Gauck gegauckt

Eines der Hauptmerkmale des durchschnittlichen Twitter-Users ist seine Bereitschaft, sich aufzuregen. Das Fernsehprogramm, das Wetter, die Nahverkehrsverbindungen, die blöde Nachbarin, der dusselige Kollege, der störrische Computer – kein Thema ist zu banal, um nicht, fein säuberlich mit Hashtags versehen, als Anlass zum ganz großem Lamento zu dienen.
Zur Hochform läuft der gemeine Twitterer immer dann auf, wenn es um Politik geht. Politisches Engagement sieht für den Mikrobloggingdienst-Nutzer ungefähr so aus: Unermüdlich wird in 140 Zeichen langen Botschaften die eigene Meinung gesagt, und weil das nun echt ein bisschen wenig und vor allem viel zu unaufregend wäre, werden zusätzlich alle beschimpft, die andere Auffassungen haben.
Im Sommer 2010 gelang dann der ganz große Coup: Unter dem Hashtag #mypresident hatte man die Kandidatur von Joachim Gauck als Bundespräsident unterstützt und dabei netzüblich derart viel Lärm und Getöse veranstaltet, dass dies auch in den etablierten Medien wahrgenommen wurde und der ehemalige Beauftragte für die Stasi-Unterlagen auch nach der Wahl von Christian Wulff als »Bundespräsident der Herzen« galt.
So hätte auf Twitter viel aufgeregte Freude darüber herrschen können, dass der Wunschkandidat es nun endlich geschafft hat. Hätte. Denn während Gauck sich nicht groß verändert hat und der ist, der er immer war, ist er für den gemeinen Twitterer, nachdem dieser in der Zwischenzeit gelesen hat, was der Pfarrer allgemein in all den Jahren so von sich gegeben hat, plötzlich vom ehemals bejubelten Vorkämpfer für Bürgerrechte, Freiheit und Gedöns zum fiesen Aufrechterhalter des Systems geworden, gegen den man nun mit vielen, selbstverständlich samt und sonders auch sehr aufgeregten Kurzbotschaften vorgehen muss. Und zwar unter dem Hashtag – genau: #notmypresident.