Mark Fisher im Gespräch über die Riots in Großbritannien

»Riots sind Ausdruck der Abwesenheit von Politik«

Die Unruhen in Großbritannien sind für den britischen Journalisten und Buchautor Mark Fisher eine Manifestation der umfassenden Krise des Neoliberalismus.

Sie haben schon vor etwa zwei Jahren davon gesprochen, dass wir in apokalyptischen Zeiten leben, die uns alarmieren sollten. Bestätigen die Unruhen in Großbritannien Ihre Einschätzung? In welchem Kontext ereignet sich der Ausbruch?
Ich bin mir nicht sicher, ob es bereits ein Beweis für meine Argumentation ist. Aber die vorletzte Woche hat sich tatsächlich apokalyptisch angefühlt. Es fällt schwer zu glauben, dass ich vor nur 18 Monaten für die These, dass es zu großen Demonstrationen öffentlichen Zorns kommen würde, der »Revolutionsnostalgie« geziehen wurde. Großbritannien ist ein merkwürdiges Land, ein globales Zentrum der Resignation, aber auch ein Ort, an dem der Zorn plötzlich auf spektakuläre Weise explodieren kann. Die Unruhen wirkten schockierend, und zwar so sehr, dass sich viele von uns überzeugen mussten, ob dies wirklich gerade passiert war. Bei einer leidenschaftsloseren Betrachtung jedoch erscheint die Wut längst überfällig und alles andere als überraschend.
Es gibt viele Gründe, warum es gerade jetzt passierte. Klar ist: Glückliche, zufriedene Menschen starten normalerweise keine Riots. In den Vierteln, in denen die Unruhen ausbrachen, können wir eine anhaltende Armut und ein autoritäres Agieren der Polizei beobachten. Diese Dinge waren schon vor der Rezession schlimm genug, aber nach der Finanzkrise und mit der Koalitionsregierung von Tories und Liberaldemokraten haben wir ein neues Level erreicht.
Mit dem Begriff des »kapitalistischen Realismus« bezeichnen Sie eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der das Gefühl vorherrscht, dass sich in einem fundamentalen Sinn nichts mehr ändern könne und die Allgegenwart ökonomischer Logik nicht zu überwinden sei. Sind die Riots und insbesondere die Plünderung von Markenprodukten ein Ausdruck dieses »kapitalistischen Realismus«? Oder haben die Unruhen bereits Risse in dieser Haltung erkennen lassen?
Die Riots sind Teil einer größeren Krise des Neoliberalismus. Ich denke, dass sich die neoliberale Phase des »kapitalistischen Realismus« auf einen sich beschleunigenden Zusammenbruch zubewegt. Aber haben die Riots eine Lage geschaffen, in der eine Alternative zum Kapitalismus denkbar geworden ist? Ich glaube nicht.
Könnte man die Riots auch politisch deuten?
Nicht direkt, nein. Riots sind zumeist Ausdruck der Abwesenheit von Politik, und ich glaube, das war bei diesen Unruhen nicht anders. Ich meine das allerdings nicht in dem Sinne, in dem die Rechte den politischen Charakter der Riots negiert. Ich ziele darauf ab, dass die Riots nur in einem negativen Sinne politisch sind, indem sie das Fehlen einer politischen Vertretung ausdrücken, die die Unzufriedenheit, welche zu den Aufständen führte, hätte artikulieren oder in ein Set an Forderungen überführen können. Ein Grund, warum die Riots so wichtig waren, ist der, dass sie über den für Proteste charakteristischen Modus der Petition hinausgingen. Sie schufen allerdings nie eine Situation, in der es den Beteiligten möglich gewesen wäre, Kontrolle über ihre Leben oder die Straßen, auf denen sie leben, zu erlangen. Stattdessen boten sie eine Art Inversion der autoritären Welt: Unordnung und Plünderung statt Kontrolle und Konsum.
