Lektionen für Gastgeber. Auszug aus dem Buch »Anständig trinken«

Wie ein Golfball, der in eine leere Badewanne gefeuert wird

Acht Mal werden wir noch wach, dann ist schon wieder Weihnachten: Es will gegessen und getrunken werden. Und Gäste wollen durchgefüttert und bewirtet werden. Doch die Zeiten sind härter geworden. Von der hohen Kunst, Gäste übers Ohr zu hauen, während Sie sie scheinbar äußerst zuvorkommend behandeln, und vom richtigen Umgang mit dem Kater. Zwei wertvolle Lektionen für Gastgeber.

Der geizige Gastgeber. Es geht hier nicht darum, seine Gäste nur in puncto Quantität und Qualität zu leimen – jeder Trottel kann marokkanischen Rotspon in alte Burgunderflaschen umfüllen oder sich, kaum sind die Gäste da, so aufführen, als hätte er noch nie etwas von einer Erfindung namens Alkohol vernommen – die Kunst besteht viel eher darin, Ihre Gäste übers Ohr zu hauen, während Sie sie scheinbar, und vor allem in den Augen der Ehefrauen, äußerst zuvorkommend behandeln. Der Sache sind von Natur aus Grenzen gesetzt. Von daher ist es erstrebenswert, dass auf dem Heimweg unter allen Paaren Streit ausbricht. Hierbei sollte er Ihre Gastfreundschaft in Zweifel ziehen, wohingegen sie Ihre Umsichtigkeit und Wärme anführt und ihrem Mann zugleich vorwirft, er sei ja nur ein frustrierter Säufer. Maßnahmen, die geeignet sind, solcherlei Zwietracht unter den Paaren zu säen, sind der besseren Übersicht wegen mit einem • markiert.
• 1. Punkten Sie gleich zu Beginn bei der Begrüßung, indem Sie jeder Dame eine Rose überreichen. Die Herren bekommen nichts. Verstärken Sie den Leidensdruck, indem Sie den Damen eifrig Komplimente für ihr Aussehen machen, während Sie ihren Begleitern mit mitleidsvollem Unterton ein gepresstes »Ich hab’ gehört, dir ging’s nicht gut?« (= warst jeden Tag sternhagelvoll) beziehungsweise »Du siehst ja wieder viel, viel besser aus als letztes Mal« (wo du diesen grauenvollen Kater hattest) zuflüstern.
2. Unumgänglich: Bereiten Sie alle Drinks, die vor und nach dem Essen serviert werden, in einer für die Gäste nicht einsehbaren Vorrats- oder Besenkammer zu. Zum einen können Sie so ungestört Ihrem Geiz frönen, zum anderen wirkt dadurch auch das Herbeischleppen jeder neuen Runde wie eine unzumutbare Belastung, die • jeden Gast, der Ihnen über die freimütig offerierten Begrüßungsgetränke hinausgehende Bestellungen aufnötigen will, in einem ungüns­tigen Licht erscheinen lässt. Suchen Sie sich einen besonders tiefen Sessel als Stammplatz aus und gestalten Sie jedes Aufstehen ersichtlich mühevoll, später auch gerne von dezentem Aufstöhnen begleitet. Hierbei sollten Sie nicht übertreiben.
3. Was die Phase vor dem Abendessen angeht, gibt es unterschiedliche Ansätze. Der wohl nächstliegende besteht im Ausschenken nur eines Aperitifs. Häufig eine Bowle, gemischt aus billigem Rotwein, Sprudel und einem Glas Koch-Sherry, falls man sich dazu überwinden kann. Eine große Menge Obst verhilft zum Eindruck einer gewissen Opulenz. Erklären Sie dabei, dass es sich um eine selbsterfundene Bowle handelt, und fügen Sie mit Kennermiene hinzu, dass die nur harmlos aussehe … In kleinen Gläsern servieren.
