30 Jahre MTV

Die Reise zum Mond

Vor dreißig Jahren ging MTV auf Sendung.

Ein Raketenstart. Neil Armstrong entsteigt der Apollo-11-Raumfähre, springt auf die Mondoberfläche, stößt eine Flagge in den Boden. Doch ist es ist nicht die US-Nationalflagge, sondern eine Firmenflagge, die das Logo des Unternehmens zeigt, ein massives, dreidimensionales M, an dessen rechtem Bein »TV« steht, MTV, Music Television. John Lack, Vizepräsident von Warner-Amex Satellite Entertainment, ruft aus: »Ladies and Gentlemen! Rock ’n’ Roll!« Das war vor 30 Jahren, am 1. August 1981, eine Minute nach Mitternacht: MTV ging in den USA auf Sendung.
Die Ansage »Ladies and Gentlemen – Rock’n’ Roll!« ist bloße Behauptung geblieben. Bereits das erste bei MTV gezeigte Video präsentiert keinen Rock, sondern Popmusik. »Video Killed the Radio Star« singen The Buggles, um im Video gleich zu beweisen, was sie meinen: Ein Mädchen sitzt vor einem alten Rundfunkgerät und lauscht der Musik. Überblendet wird die Szene mit dem Schattenriss von Trevor Horn; er singt in ein klobiges, altes Mikrofon. Seine Stimme kommt nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft, sie ist vom Vocoder synthetisch verzerrt. »Sie heimsen den Erfolg deiner zweiten Sinfonie für sich ein und spielen sie mit Maschinen und neuester Technologie nach, jetzt verstehe ich auch die Probleme, die du hast«, heißt es in dem Song. Diese Musik braucht keinen »Radio Star«. Der einzige Stern, der im Video zu sehen ist, ist ein Scheinwerfer, dazu eine bewegte Plastikplane, die Wasser bedeuten soll: Romantik am Ende des 20. Jahrhunderts.
Der Song ist ein One-Hit-Wonder, er war bereits 1979 in den Charts. Der Phänomenologe Jean-François Lyotard hatte im selben Jahr seinen Essay »La condition postmoderne« verfasst und antizipierte den Siegeszug der PC-Elektronik und des Internets. Für Lyotard ist die Postmoderne die Pluralisierung von Sinn und Wahrheit, die Dezentrierung des Subjekts und das Ende der Großen Erzählungen. Im Pop der späten Siebziger fand die Postmoderne ihren Ausdruck: Punk, HipHop, Techno, New Wave, Metal, Industrial etc. – Fragmentierungen der Popgeschichte, die paradoxerweise dem Pop überhaupt erst eine Geschichte gegeben haben. Auch das Stück »Video Killed the Radio Star« schreibt diese Geschichte fort, hebt sie aber zugleich in der Gegenwart auf: »The Age of Plastic« heißt das Buggles-Album, auf dem alle Songs gleich, ja gleich gut klingen, weil hier Ästhetik und Produktion technisch verschmelzen, in der Musik wie im Bild.

Mit der Ölkrise Anfang der siebziger Jahre ist das »Goldene Zeitalter« (Eric Hobsbawm) des Kapitalismus vorerst vorüber und mit ihm der Wohlstand der Massen. Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger zerfällt die Klassen- und Massengesellschaft. In den Subkulturen der Siebziger und Achtziger, die MTV zu repräsentieren vorgab, fand dies seine vielfältigen Ausdrucksformen.
Seit den Anfängen in den sechziger Jahren operierte der Pop als eine zwischen Affirmation und Kritik changierende Ideologie. Man identifizierte sich nicht mehr durch Klassenbewusstsein in Hinblick auf die Stellung im Produktionsprozess, sondern durch den kulturellen oder subkulturellen Lebensstil: Mods gegen Rocker, Hippies gegen Yippies, Disco versus Punk versus Art-Rock.
MTV hat die Versöhnung des Gegensatzes von Rock und Pop behauptet, als dieser schon gar nicht mehr bestand. Versöhnung schaffte die Ideologie des Authentischen, auf die sich das Musikfernsehen kaprizierte. Das war vor allem notwendig, weil MTV von Anfang an, wie die zahllos folgende Konkurrenz, primär als Unternehmen agierte, dem es im privatwirtschaft­lichen Interesse um Profit geht. Schließlich ist MTV kein Künstlerverband, keine Musiker-Gewerkschaft, keine ästhetische Schule und kein Fanclubprojekt. Musikfernsehen ist Reklame; mit der Endlosverschaltung von Clips und Spots wird die Ware selbst als »Kultur« beworben und zum »ästhetisch wertvollen« Artefakt überhöht. Nicht inwiefern das Produkt sich dem Warencharakter widersetzt, wird nunmehr als ästhetisches Qualitätsmerkmal deklariert, sondern inwiefern der Warencharakter mit dem Produkt, also der Musik identisch ist. Das Authentische wird damit im Produkt verdinglicht, wird als Eigenschaft der Ware objektiviert. Authentizität ist keine Frage der Haltung mehr, sondern gerinnt zur Faktizität der Klang- und Bilderfolgen, die in immer wieder neuen Varianten Clip für Clip zusammengestellt werden.

