Plündern mit Vertrag
Seit einigen Wochen sieht sich die deutsche Regierung – nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit – mit rumänischen Entschädigungsforderungen konfrontiert. Deutschland hat Schulden bei dem südosteuropäischen Land, die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen und zur Finanzierung des Zweiten Weltkriegs gemacht wurden. In der Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 herrschte in Deutschland Devisenknappheit. 1934 verzeichnete die Handelsbilanz ein Defizit von 284 Millionen Reichsmark. In dem Jahr entwickelte der damalige Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht deshalb den »Neuen Plan«. Er empfahl darin den Abschluss bilateraler Clearing-Verträge. Diese sahen vor, dass das Deutsche Reich und seine Handelspartner ihre Ausstände gegenseitig verrechneten, so dass nur der Überschuss der Forderungen durch Zahlung oder Gutschrift zu begleichen war.
Kurz nachdem 1934 erste Clearing-Abkommen abgeschlossen worden waren, forderte Schacht die Verbände der deutschen Industrie in geheimen Rundschreiben auf, die Importe aus den Clearing-Ländern zu erhöhen und Exporte dorthin zu verringern, was zu deutschen Clearing-Schulden beziehungsweise ungetilgten Clearing-Forderungen der Handelspartner führte. Der »Neue Plan« war jedoch nicht nur eine kurzfristige Reaktion auf die Devisenknappheit, sondern zugleich ein Instrument für eine planvolle Veränderung der deutschen Einfuhr. Er richtete den deutschen Außenhandel nach rüstungs- bzw. kriegswirtschaftlichen Prioritäten aus. Während die Einfuhr von Fertigwaren und Konsumgütern beschränkt wurde, sollten vor allem die Staaten Südosteuropas Agrarprodukte und rüstungsrelevante Rohstoffe liefern.
Nachdem Jugoslawien bereits im Mai 1934 ein Abkommen unterzeichnet hatte, verpflichtete sich Rumänien im März 1935 dazu, 150 000 Tonnen Fleisch und 500 000 Tonnen Futtergetreide zu liefern. Ein weiterer Anteil am Handelsvolumen entfiel auf das rumänische Erdöl, das dann während des Krieges zum wichtigsten Rohstoff für die deutsche Armee wurde. Um ihre Clearing-Guthaben abzubauen, bestellten die südosteuropäischen Regierungen Waren aus dem Deutschen Reich, die sie zuvor aus anderen Industriestaaten bezogen hatten. Die deutsche Wirtschaft lieferte jedoch Produkte, für die es in den südosteuropäischen Ländern kaum Verwendung gab, wie Kieferprothesen, Schreibmaschinen, Spielzeug und ausrangierte Waffen. Auch eine große Menge chemischer Erzeugnisse wurde zu überhöhten Preisen nach Südosteuropa exportiert. Dennoch stiegen die deutschen Clearing-Schulden stetig an.
Nachdem das Ziel der deutschen Politik, ganz Südosteuropa unwiderruflich an die eigene Großraumwirtschaft zu binden, Mitte der dreißiger Jahr offensichtlich geworden war, stieß die deutsche Clearing-Politik auf wachsenden Widerstand. Vor allem Rumänien und Jugoslawien drängten darauf, ihre Clearing-Guthaben zu verringern, und weigerten sich, Produkte, die sich auf dem Weltmarkt gegen Devisen verkaufen ließen, in größeren Mengen in das Deutsche Reich auszuführen. Rumänien limitierte 1937 den Export von Erdöl und Erdölprodukten in das Deutsche Reich. Jugoslawien beschloss, Kupfer nur noch gegen Devisen zu liefern.
1937 versuchte die rumänische Regierung, das Handelsvolumen zu beschränken. Der deutsche Einfluss auf den rumänischen Außenhandel war jedoch bereits so groß geworden, dass sich die Regierung in Bukarest nicht durchsetzen konnte. Der deutsche Verhandlungsführer Helmut Wohltat teilte seinem Vorgesetzten Hermann Göring mit, dass »nach langen schwierigen Verhandlungen« ein neuer Handelsumfang festgelegt worden sei, der um ein Drittel über dem des Vorjahres liege.