Bei kaltem Wetter wird aus demselben Wein, dazu Wasser, ein kleines Glas erhitzten Koch-Weinbrand sowie eine Prise geriebene Muskatnuss pro Glas, ein zwar arbeitsintensiverer, dafür aber mit gleich zwei Vorteilen versehener Punsch fabriziert. Zum einen verbringen Sie natürlich den überwiegenden Teil Ihrer Zeit am Herd, wo Sie fürsorglich darauf achten, dass der Punsch nicht abkühlt, beziehungsweise mit dem servilen Hin- und Hereilen zwischen Herd und Sitzgruppe. Allesamt Tätigkeiten übrigens, die Sie vom tatsächlichen Servieren der Drinks abhalten werden. Ein weiteres Ziel wird schon nach wenigen Gläsern Punsch erreicht sein: Ihren Gästen wird warm; so warm allerdings, dass sie auf keinen Fall noch ein weiteres Glas Punsch trinken wollen. (Fachen Sie das Kaminfeuer an oder drehen Sie die Heizkörper auf, um den schweißtreibenden Effekt noch zu unterstützen. Vergessen Sie aber nicht, die Raumtemperatur rechtzeitig wieder herunterzufahren, wenn der Rausschmiss naht.)
Falls einer der alten Hasen, mit dem Punsch- oder Bowlentablett konfrontiert, trotzdem auf einen Scotch bestehen sollte, verziehen Sie sich in Ihre Kammer und lesen noch gemütlich die Zeitung, bevor Sie den Extrawunsch erfüllen. • Überreichen Sie ihm das Glas mit Nachdruck und grölen Sie vielleicht noch: »Ein großer Scotch, ganz wie befohlen, werter Herr!«
Sobald Sie ab und an das Gefühl beschleicht – und es wäre geradezu ungesund, falls das nicht passiert –, dass Ihre Masche etwas durchsichtig geworden ist, ändern Sie einfach Ihre Strategie und servieren Sie jedermann zur Begrüßung einen mehr oder minder anständigen Drink. Der Geldbeutel lässt sich natürlich auch hier schonen, indem man eine großzügige Portion Eis ins Glas füllt (macht Arbeit, ist aber billiger als Alkohol) oder, falls Martinis serviert werden, indem man diese Oliven auftreibt, die so groß wie Aprikosen sind (siehe »Thunderball« von Ian Fleming, 14. Kapitel). An den nachfolgenden Drinks knausert man wie folgt: Will man beispielsweise einen Gin Tonic zubereiten, gibt man zuerst das Tonic Water zusammen mit den Eiswürfeln sowie einem großen Stück Zitrone ins Glas und gießt dann erst ein Schlückchen Gin über den Rücken eines Löffels zu. Der Alkohol treibt daraufhin nahe der Getränkeoberfläche und sorgt für einen ersten Schluck von beeindruckender Stärke. Das ist sowieso alles, worum es geht. Ein Freund von mir, dessen Schwiegermutter dazu tendiert, nach ein paar Drinks ausfällig zu werden, geht sogar noch weiter: Den dritten Gin Tonic bereitet er ihr ausschließlich aus Tonic, Zitrone und Eis, benetzt aber die Spitze seines Zeigefingers mit Gin und fährt damit einmal am Innenrand ihres Glases entlang. Die Opfer dieser Gemeinheit sollten allerdings sehr sorgfältig ausgewählt werden. Martinis sollten so kalt wie gewöhnlich serviert werden, allerdings mit Mengen geschmolzenen Eises verdünnt. Whiskys machen es einem schwer. Probieren Sie die Löffel-Methode und setzen Sie gefärbte Gläser ein, oder greifen Sie zur dunkelsten Marke. Sherrys werden mit Wasser verdünnt.
