progressisten etwas vergessen, was für das Bürgertum nicht nur äußerlich legitimierend war: Bildung. Auch insofern sind Talk Shows ein ideales Mittel für diese Auseinandersetzung, weil hier gebildete Sprache auf technokratische, humanistische auf Verkaufssprache trifft.

Es ist ein Kampf zwischen den Moralisten und den »Leistungsträgern« in dieser Klasse entbrannt, jenen, die »es schaffen« wollen, koste es, was es wolle, und die alle verachten, die es nicht »schaffen« können oder wollen. Die Hysterisierung entsteht, weil den Machern plötzlich etwas im Weg liegt, was sie nicht begreifen, und umgekehrt begreifen die »guten Bürger des Aufstands« gar nicht, mit wem oder was sie da so lange liiert waren. Es geht nicht um die sogenannten Heuschrecken, sondern um die dynamischen Ärmelaufkrempler, vielleicht gar nicht mal um die Profiteure, sondern um die Maschinisten, deren Bilder im Fernsehen, wie das von Mappus, zunehmend zur Karikatur der Machtübernahme der Techno- und Mediokraten werden.
Nun könnte man wohl sagen, dieser Kampf innerhalb des Bürgertums sei auch als Ablenkungsmanöver gegenüber den »eigentlichen« sozialen Bruchlinien zu verstehen. Weder Cindy aus Marzahn noch Hansi Hinterseer sind von diesem Kampf um die Vorherrschaft im idealen Bürgertum betroffen, und auch in den oberen Etagen der Bürotürme ändert sich nicht viel. Das Kapital sucht sich eben etwas anderes, wenn ein unterirdischer Bahnhof gerade nicht geht.
Aber bürgerliche Revolten haben nicht unbedingt den Wandel des Systems als Ziel, nicht einmal prinzipielle Kritik, sondern, und immerhin: Begrenzung der Macht der Regierenden. Im Zweifelsfall: Austausch der Regierenden. Der Angriff des moralischen Flügels, der durch die Auswahl der Talkshowgäste als Allianz der Großmütter und Enkel erscheint, die gegen die Politikergeneration des Neoliberalismus ankämpft, erfolgt in dem Moment, wo diese ihre Ideologie in einer Mischung aus wirrem Biologismus, Sozialdarwinismus, Pop-Hedonismus und Max Weberschem Leistungskapitalismus findet, eine Ideologie, die bürgerlich ist und zugleich etliche bürgerliche Tugenden radikal entsorgt hat.
Angesichts dessen sucht die Öffentlichkeit ein neues Bild vom Bürger, sowohl vom Bourgeois wie auch vom Citoyen. Für diese Suche eignet sich der Stuttgarter Bahnhof bestens als symbolisches Werk, hier werden drei der bürgerlichen Heiligtümer zerstört: ein Stück befriedete und »gerettete« Natur, ein wahres Denkmal der einstigen produktionskapitalistischen Progression und schließlich eine Form des öffentlichen Raums, in dem sich schon immer Profitinteresse und staatliche Fürsorge getroffen haben. So geht es um das neue Gesicht der bürgerlichen Klasse, und auch um neuen Raum jenseits von Effizienz und Unterhaltung.