Insbesondere auch von linker Seite wurden die an den Unruhen Beteiligten dafür kritisiert, dass sie »ihre« Viertel und »Communities« zerstören würden. Könnte dies auch daran liegen, dass in der neoliberalen, privatisierten Stadt, in der alles Warenform besitzt, nicht länger nur eine Polizeistation ein symbolisches Ziel darstellt, sondern im Grunde die ganze Stadt?
Wenn es um das Verhältnis zur Warenform geht, scheinen mir die Riots ambivalent zu sein: Sie haben die Warenform sowohl affirmiert als auch attackiert. Es wurde oft gesagt, dass die Beteiligten »ihre eigenen Communities an­gegriffen« hätten, und es ist tatsächlich enttäuschend, dass sie vor allem Gebäude und Geschäfte in ihren eigenen Nachbarschaften abgebrannt und geplündert haben, statt Gegenden zu bedrohen, in denen Reiche leben und arbeiten. »Commu­nity« jedoch ist eine der hoh­lsten Phrasen unseres politischen Vokabulars, und vielleicht hat der Diskurs um die Unruhen dies gezeigt: Was bedeutet »Community« im Spätkapitalismus? Geschäftsfilialen und Supermärkte!
Als Reaktion auf die Ausschreitungen gab es die Aktion »Riot Cleanup«, die begleitet war von einer Rhetorik, die zwischen den »wahren Londonern« und den an den Unruhen Beteiligten unterschied.
Die Aufräum- und Säuberungskampagne war ein klassisches Beispiel guter bourgeoiser Intentionen, die im Ergebnis jedoch furchtbar missraten sind. Für jeden, der Klaus Theweleits »Männerphantasien« gelesen hat, wird die Rhetorik von Hygiene außerordentlich verstörend sein. Ich will natürlich nicht die an der Initiative Beteiligten zu Nazis erklären, aber der Diskurs der »Reinigung der Stadt« ist wirklich ein gefährlicher.
Stehen die Riots in einer Linie mit den Studentenprotesten im Winter 2010 in Großbritannien?
Die Studentenbewegung in den letzten Monaten des Jahres 2010 haben die ideologische Atmosphäre verändert. Aber all diese Proteste haben es nicht geschafft, ihre erklärten Ziele auch durchzusetzen. Und ich denke, wir sollten diesen Aspekt nicht aus den Augen verlieren. In der Protestkultur gibt es die Tendenz, schon zufrieden zu sein, es mal »versucht zu haben«, während es tatsächliche Erfolge sind, die die Linke wirklich dringend benötigt.
Die Riots sind Teil eines Prozesses der Desintegration des neoliberalen Realitätsprogramms. Gleichzeitig denke ich, dass sich die Situation noch zuspitzen wird. Die Sparmaßnahmen haben noch gar nicht begonnen zu greifen. Und die Weltwirtschaft scheint auf eine neue Kata­strophe zuzusteuern. Was wir bislang gesehen haben, war nur der Anfang. Und ich glaube, dass es möglich ist, all diese Gruppen in einer koordinierten gesellschaftlichen Kraft zu bündeln.
Wie könnte die Linke denn einer Fragmentierung dieser verschiedenen Proteste entgegenarbeiten?
Zwei Aspekte sind hier zu nennen: Koordination und ein alternatives Modell, wie wir die Dinge geregelt haben wollen. An diesem dringenden praktischen Problem müssen wir arbeiten: Wie können wir die prekären Arbeiter mit den Arbeitslosen und Geringbeschäftigten in Kontakt bringen? Wie können wir die Kämpfe der Studenten mit denen des öffentlichen Sektors verknüpfen? Das wird ein ähnlich gewagtes, einfallsreiches Denken erfordern wie jenes, das Arbeiter überhaupt einmal zur Gründung von Organisationen und Gewerkschaften führte. Neue Technologien führen zu neuen Formen der Atomisierung, wie wir sie im vernetzten Narzissmus der letzten zehn Jahre haben beobachten können, aber eben auch zu neuen Arten der Solidarität, die wir erst im Ansatz erkennen können. Das größere Problem besteht darin, eine kohärente Vision eines Postkapitalismus zu artikulieren.