4. Setzen Sie das Abendessen zeitig an und lassen Sie reichlich auftragen, egal, was es ist. Sie kommen damit durch, zum ersten Gang – egal, woraus er besteht – keinen Wein zu servieren. Sobald das Hauptgericht aufgetragen ist, »fällt Ihnen plötzlich ein«, dass Sie vergessen haben, den Wein zu lüften. Sie holen dies umgehend nach und veranstalten ein Riesenspektakel mit Korkenzieher und so fort. Der Wein selbst wird natürlich nicht aus Deutschland oder Frankreich sein; nennen wir ihn mal einen ­xanadischen Halbtrockenen mit Prädikat. Schenken Sie ihn mit allem Drum und Dran ein und erzählen Sie dabei noch, dass Sie diesen Tropfen gemeinsam • mit Ihrer Frau »kennen- und (besonders Ihre Frau) liebengelernt« haben, als man »seinerzeit« dort in den Ferien war, und Sie deswegen schon »gespannt« sind, wie er wohl ankommen wird. Falls die Reaktionen allenfalls aus mehr oder minder höflichem Schweigen bestehen, verfallen Sie entweder in eine stark nostalgisch gefärbte Schwärmerei und mutmaßen, dass man wohl, um ihn zu würdigen, einiges davon getrunken haben müsste, dazu dieses herrliche Essen unter der Sonne et cetera, oder Sie mischen sich einfach unter die Staunenden: »Komisch, oder? Der funktioniert hier einfach nicht … funktioniert nicht!« Sie sollten Ihr Publikum richtig einzuschätzen wissen.
5. Bleiben Sie solange es nur irgendwie machbar ist oder solange Sie es aushalten, am Esstisch sitzen, bevor Sie die Gesellschaft in die Bibliothek hinüberbitten, um dort großspurig anzukündigen, es würde gleich Kaffee serviert. An dieser Stelle (der exakte Zeitpunkt spielt, bedingt durch die mutwillig verursachten Verzögerungen, keine Rolle mehr) können Sie eine volle halbe Stunde so tun, als hätten Sie von dem Brauch, Gästen etwas zum Trinken anzubieten, noch nie gehört. Nach dieser Pause fällt Ihnen ebenso »schlagartig« auf, dass man hier auf dem Trockenen sitzt: Sie bieten Weinbrand an, müssen aber, und dies nur unmerklich zerknirscht, darauf hinweisen, dass kein Cognac im Hause ist, dafür aber gibt es einen Armagnac »für Kenner«. Dabei handelt es sich freilich um einen mit viel Wasser verlängerten Koch-Weinbrand aus einer entlegenen Region in Frankreich oder Südafrika, den Sie nach einigem Herumfuhrwerken in Ihrer Kammer servieren. Denjenigen Ihrer Gäste, die bereits in den mittelmäßigen Londoner Restaurants »Armagnac« (1) getrunken haben, wird er ohnehin bekannt vorkommen. • Bieten Sie den Damen ein Glas vom Strelsauvada an, ein eher unbekannter Likör xanadischer Herkunft, der aus vergorenen Feigen gemacht wird und sich durch eine Note alter Mandelhäute auszeichnet, der einen aber – weisen Sie ruhig etwas verschwörerisch darauf hin – »etwas kirre machen« kann, falls man so etwas nicht gewohnt ist. Gewiss werden da­raufhin alle dankend ablehnen, Sie aber Ihres großzügigen Angebotes wegen als einen nur noch besseren Gastgeber im Gedächtnis behalten.
6. Lassen Sie weitere Zeit verstreichen mit Hilfe schleppend und unter Geächz angerührter, mit Eis zum Platzen vollgestopfter Scotchs und sparen Sie bei alldem nicht mit laut geäußerten Anmerkungen à la •»Ich finde ja immer, dass um diese Zeit ein kühles Bier (und zwar aus der ganz kleinen Flasche) am besten schmeckt.«
7. Entsprechend der Großzügigkeit, die Sie Ihren Gästen bereits ganz zu Anfang demonstriert haben, indem Sie dem »Bowle«- oder »Punsch«-Aperitif wahnsinnige Mengen flüssigkeitsverdrängender Schnippelobststückchen beigegeben haben, zeigen Sie sich nun nochmals von Ihrer spendablen Seite und geizen nicht mit Pseudoluxusartikeln wie fehlfarbenen Zigarren, • Pfefferminzbonbons Marke Atemfrisch, aus Konkursmassen ersteigerten • Ladylike-Zigaretten mit pastellfarbenem Filterstück et cetera.