Nach dem Buggles-Video und einer ersten Bildstörung gibt es MTV-Eigenwebung – Gebirge, Wald, Vögel, dazu die Stimme aus dem Off: »Am Anfang war die Musik, aber niemand war da, um sie zu hören.« Alte Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen von einem Tanzwettbewerb, Jazzmusik. »Dann kamen immer mehr Leute, und Musik wurde immer beliebter. Der Mensch erfand das Radio. Und den Phonographen.« Dazu sieht man Bilder, eine Familie lauscht der Ansprache des Präsidenten im Radio. »Hi-Fi war schon ein ziemlicher Knaller, aber Stereo-Sound war die Bombe.« Man hört eine Explosion, Ausschnitt aus einem Videos von Pat Benatar. »Bald kam das Fernsehen und gab uns den Weitblick, aber erst das Kabelfernsehen bescherte uns die freie Auswahl.« Dazu tricktechnische Bilder von Fernsehern, Computerspiele-Ästhetik, man sieht die Landebahn eines Flugsimulators. »Eine Weile schien es, als käme nichts Neues. Und nun die letzte Errungenschaft der Unterhaltungselektronik. Die Macht der Bilder und die Gewalt des Klangs: MTV-Musikfernsehen!« Es folgt ein Video zu Pat Benatars »You Better Run«. Man sieht die Musikerin mit ihrer Band in einer leer stehenden Fabrik bei einem für die Kamera inszenierten Auftritt, ohne Geschichte, ohne Videotricks, einfach abgefilmt und ein bisschen hübsch hergemacht. Es folgt die erste Moderation. Allan Hunter erklärt, dass er »gleich nach Mark« kommen und die Musiknachrichten vorstellen werde. Es folgt die Moderatorin Martha Quinn, die verspricht, dass es nonstop Musik auf MTV geben wird. Sie sitzt auf einem Barhocker in einem großen Raum, ein Fabrik-Loft als Studio: Ein Rennrad lehnt an der Wand, Dartscheibe im Hintergrund, eine Zimmerpflanze. Dann kommen Jay-Jay Jackson, Nina Blackwood und Mark Godman. »Das ist es! … Eine völlig neue Idee: Das Beste des Fernsehens vereint mit dem Besten des Radios.« Und dann verkündet er programmatisch: »So hast du die Musik noch nie gesehen!« Wir sind im New York der Young Urban Professionals.
Nach wenigen Minuten werden die ersten Werbespots gesendet: Werbung für einen Schulordner, Werbung für den Film »Superman II«, Werbung für Dolby-Geräuschreduktions-Technik. Die Achtziger sind das Jahrzehnt der Übertreibungen, in dem der Superlativ bloß eine Simulation ist. »Excitement« konvergiert mit der Idee des Authentischen und ersetzt Erfahrung und Erlebnis.
Damit wird Authentizität zu einem Modus der Passivität, der als Aktivierung, als »Teilnahme« und »Mitmachen« inszeniert wird. Die produktive Ästhetik des Pop verkehrt sich in eine paralysierende Synästhesie, die jede Form der Rezeption – Zuhören wie Zuschauen – zu einem Akt des Konsums degradiert. Die Thesen von der Reproduzierbarkeit des Kunstwerks (Benjamin), von der Welt als Phantom und Matrize (Anders), sogar die krude Einsicht vom Medium als Botschaft (McLuhan) erscheinen schon in der ersten, mitternächtlichen Sendestunde von MTV wie redundante Selbstverständlichkeiten.
Dass Ideologie in die Produktionsverhältnisse eingedrungen ist, lässt sich schon zur Hochzeit der Kulturindustrie exemplarisch am klassischen Hollywood-Kino darstellen. Nunmehr – und das ist für den Pop kennzeichnend, der die Kommodifizierung so weit vorantreibt, dass die Ware selbst zur Kultur wird – ist Ideologie aber kaum noch das »notwendig falsche Bewusstsein«, das in ein komplexes Gefüge von Wesen und Erscheinung, Subjekt und Objekt etc. eingespannt ist. Vielmehr verwandelt sich Ideologie wieder in die einfache Idolatrie, wird zu einer Akkumulation von Trugbildern, die zwar je für sich als Welt und Sinn vermittelnde Wahrheiten fungieren können, gleichzeitig aber ohne weiteres als Lügen, Inkohärenzen oder bedeutungsloser Nonsens durchschaubar sind.
Gegen solche Kritik ist MTV immun. Wenn etwa Neil Postman 1985 plakativ mahnt: »Wir amüsieren uns zu Tode«, dann ist das kaum kritischer als der – ebenfalls 1985 veröffentlichte – pseudoironische Song »Money for Nothing« von Dire Straits, in dem Sting die Zeile »I want my MTV« singt. Mit dem Video zu dem Song, das Reminiszenzen an die Figur des Working-Class-Hero mit früher Computeranimation verbindet, startet am 1. August 1987 MTV Europe den Sendebetrieb.

