Rückblick auf die Nuller Jahre, Teil 4 der Serie

Dispo im Keller, Familie kaputt

Wie haben Bewegungslinke die nuller Jahre erlebt? Ein persönlicher Rückblick.

Die nuller Jahre fingen schon ganz schlecht mit einem Blutbad an. So wie der Fall der Berliner Mauer die Achtziger frühzeitig beendete, markierte der Fall der Zwillingstürme des New Yorker World Trade Center den verspäteten Beginn der nuller Jahre. Der Anschlag vom 11. September 2001 war der Anfang einer neuen politischen Zeit. Während die Jihadisten mordeten und die USA ihren »War on Terror« mit Guantánamo Bay und Waterboarding begannen, saß ich im Knast.
Wenige Monate zuvor hatte ich mich beim EU-Gipfeltreffen im schwedischen Göteborg mit Pflastersteinen darüber beschwert, wie die Welt eingerichtet ist. Die schwedischen Staatsanwälte zeigten sich sehr beeindruckt von so viel Hingabe für die gute Sache. Sie würdigten mein sportliches Engagement mit Isolationshaft und der Manipulation von Beweismitteln, also den üblichen Begleitgeräuschen der politisch motivierten Strafverfolgung. Während ich im schwedischen Luxuskerker die Vorzüge des sozialdemokratischen Strafvollzugs genießen durfte, hatten einige meiner Freunde weniger Glück. Sie wurden beim Gipfelhopping in Genua von der Polizei festgenommen, zusammengeschlagen und gefoltert.
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen! Wir glaubten die Vorwehen einer globalen Revolte, eines neues »1968«, zu spüren. In Mexiko marschierten die Zapatisten auf die Hauptstadt, in Porto Alegre fand das erste Welt­sozialforum statt, in Italien wurden die Cobas-Basisgewerkschaften stärker, und auf den Barrikaden von Prag, Göteborg und Genua kam ein europäischer Black Block zusammen. Natürlich übten wir auch Kritik an der Antiglobalisierungsbewegung. Aber trotz ihrer offensichtlichen inhaltlichen Schwächen, ihres sozialdemokratischen Ideologiegerümpels, machte uns die »Bewegung der Bewegungen« Hoffnung. Jetzt kam es nur noch darauf an, ihr die reaktionären und reformistischen Dummheiten aus­zutreiben. Tatsächlich wurde in den besten Momenten des »Summer of Resistance« 2001 nicht mehr der Neoliberalismus, sondern der Kapitalismus kritisiert. Mit den Todesschüssen und der Polizeifolter in Genua geriet die Bewegung in einen kurzen Schockzustand. Klar war, dass das so nicht mehr weiter gehen konnte.
Dann kam der 11. September 2001. Mit ihren Terroranschlägen lieferten die Jihadisten ungefragt einen ganz eigenen Beitrag zur Antigloba­lisierungsbewegung und beförderten sie vom Schock ins Koma. Die Restbestände der radikalen Linken spalteten sich mal wieder. Da waren zum einen die Prediger eines platten Antiimperialismus, die die Anschläge klammheimlich als unschöne Rache der Ausgebeuteten und Unterdrückten beklatschten. Auf der anderen Seite stritt man plötzlich getreu dem Motto des westlichen Gotteskriegers Bush (»You are with us, or you are with the terrorists«) für freedom and democracy. Für die bombenfreundliche »Fanta statt Fatwa«-Fraktion war nicht mehr »Sozialismus oder Barbarei«, sondern »Kapitalismus oder Barbarei« das Schlagwort der Stunde.
Wenn man sich nicht gerade über den Afghanistan-Krieg stritt, diskutierte man das postoperaistische Antidepressivum: »Empire – die neue Weltordnung«. Das Buch von Michael Hardt und Antonio Negri wurde zum wichtigsten Diskussionsgegenstand der zerfallenden Antiglobalisierungsbewegung. Slavoj Žižek adelte es als den Versuch, ein neues kommunistisches Manifest für das 21. Jahrhundert zu schrei­ben. Natürlich konnte das Buch nicht die geweckten Erwartungen erfüllen. Insbesondere der Optimismus der Autoren und die euphorische Beschwörung einer »nicht zu unterdrück­ende(n) Leichtigkeit« sowie des »Glück(s), Kommunist zu sein«, erschlossen sich mir nicht so ganz. Aber in meinem schwedischen Exil war es sowieso schwierig, solche Diskussionen zu verfolgen.