8. Was Ihre eigenen Drinks an einem solchen Abend angeht, so sollten Sie natürlich weder Mühe noch Aufwand scheuen – gleich, wie streng auch die Sparmaßnahmen ausfallen mögen, die Sie Ihren Gästen auferlegt haben. Freilich werden Sie sich ab und an aus Ihrer Kammer Nachschub holen müssen, und lästige Kameraden werden Sie dabei beobachten und sich denken – und es vielleicht sogar aussprechen –, dass Sie ihnen einen Drink von dort mitbringen könnten. Also benutzen Sie den Abend über entweder ein dunkel getöntes Glas (»Das habe ich von einem alten Freund aus Ve­nedig – angeblich ziemlich wertvoll, hehehe!«) oder irgend­einen Silberbecher (»Den hat mir doch tatsächlich T. S. Eliot zur Taufe geschenkt – ja, da glotzt ihr, hehehe!«), den Sie nicht einen Moment aus der Hand geben und der sich unbemerkt mit bestem Whisky befüllen lässt. Oder aber Sie halten sich frech an einem zwar normalen Glas fest, das Sie aber mit einem dieser hellen Whiskys, die in Amerika als »Husband’s Scotch« bezeichnet werden, füllen – »Zur Hölle, Liebling – was heißt denn schon wieder einer? Ist doch mehr Wasser als sonstwas.« – Zur Hölle, Jim, Jack, Joe und der Rest der Bande.
9. Falls Sie auch nur einen dieser Tips etwas überzogen oder gar bösartig finden, haben Sie vom Leben noch nicht allzu viel gesehen.

Der Kater. Fürwahr ein weites Feld. Und wahrhaftig auch eines, um das sich keiner so recht kümmern will. Gut, natürlich stehen in jeder Zeitung oder Zeitschrift diese Tipps – die meisten davon unoriginell, einige wirkungslos, manche sogar regelrecht schädlich –, wie man dieses weitverbreitete Leiden kurieren soll. Dabei wird jedoch stets so getan, als ob es dabei lediglich um die körperlichen Erscheinungsformen ginge, als behandle man eine gewöhnliche Krankheit. Allesamt verschweigen diese Diskussionen die psychischen, moralischen, geistigen und emotionalen Auswirkungen, kurzum: das schwarz schimmernde metaphysische Kraftwerk, das den Kater erst ermächtigen kann, sich zu jener – glücklicherweise – einzigartigen Schussbahn hinab in die Selbsterkenntnis auszuweiten.
Um die Literatur ist es da nicht besser bestellt. Über das Trinken gibt es Gedichte und auch Lieder, klar, aber kaum etwas über das Betrunkensein, und über das darauf unvermeidlich Folgende natürlich erst recht nicht. Roman­schreiber gehen da etwas unerschrockener und gründlicher vor, neigen aber dazu, das Ziel aus den Augen zu verlieren, indem sie entweder den Kater ihrer Helden in einigen Sätzen en passant abhandeln oder ihn sozusagen zum Zentrum des Romangeschehens machen. In diesem Fall wird der Protagonist höchstwahrscheinlich ein Alkoholiker sein, der mit normalen Männern kaum etwas gemein hat und der ihnen mit einem Kater nur noch unähnlicher wird. Dieser wichtige Unterschied kommt, zusammen mit vielem anderen, in Charles Jacksons wunderbarem und beängstigendem »The Lost Weekend« deutlich zur Sprache. Ich kenne keine bessere literarische Bearbeitung des Themas Alkoholismus.
