Die Reaktionen in Israel

Arabischer Frühling, israelischer Sommer

In Israel hält sich die Begeisterung für die Aufstände in den arabischen Ländern in Grenzen. Obwohl einige Befürchtungen begründet sind, befindet sich der Nahe ­Osten auf dem Weg zur Demokratisierung.

Als sich in den vergangenen Wochen die Spekulationen über einen möglichen israelischen Angriff auf den Iran verbreiteten, forderte eine Facebook-Gruppe Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dazu auf, den Militärschlag gegen die iranischen Atomanlagen auf Juni zu verschieben. Der Grund: Das für Ende Mai geplante Konzert von Madonna in Tel Aviv drohe im Falle eines israelischen Angriffs aus Sicherheitsgründen abgesagt werden. Die Gruppe machte zwar deutlich, dass ihr Aufruf ironisch gemeint sei, trotzdem kann man ihre Forderung als Ausdruck einer Stimmung in der israelischen Politik und Gesellschaft verstehen, die im Zusammenhang mit den dramatischen Ereignissen des sogenannten arabischen Frühlings steht. Schließlich ist es eine alte zionistische Bestrebung, die Juden von ihrer besonderen Existenz in der Diaspora, die von einem unheilbaren Antisemitismus überschattet ist, zu befreien, und ihnen ein normales Leben als Volk in ihrem Land zu ermöglichen. Die Popkultur und die alltäglichen Freuden gehören ohne Zweifel zu dieser angestrebten Normalität.