Haben die Riots und die Reaktionen darauf, wie beispielsweise das Riot Cleanup, nicht bereits gezeigt, wie groß die Differenzen zwischen den verschiedenen Fraktionen sind? Wie sieht es mit der »bohemistischen Kulturlinken« aus?
Die Verbindungen zwischen diesen Gruppen waren ohnehin nicht besonders ausgeprägt, jedenfalls nicht auf organisatorischer Ebene. Was sie jedoch gemein haben, ist das Gefühl, nicht besonders viel Einfluss auf das System, in dem sie leben, nehmen zu können. Ich würde nicht einen Moment annehmen, dass jemand aus der »Kulturlinken« die an den Unruhen Beteiligten verurteilen würde. Sofern sie aus der Linken kommt, stammen die Missbilligungen oder Rufe nach Wiederherstellung von Ordnung nur von jenen, die ihren Glauben an die parlamentarische Politik oder ihre Verbindung zu ihr behalten haben. Der autoritäre Backlash der Rechten zwingt die Leute zu klaren Entscheidungen, und ich sehe nicht viele in der Kulturlinken, die den Autoritären folgen würden. Vielleicht ist das, was wir jetzt gesehen haben, also beispielsweise die Studentenbewegung und die Riots, eine Serie von gescheiterten Kämpfen, die dann in einen anderen Modus von Kampf mündet, der sein Ziel erreichen kann.
Wie beurteilen Sie die mediale Darstellung und Aufbereitung der Riots?
Im Großen und Ganzen war es sehr deprimierend. Mein Eindruck war, dass es in der ersten Nacht, als sich die Ausschreitungen vor allem auf die Gegend beschränkten, in der Mark ­Duggan erschossen wurde, noch eine größere Bereitschaft gab, die Riots politisch zu verstehen, selbst bei einem reaktionären Sender wie Sky News. Schnell hat man sich aber darauf verlegt, pauschal zu verurteilen und das übliche inkohärente und giftige Getöse autoritären Musters zu verbreiten: Die Riots seien reine Kriminalität, die Beteiligten sollten Verantwortung für ihre Taten übernehmen … Dies ist ganz typisch für die Aufarbeitung solcher Unruhen. Die Unruhen von 1981 wurden damals nach demselben Muster verurteilt. Heute akzeptieren mysteriöserweise die rechten Politiker, die jene Riots damals als rein kriminelles Verhalten verurteilten, ungeniert, dass sie tiefer liegende soziale und politische Ursachen hatten.
Einige Medien diskutieren, welchen Einfluss Videospiele wie »Grand Theft Auto« auf das Handeln der Jugendlichen haben.
Natürlich sind Menschen geprägt durch die Kultur, die sie konsumieren. Vielleicht sind Stilelemente der Riots von Videospielen beeinflusst, aber die These, dass sie durch Videospiele verursacht sind, kann ich nicht akzeptieren: Das ist absurd. Es gab schon Riots, da existierten Videospiele noch nicht!
Andere Kommentatoren behaupten, eine »schwarze Kultur« und insbesondere der HipHop seien der »Nährboden« für die Ausschreitungen. Der konservative Historiker David Starkey hat diese These in der BBC vertreten. Davon abgrenzen lässt sich Ihre Kritik am Gangsta im HipHop, die Sie mit einer Loslösung von emanzipatorischer Politik begründet haben.
Das Argument, dass »schwarze Kultur« für die Riots verantwortlich sei, ist simpel und rassistisch. Niemand, der diese These vertritt, hat die geringste Ahnung von »schwarzer Kultur«. Es ist eher ein Zeugnis für die Macht des Backlash, den wir in den letzten Wochen erleben, dass solche Argumente in den Medien präsentiert werden. Gangsta Rap ist weniger eine Reflexion »schwarzer Kultur«, Gangsta Rap hält, genau wie Unterschichtskriminalität, der Elitenkriminalität den Spiegel vor. Es ist kein Zufall, dass der gesamte Gangsta Rap voller unternehmerischer Metaphern und CEO-Aufschneiderei ist.