Einige Autoren bringen es fertig, die Welt des Katers metaphorisch zu durchdringen, während vordergründig ganz andere Dinge verhandelt werden. Ein Teil der Werke Dostojewskis schlägt in diese Richtung. Einige Erzählungen von Edgar Allan Poe vermitteln ziemlich genau die düstere Unbehaglichkeit mitsamt den plötzlichen Schüben haarsträubender Furcht, wie sie so viele von uns wiedererkennen werden; dazu hatte Poe selbst auch ein ­Alkoholproblem; anders als allgemein angenommen aber war er kein Alkoholiker, sondern litt vielmehr an einer ungewöhnlichen Stoffwechselstörung, die seinen Körper überempfindlich auf Alkohol reagieren ließ. Ein paar Gläschen bloß, und Poe ging zu Boden; ohne Zweifel wurde er daraufhin vom Kater lebendig begraben. »Die Verwandlung« von Franz Kafka beginnt mit einer Szene, in der sein Held beim morgendlichen Erwachen feststellt, dass er sich in eine mannsgroße Kakerlake verwandelt hat. Dies ist die beste literarische Verarbeitung des Themas überhaupt. Die Wahl der zentralen Metapher hätte besser nicht sein können, und was im Folgenden über die Reaktionen der fiesen Umwelt auf den armen Kerl erzählt wird, geht zu Herzen. (Ich konnte keine Details über Kafkas Trinkerlaufbahn in Erfahrung bringen.)
Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, nein, ich verwahre mich sogar strikt dagegen, den metaphysischen Kater ausführlich und fundiert zu beschreiben, damit wäre weder mir noch Ihnen gedient. Hoffentlich aber wird einiges davon durch meine Beschreibungen der Gegenmittel deutlich. Bevor ich dazu komme, muss ich mich noch kurz dem physischen Kater widmen, der logischerweise zuerst zu behandeln ist und dessen Zerstreuung den metaphysischen Kater ganz erheblich lindern wird. Denn Körper und Geist sind, wie wir eingangs festgestellt hatten, nirgendwo inniglicher verbunden als im Reich des Königs Alkohol. So also geht man zunächst vor:

Der physische Kater
1. Stellen Sie bereits beim Aufwachen laut und deutlich fest, wie glücklich Sie sich schätzen dürfen, dass es Ihnen derart dreckig geht. Durch diese Taktik – auch bekannt als Paradox des George Gale (2) – erkennen Sie die Tatsache an, dass Sie, sollte es Ihnen nach einer solchen Nacht nämlich nicht dreckig gehen, ja noch betrunken sind und nun sehenden Auges erst allmählich nüchtern werden müssen – es läge also noch vor Ihnen, was Sie so bereits überstanden haben.
2. Falls Ihre Frau oder ein anderer Partner neben Ihnen liegt und willig ist, praktizieren Sie den Geschlechtsakt so emsig wie nur möglich. Die Ertüchtigung wird Ihnen guttun und – vorausgesetzt, Sie machen sich etwas aus Sex – Sie aufheitern. Zudem könnte dies einen ersten Angriff auf Ihren metaphysischen Kater (M.K.) bedeuten, bevor Sie ihm frontal den Kampf ansagen.

Vorsicht ist geboten: (i) Falls neben Ihnen jemand liegt, der dort nicht hingehört und Sie auch nur das kleinste Quentchen Reue spüren: Verzichten Sie. Schuldgefühl wie Scham sind wichtige Bestandteile des M.K. und erhalten durch eine solche Nachlässigkeit zwangsläufig weiteren Vorschub.
(ii) Aus genau diesem Grund sollten Sie die Sache auch nicht selbst in die Hand nehmen, falls Sie ganz alleine erwachen.

3. Obwohl Sie vor dem Zubettgehen noch all das Wasser getrunken haben, sollten Sie nun wieder eine große Menge davon zu sich nehmen. Und zwar noch mehr als nötig scheint, um Ihren momentanen Durst zu löschen. Alkohol ist für seine entwässernde Wirkung berüchtigt, und ein beträchtlicher Teil des physischen Katers (P.K.) steckt Ihnen nur in den Knochen, weil Ihren Zellen das Wasser fehlt.