Dire Straits und Sting – die Auswahl dieser Künstler zeigt auch, wo man in den achtziger Jahren den Durchschnittskonsumenten kulturell verortete bzw. inwiefern man noch mit einem homogenen Massenpublikum rechnete und rechnen konnte. Irritiert wurde die Mainstream-Orientierung im Übergang zu den Neunzigern, mit denen sich der postmoderne Indi­vidualismus zunehmend auch in der Ausdifferenzierung der Musikmoden zeigte; mitunter musste man auf nationale und regionale Popkulturen Rücksicht nehmen, ebenso auf kurzzeitig profitable Nischensegmente, musste aber trotzdem flexibel bleiben, um sich mit Videos von zum Beispiel R.E.M., Oasis, Blur, auch Radiohead auf dem Markt zu positionieren. Techno fristete bei MTV ein Schattendasein, ebenso Postrock, Grindcore und dergleichen (dass sich darum schließlich Sender wie Arte kümmerten, zeigt auch, wie abstinent MTV jedem Bildungs- und damit auch Aufklärungsanspruch blieb, sowohl künstlerisch wie auch politisch). HipHop kam erst sehr spät und in seiner gebändigten Form als Konfektionsware bei MTV vor.
Für MTV blieben die Neunziger diffus und unübersichtlich, was dem Sender auch ökonomisch Schwierigkeiten bereitete. Die Rettung kam durch ein tragisches Unglück, nämlich 1994 mit dem Selbstmord Kurt Cobains, den die Spex damals den »ersten MTV-Toten« nannte. Schon im November 1993 wurde ein »Nirvana unplugged«-Konzert weltweit live übertragen; die ein Jahr später, nach Cobains Selbstmord veröffentlichte CD wurde ein Megaseller. Und MTV hatte einen authentischen Beweis für sein Modell der Authentizität.
Im Grunge, also der um Nirvana, Sub Pop, Seattle und Cobain entstandenen Jugendkultur fand MTV nämlich offenbar genau jene Prototypen des individuellen Konsumenten, die Gleichgültigkeit, Selbstverachtung und Narzissmus miteinander verbanden, die mit einem »Wir wollen mit dem MTV-Scheiß nichts zu tun haben«-Gebaren verfolgten, was bei MTV passierte. Und das war, in der von der Neuen Mitte regierten Welt der Neunziger, endlich die mediale Einlösung des Authentizitätsmodells der frühen Achtziger: Verlierer, die sich als solche präsentierten und deshalb glaubten, dass sie Gewinner seien oder zumindest den anderen Verlierern etwas voraushätten. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass ab 1993 auf MTV »Beavis and Butt-Head« gezeigt wurde. Kompatibel war diese Entwicklung zudem mit der Wiederkehr von Sexismus und Rassismus im Pop.
Drei Jahrzehnte nachdem MTV in New York auf Sendung ging, ist die ökonomische Bilanz so dürftig wie die ästhetisch-künstlerische. Die einstige Emphase, mit der sich junge Kultur- und Medienwissenschaftler einmal das Musikfernsehen und die Videoclips zum akademischen Gegenstand machten, ist verflogen. Und zwischen den Tausenden Clips, die in 30 Jahren Musikfernsehen ausgestrahlt wurden, finden sich wohl kaum mehr als ein Dutzend, die technisch-künstlerisch erwähnenswert sind. Neben »Video killed the Radio Star« und »Money for Nothing« wären spontan noch folgende Titel zu nennen: »Rockit« von Herbie Hancock (1983), »Material Girl« von Madonna (1985), »Sledgehammer« von Peter Gabriel (1986), »Sign o’ the Times« von Prince (1987), George Michaels »Killer/Papa was a Rollin’ Stone« (1993) oder »Can’t Get You Out of My Head« von Kylie Minogue (2001). Zwei der herausragenden Videos, nämlich Michael Jacksons »Thriller« (1984) und Aphex Twins »Windowlicker« (1999), wurden nur sehr selten in voller Länge und unzensiert ausgestrahlt.
Am Ende ist MTV wohl doch nicht mehr als ein Werbeprogramm, dessen ästhetischer Reiz kaum über den des Verkaufssenders QVC hinausgeht. MTV hat keinen einzigen Schritt über den Bildraum des Fernsehens hinaus gemacht. Die Reise zum Mond fand nicht statt, und Music Television hat es eigentlich nie gegeben.