Einen noch größeren Erfolg konnte Wohltat im Frühjahr 1939 vermelden. Unter dem Eindruck des deutschen Einmarschs in die Tschechoslowakei unterzeichnete die rumänische Regierung ein umfassendes Wirtschaftsabkommen. Es wurde zum Modell dafür, wie Südosteuropa dauerhaft in die deutsche Kriegswirtschaft eingebunden wurde. Das auf einen Zeitraum von fünf Jahren angelegte Abkommen sah vor, den auf Deutschland entfallenden Anteil am rumänischen Außenhandel auf 45 Prozent zu erhöhen, wobei die rumänische Agrar- und Rohstoffproduktion auf die Nachfrage der deutschen Wirtschaft ausgerichtet werden sollte. Erdöl, Mangan, Kupfer, Bauxit, Chromerz und andere Rohstoffe aus Rumänien wurden zu einer entscheidenden Grundlage des deutschen Angriffskriegs.
Nach Recherchen des rumänischen Ökonomen Radu Golban summierten sich die deutschen Schulden bei Rumänien im September 1944 auf 1,126 Milliarden Reichsmark. »Dieses Guthaben dürfte sich heute«, sagt Golban, »mit rund 2,5 Prozent verzinst, auf knapp 18,8 Milliarden Euro belaufen. Würden die von Walter Funk, dem letzten Reichsbankpräsidenten, für konsolidierte Clearing-Schulden vorgesehenen vier Prozent Zinsen anfallen, so wäre der Betrag noch um einiges höher.«
Golban hat in jüngster Zeit mit Artikeln und Fernsehinterviews in Rumänien auf das Thema aufmerksam gemacht, das öffentliche Interesse ist groß. Im Juni fragte der im Auftrag des rumänischen Instituts für ökonomische Beziehungen arbeitende Wissenschaftler die deutsche Regierung in einem Brief, wann und wie sie die noch offenen Schulden begleichen wolle. Eine Antwort steht immer noch aus.
Die schwarz-gelbe Koalition konnte die Sache jedoch nicht völlig ignorieren. Ende August stellte die Linksfraktion im Bundestag eine kleine Anfrage über »mögliche finanzielle Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Rumänien aus dem Clearing-Vertrag vom März 1939«. Im September kam die Antwort der Bundesregierung: Der Vertrag sei erst am 20. Dezember 1939 ratifiziert worden und am 20. Januar 1940 in Kraft getreten. So lügt die Bundesregierung das Clearing-Abkommen mit einer bewusst falschen Auslegung zu einem Kriegsvertrag um und könnte sich auf das Londoner Schuldenabkommen von 1953 berufen, in dem alle aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges resultierenden, gegenüber Deutschland erhobenen Entschädigungsforderungen geregelt wurden. Golban liegt jedoch das Reichsgesetzblatt vom Mai 1939 vor, in dem das Inkrafttreten des deutsch-rumänischen Wirtschaftsvertrags vermeldet wird. Der »Linken« ist in ihrer kleinen Anfrage ein Fehler unterlaufen, denn die deutschen Clearing-Schulden gehen nicht erst auf den Vertrag vom März 1939 zurück, sondern auf das Abkommen von 1935.
Trotz aller Versuche, die Angelegenheit zu ignorieren oder herunterzuspielen, könnte diese für die deutsche Regierung noch unangenehm werden, wenn die rumänische Regierung die Clearing-Ansprüche zur staatlichen Forderung erhebt. Sollte Rumänien erfolgreich auf der Rückzahlung der Schulden bestehen, könnte dies zu einem Präzedenzfall werden. 1938 unterhielt das Deutsche Reich Clearing-Abkommen mit 25 Staaten, darunter Jugoslawien, Bulgarien, die Tschechoslowakei und die Sowjetunion. Allein gegenüber Ungarn und Kroatien wurden Clearing-Schulden von umgerechnet jeweils etwa einer Milliarde Euro angehäuft. Möglicherweise wurde Angela Merkel am Dienstag während ihres Kurzbesuchs in Rumänien auf das Thema angesprochen. Die rumänische Öffentlichkeit traut ihrer Regierung jedoch keine offene Konfrontation zu – »aus Angst vor einer eventuellen Verschlechterung der Beziehungen mit Deutschland«, wie der rumänische Blogger Danu Popa schreibt.