An dieser Stelle muss ich davon ausgehen, dass Sie den überwiegenden Teil eines solchen Tages der Sorge um sich widmen können. All denjenigen, die unweigerlich aufstehen müssen, um etwas zu tun, bleibt es nicht erspart, nur so lange liegenzubleiben, wie es gerade noch geht, sich nach dem Aufstehen zu rasieren, heiß abzuduschen oder zu baden (darauf werde ich gleich noch zurückkommen), sich zum Frühstück eine ungesüßte Grapefruit (d.w.i.g.n.z.) mit Kaffee einzuverleiben, um dann das Haus zu verlassen – in fester Absicht allerdings, sich zum Mittagessen so kräftig zuzuschütten wie möglich. Die anderen können weiterlesen, aber lassen Sie mich noch anmerken, dass der Grund für den hohen Alkoholkonsum vieler Künstler nicht unbedingt darin liegt, dass ihre Künstlernatur es ihnen abverlangt oder Ähnliches. Vielmehr liegt es eher daran, dass sie es sich leisten können, einen großen Teil des Tages mit den Nebenwirkungen zu ringen. Nun aber:
4. Bleiben Sie liegen, bis Sie nicht mehr liegen können. Müdigkeit ist ein Hauptbestandteil des P.K.
5. Duschen Sie unter keinen Umständen kalt. Zwar mag dies vorübergehend Erleichterung bringen, aber meiner Erfahrung nach, und der vieler anderer, treibt eine kalte Dusche den P.K. nach etwa einer halben Stunde gewaltig an und kann sogar, in Einzelfällen, dazu führen, dass Sie sich wie ein Außerirdischer fühlen. Wahrscheinlich als Konsequenz der Schockbehandlung eines Systems, das bereits unter Schock steht. Die ideale Vorrichtung, und jeden Cent wert, falls Sie ein wahrer Trinker sind, ist ein über der Wanne angebrachter Brausekopf. Lassen Sie sich ein fast unerträglich heißes Bad ein und bleiben Sie darin so lange liegen, wie Sie es aushalten. Immer wenn es soweit ist, stehen Sie auf und duschen sich unter dem Brausekopf so lange heiß ab, wie Sie es aushalten. Dann legen Sie sich wieder in die Wanne und immer so fort. So vergeht die Zeit recht angenehm.
Vorsicht ist geboten: Machen Sie das nur, wenn Sie sich ganz sicher sind, dass Ihr Herz und der Rest von Ihnen dieser Prozedur gewachsen sein werden. Ich möchte nicht beschuldigt werden, für Ihren Tod verantwortlich zu sein. Schon gar nicht vor Gericht.
6. Rasieren Sie sich. Eine echte Zumutung. Und Sie werden sich bestimmt schneiden, aber es ist eine beruhigende Übung und hebt die Stimmung (ein weiterer Streich gegen den M.K.).
7. Gleich, wie es in Ihrem Magen zugeht, lassen Sie die Finger von alkalisierenden Mitteln wie Soda-Bikarbonat. In den meisten Antikatermitteln ist etwas davon enthalten, aber nicht genug, um Ihnen Schaden zuzufügen, und die Bläschen sprudeln so hübsch. Besser wirken ungesüßte Fruchtsäfte oder eine Grapefruit ohne Zucker. Der Grund für deren Wirksamkeit ist auch bekannt als Philip-Hope-Wallace-Syndrom (3). Ihr Magen wird sich, sobald er eine weitere Ladung Säure abbekommt, sagen: »Oha, da brauchen wir wohl was Alkalisches« und somit die Neutralisierung ankurbeln. Bikarbonat hingegen verleitet ihn dazu, sich zu sagen: »Oha, da brauchen wir wohl mehr Säure«, um damit alles nur noch schlimmer zu machen.