Nach meiner Abschiebung hatte ich entsprechend große Orientierungsschwierigkeiten. Nicht nur der plötzlich eingeführte Euro irritierte mich, sondern auch, dass es das fragile »Wir«, die Klammer, die verschiedene Fraktionen der radikalen Linken zusammengehalten hatte, nicht mehr gab. Dieses eigentlich erfreuliche Zurückweisen linker Familienidentitäten hatte auch eine deutlich verminderte Handlungsfähigkeit zur Folge. Eine solidarische Bezugnahme aufeinander verbot sich angesichts der großen politischen Differenzen innerhalb der Bewegungslinken sowieso. Ich nahm Abschied von der unscharfen Selbstbezeichnung als Linker. Ich nenne mich schließlich auch nicht einen Kommunisten, da ich nichts mit Lenin, Stalin, Mao oder dem Realsozialismus zu tun habe. Es war die Angst, mit den falschen Leuten und Ideen in Verbindung gebracht zu werden.
Im immer wieder aufflammenden Israel-Palästina-Konflikt traf Staatsterror auf Staatsgründungsterror. Während da gewaltsam für eine falsche Idee gestritten wurde, blieb ich in einer sozialrevolutionären Parteilichkeit beheimatet. Zwei Staaten gegen das Proletariat sind zwei Staaten zu viel. Aber unterschätzte ich dabei nicht den islamistischen Fundamentalismus und den Antisemitismus? War ich nicht schon weit im Lager der Antizionisten angekommen? »No war but classwar« war grob meine Position zum neuen Irak-Krieg 2003. Da machten die Falschen mit den falschen Mitteln das Richtige – sie stürzten einen der übelsten Diktatoren der Region. Aber wie konnte man für den Sturz von Saddam und gleichzeitig gegen diesen Krieg sein? Wie konnte man gegen den Krieg demonstrieren, ohne gemeinsame Sache mit antiamerikanischen Deppen zu machen? Der Balanceakt misslang. Ich machte das, was ich immer mache, wenn ich unsicher bin: Ich hielt die Klappe und blieb zu Hause.
Die sich herausbildenden Protestbewegungen gegen die »Agenda 2010« und »Hartz IV« kamen mir gerade recht. Hier war alles etwas übersichtlicher. Darüber hinaus waren renitente Arbeits- und Karriereverweigerer wie ich direkt von den hier kritisierten Maßnahmen betroffen. Der Dispo war stets bis zum Anschlag überzogen. Freunde nervten mit guten Ratschlägen, die Agentur für Arbeit mit handfesten Drohungen, und die Revolution war auch nicht in Sicht.
Natürlich konnte auch der bescheidene Protest nicht die neuen Erwerbslosengesetze oder die weitere Demontage des Sozialstaats verhindern, aber in den nuller Jahren wurden soziale Kämpfe ein zentrales Thema für die Bewegungslinke. Die Verwirrung und Sprachlosigkeit der frühen nuller Jahre verschwand dabei. Auf Veranstaltungen stritt man sich nun wieder über Aneignung, Klassen und Klassenkampf, Postoperaismus und Wertkritik. Die Aufforderung der Regierung an die angeblich spätrömisch-dekadenten Subalternen, den Gürtel enger zu schnallen, wurde mit Parolen wie »Ende der Bescheidenheit« und »Wir wollen alles!« beantwortet.
In Berlin und Hamburg wurde die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten im Rahmen der »Kiezaufwertung« zum großen Thema. Angehörige der linken Szene setzten im Kampf gegen die Gentrifizierung sehr medienwirksam und ziemlich unfair Privatautos in Brand. Ab­gesehen von Aufrufen zum Protest gegen das G8-Treffen in Heiligendamm waren die nuller Jahre von politisch erfolglosen Verteidigungskämpfen geprägt. Wie immer wurde davor gewarnt, dass die Lebensbedingungen schlechter würden, vor dem Sozialabbau, der Klimakata­strophe, dem Überwachungs- und dem Atomstaat. Dabei war und ist, dass die Welt als »fortwährendes Blutbad« (Negri/Hardt) eingerichtet ist, doch Skandal genug. Die nuller Jahre waren finster, die Jahre, die ihnen folgen, werden nicht besser sein.