Die arabischen Aufstände wurden von einigen Kommentatoren als das Ende des sogenannten arab exceptionalism, der »arabischen Ausnahme« bezeichnet. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass die Menschen in der »arabischen Welt« wegen ihrer kulturellen Besonderheiten anders seien als im Rest der Welt.
Für Israel wäre das Ende der arabischen Ausnahme eine positive Entwicklung, insbesondere im Hinblick auf die Hoffnungen auf Normalität. Trotzdem scheinen sich israelische Kommentatoren, linke wie rechte, einig zu sein, dass der arabische Frühling nichts Gutes bedeute. Jamal Zahalka, Knesset-Abgeordneter der palästinensischen Balad, wurde auf Indymedia zitiert mit den Worten: »Keine aus demokratischen Wahlen hervorgegangene arabische Regierung kann ignorieren, dass die Solidarität mit Palästina in der arabischen Bevölkerung sehr stark ist. Eine solche Regierung wird keine andere Wahl haben, als sich gegen Israel zu stellen.« Auf der Seite der politischen Rechten weisen Kommentatoren und Vertreter der Regierung auf die Bedrohungen durch die Islamisierung und den Terrorismus hin. Die erste revolutionäre Euphorie wird irgendwann vergangen sein, argumentieren sie, und wenn die ökonomische, soziale und politische Lage in den Ländern der Aufstände schwierig bleibe, werde Israel am Ende vorgeworfen, irgendwie dafür verantwortlich zu sein. Mit anderen Worten: Die von den Aufständen erzeugte Stimmung könnte sich gegen Israel richten. Sicher kann noch einiges schiefgehen. Aber den arabischen Frühling nur als eine schlechte Sache für Israel zu betrachten, ist ein Fehler. Es ist noch zu früh, um zu sagen, welche Folgen die Umwälzungen des vergangenen Jahres haben werden. Eine wichtige Rolle bei den Entwicklungen in diesen Ländern wird auch die Politik Europas in der gesamten Region spielen.
Viele in Israel sehen im Abgang von Hosni Mubarak einen großen politischen Verlust. Allgemein geht man davon aus, dass die Demokratie in Ägypten eine israelfeindliche Öffentlichkeit hervorbringen wird, die eine Annährung der Regierung an die Hamas und die Aufhebung des Friedensvertrags mit Israel zur Folge haben könnte. In diesem Szenario wird ein wichtiger Aspekt übersehen. Im Gegensatz zum Nasserismus, der Israel und dessen Existenz als das größte Problem für die gesamte arabische Region betrachtete, scheinen die Millionen Ägypterinnen und Ägypter, die im vergangenen Jahr auf die Straßen gegangen sind, sich nicht in erster Linie für Israel zu interessieren. Sie haben dringendere, konkretere Probleme. Aufrufen zu Demonstrationen gegen Israel folgten überraschend wenige Menschen. Der Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo war ein trauriger Tiefpunkt. Das israelische Nachrichtenportal Ynet berichtete von mehr als 5 000 Teilnehmern an einer »Kill the Jews«-Demonstration in Kairo im Dezember. Das sind schlechte Nachrichten, aber viel mehr Menschen gingen für freie Wahlen, das Ende der Diktatur, ein besseres Leben für sich selbst und eine bessere Zukunft für ihr Land auf die Straße.
Die neue Regierung in Ägypten wird sich den Forderungen dieser Menschen stellen müssen. Sofern sich der ägyptische Militärrat bereit erklärt, die Macht an eine Regierung zu übertragen, dürfte dort eine vermutlich von den Muslimbrüdern geführte Koalition den Frieden mit Israel wahren, wenn auch nur aus strategischen Gründen. Das wäre ein entscheidender Schritt, der positive Folgen für die Aussichten auf Frieden und Normalität für die israelische und die arabische Bevölkerung hätte.
Nach den Wahlerfolgen der islamistischen Parteien in Ägypten und Tunesien wurde häufig von einem »islamischen Winter« nach dem arabischen Frühling geredet. In konservativen Kreisen in Israel und Europa sieht man die Wahlen nur als einen weitereren Beweis für die zynische Ansicht, man könne von den Ländern dieser Region gar nichts anderes erwarten. Dabei wird allerdings übersehen, dass die Muslimbrüder nach den Wahlen vor einer großen Herausforderung stehen. Wie auch andere antisystemische Bewegungen, die ursprünglich jede parlamentarische Demokratie ablehnten, können sie nun an die Macht gelangen, nur um ein ungeliebtes System zu legi­timieren, indem sie Teil davon werden. Tatsächlich sind derzeit neue Töne aus dem Mainstream des politischen Islam in Ägypten und Tunesien zu hören: Man befürwortet etwa Wahlen und Parlamente und spricht sich für die Koexistenz von Staat und Religion aus.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei nur um taktische Aussagen handelt. Trotzdem ist diese Entwicklung in vielerlei Hinsicht wichtig. Erstens scheinen die islamistischen Parteien langsam zu begreifen, dass sich ihre potentielle Wählerschaft Demokratie wünscht, und dass der arabische Frühling eher demokratische Bestrebungen in der Bevölkerung weckte, als die reli­giöse Fanatisierung voranzutreiben. Zweitens: Wie wird der Übergang zur parlamentarischen Demokratie das Wesen und die Ziele einer antisystemischen Bewegung beeinflussen? Fragen Sie Eduard Bernstein und Joschka Fischer. Drittens: Selbst wenn die islamistischen Parteien weiter davon träumen, dass die Muslime sich erheben und in Jerusalem einmarschieren, werden sie sich nun auch mit anderen Problemen beschäftigen müssen. Viertens: Wenn sich demokratische Parlamente und Regierungen einmal etabliert haben, werden liberale, sozialdemokratische Oppositionsparteien auch versuchen, ihre politischen Ziele durchzusetzen. Und schließlich: Der Islamismus ist während der arabischen Diktaturen immer stärker geworden, über Jahrzehnte hinweg. Nun müssen endlich gewählte islamistische Parteien zeigen, ob sie es besser können als ihre Vorgänger.
Auch für die israelisch-palästinensischen Beziehungen hat der arabische Frühling etwas sehr Wichtiges bewirkt: Internationale Medien und die Politik fangen endlich an, zu begreifen, dass die wichtigen politischen Umwälzungen der Re­gion derzeit in Kairo, Damaskus und anderen Orten stattfinden.
Bis vor nicht allzu langer Zeit herrschte die Idee vor, der israelisch-plästinensische Konflikt habe eine zentrale Bedeutung für die Veränderungen in der Region. Diese Ansicht hatte in dieser Zeit ihre geopolitische Begründung, zumindest steckte eine Vision dahinter. In den siebziger Jahren stilisierten sich die palästinensischen Befreiungsbewegungen zur Avantgarde der demokratischen, sozialistischen Revolution in der arabischen Welt. Zum Zeitpunkt der Verhandlungen von Oslo sah es so aus, als könne die Entwicklung im israelisch-palästinensischen Verhältnis einen Trend zur Demokratisierung in der Region auslösen. Aber nachdem der Oslo-Prozess gescheitert war, wurde im vergangenen Jahrzehnt die nach wie vor anhaltende internationale Aufmerksamkeit für den israelisch-palästinensischen Konflikt zu einer gefährlichen Ideologie.
Der arabische Frühling bietet nun die Chance, diesen Konflikt als das zu betrachten, was er wirklich ist. Das ist auch für die Palästinenser eine gute Sache, denn ihre Kämpfe sind von jedem Diktator und jeder reaktionären Gruppe in der Region missbraucht worden.
Das Worst-Case-Scenario für die Region sind gescheiterte Staaten und ein von Saudi-Arabien unterstützter, flächendeckender Krieg gegen den Iran. Aber die arabischen Aufstände haben eine Transformation in Gang gesetzt, die zur Demokratisierung der ganzen Region beitragen könnte. Dort wird Geschichte gemacht. Anstatt sich mit Spekulationen zu beschäftigen, wie diese Geschichte enden wird, ist auch für Europa die Zeit gekommen, sich an diesem Prozess zu beteiligen.