Falls Sie das nicht restlos überzeugt, lassen Sie mich erzählen, was mir eines Morgens passierte, nachdem ich, mit einem monströsen Kater, Bikarbonat mit einem kleinen Wodka runterspülte. Mein Kumpel sagte: »Schau mal, was gerade in deinem Magen vor sich geht«, und goss Wodka zum Rest der Salz-Lösung in meinem Glas. Was soll ich sagen: Die Mischung färbte sich schwarz und fing zu schwelen an.
8. Essen Sie nichts, jedenfalls sonst nichts. Geben Sie Ihrer Verdauung den Morgen frei. Kaffee ist erlaubt, allerdings sollten Sie sich nichts davon erhoffen, außer dass Sie sich noch wacher fühlen.
9. Versuchen Sie, nicht zu rauchen. Dass ­Nikotin einen großen Beitrag zu Ihrem P.K. leistet, halten viele für plausibel. Ich übrigens auch.
10. Den größten Teil des Morgens haben Sie nun schon halbwegs anständig hinter sich ­gebracht. Manövrieren Sie sich unauffällig über die verbleibenden Stunden und vermeiden Sie auf jeden Fall das Zusammentreffen mit Ihren Freunden. Gespräche sind zu anstrengend. Machen Sie einen Spaziergang, sitzen oder liegen Sie etwas an der frischen Luft. Loten Sie gegen elf oder so vorsichtig aus, wie es um Ihre Lust auf einen Polish Bison (heißes Fleischextrakt Marke Bovril mit Wodka) bestellt ist. Ohne Wodka geht auch. Mit der Bearbeitung des M.K. können Sie nun jederzeit beginnen.
11. Gegen halb eins sollten Sie sich aufraffen, ein Haar (oder besser noch, wie Cyril Connolly (4) es zu raten pflegte, »einen ganzen Büschel«) des Hundes zur Brust zu nehmen, der Sie gebissen hat. Dabei müssen Sie nicht nach dem Stammbaum schielen, es darf auch ein Drink anderer Rasse sein als in der Nacht zuvor. Viele werden der Bloody Mary den Vorzug geben. Andere schwören auf Underberg. Dabei handelt es sich, für die Unwissenden, um einen höchst alkoholhaltigen Magenbitter, der entfernt an Fernet Branca erinnert, allerdings meiner Erfahrung nach mit unvergleichlich höherem Durchschlagsvermögen. Underberg wird in Taschenfläschchen verkauft, deren Inhalt einem Doppelten entspricht, und Sie sollten ihn sich in einem Zug reinpfeifen. Die unmittelbar einsetzende Wirkung auf die Eingeweide ähnelt der eines Golfballs, der in eine leere Badewanne gefeuert wird. Die dadurch ausge­lösten Krämpfe und Hilferufe sind nicht zu verachten. Aber kurze Zeit später schon wird der Leib von einem wohligen Glühen erfüllt, was in den allermeisten Fällen die Wendung zum Besseren einleitet. Von nun an werden Sie sich so oder so zunehmend bereit fühlen, sich mit der übrigen Menschheit zu konfrontieren. Jetzt stellt auch ein geselliges Mittagessen keine unüberwindliche Schwierigkeit mehr dar. Bestellen Sie, wo­rauf Sie Appetit verspüren, doch mit Bedacht. Vermeiden Sie fette und zu üp­pige Speisen. Sollte der P.K. Ihnen nachher noch immer in den Knochen stecken, gehen Sie wieder ins Bett.
Bevor wir nun zum M.K. kommen, werde ich – allein der Vollständigkeit halber – noch drei Katermittel beschreiben, wie sie mir von anderen als unfehlbar diktiert wurden. Ich habe noch keines davon probiert. Die ersten beiden sind schwer zu realisieren.
12. Mischen Sie sich unter die Minenarbeiter der Frühschicht einer Zeche Ihrer Wahl.
13. Fliegen Sie eine halbe Stunde lang in einem offenen Propellerflugzeug und, ja, achten Sie darauf, dass Ihr Pilot keinen Kater hat.
14. Bekannt geworden unter dem leicht irreführenden Namen »Donald Watt’s Jolt«, besteht das Rezept für diesen Drink lediglich aus einem Tumbler randvoll mit süßem Likör – Grand Marnier oder Bénédictine –, der anstelle des Frühstücks eingenommen wird. Sein Erfinder berichtete mir, dass er es mit einem davon intus schon einmal bei eiskaltem Wetter eine Dreiviertelstunde an einer Bushaltestelle ausgehalten hat, »ohne auch nur mit der Wimper zu zucken«. Was stimmt, ist, dass der Drink Ihnen einen Energieschub gibt, und der Alkohol Alkohol.
An dieser Stelle sei es den jüngeren unter den Lesern erlaubt, die folgenden Zeilen etwas weniger aufmerksam zu studieren. Der M.K. wird Ihnen womöglich noch fremd sein. Aber Sie spotten und grinsen auf eigene Gefahr. Es sei Ihnen versichert, dass, je älter Sie werden, sich diese Erscheinung mit zunehmender Heftigkeit in die Lücken drängen wird, die der immer milder werdende P.K. hinterlässt. Und von beiden ist der schrecklichere

Der metaphysische Kater
1. Kümmern Sie sich zunächst gewissenhaft um Ihren P.K.
2. Sobald das mystische Gemisch aus Niedergeschlagenheit, Traurigkeit (diese sollten nicht verwechselt werden), Schreckhaftigkeit, Selbsthass, Gefühl des Versagens und Zukunftsangst von Ihnen Besitz ergreift, sagen Sie sich, dass Sie einen Kater haben. Sie kränkeln nicht, Sie haben keinen Hirnschaden, Sie machen gute Arbeit, Ihre Familie und Ihre Freunde haben sich nicht in stiller Verachtung zu einer Verschwörung gegen Sie zusammengetan, Ihnen ist nicht plötzlich aufgegangen, wie das Leben wirklich läuft, und was geschehen ist, ach jemineh, das ist geschehen. Wenn Sie damit Erfolg haben, wenn Sie sich selbst überzeugen können, ist es geschafft, wie es auch nochmals zusammengefasst wird im ausgesprochen philosophischen unumstößlichen Grundsatz: Wer glaubt, er hat einen Kater, hat keinen Kater.
3. Ein Tapetenwechsel, das Betrachten eines Gemäldes, eines Bauwerks oder von etwas Skulpturalem könnte Ihnen ebenfalls guttun, aber ich denke, die meisten werden das für diesen Zweck – vielleicht für jeglichen – etwas weit hergeholt finden.

Anmerkungen:
(1) In Restaurants wird häufig eine etwas raffiniertere, dafür auch umständlichere Methode angewandt: Eine größere Menge Rosinen wird mit dem Messer zerhackt und in einer Schale mit Billigweinbrand bedeckt. 24 Stunden ruhen lassen, durchseihen und als Armagnac, besser vielleicht aber noch als »Cognac für Kenner« anbieten.
(2) George Gale (1927–1990), britischer Journalist und Chefredakteur des »Spectator«, der bekannt für seinen Alkoholkonsum war. Amis widmete ihm »On Drink« (Anmerkung des Übersetzers).
(3) Philip Hope-Wallace (1911–1979): legendärer Theaterkritiker für »The Times« und »The Guardian« (A.d.Ü.).
(4) Cyril Connolly (1903–1974): Literaturkritiker (u.a. für die »Sunday Times« und »The Observer«) und Autor (A.d.Ü.).

Redaktionell gekürzter Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Kingsley Amis: Anständig trinken. © 1970 und 1972 by Kingsley Amis und »Daily Telegraph«. Aus dem Englischen von Joachim Bessing. Verlag Rogner & Bernhard, Berlin 2010. 139 Seiten, 14,90 Euro.