Bawer Çakir im Gespräch über sexuelle Minderheiten in der Türkei

»Die Toleranz schwindet«

In diesem Jahr findet die Pride Week in Istanbul zum 20. Mal statt. Für den Journalisten und Mitorganisator Bawer Çakır sind ihre Ziele angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in der Türkei dringlicher denn je. Çakır spricht über die LGBT-Bewegung in der Türkei, über Gewalt gegen Transsexuelle und über den konservativen Backlash unter der AKP-Regierung.

Wie ist die Istanbul Pride Week entstanden?
Vor 20 Jahren gab es den ersten Versuch, eine Parade in Istanbul zu organisieren. Er scheiterte aber am Verbot des Bürgermeisters. Damals gab es noch keine LGBT-Organisationen, auch die feministische Bewegung entstand erst in den achtziger Jahren. Eine kleine Gruppe organisierte zunächst eine Pride Week mit Diskussionsveranstaltungen und weiteren Events. Seit 2002 findet jedes Jahr eine Parade statt, die immer größer wird. 2002 liefen vielleicht 30 Personen mit. 2005 waren es dann 500 und im vorigen Jahr bereits 10 000. Seit ich dabei bin, fühle ich mich, als würde ich einem Kind zusehen, das erst versucht zu krabbeln und schließlich laufen kann. 10 000 Leute in Istanbul! Das war großartig.
Welche Themen stehen neben der Forderung nach Rechten für Homo- und Transsexuelle im Mittelpunkt?
Für uns ging es niemals nur um LGBT-Rechte. Wir sind davon überzeugt, dass Homophobie und Transphobie die gleichen Wurzeln haben wie Rassismus. Ich würde sogar sagen, sie sind so etwas wie die Sprösslinge des Rassismus. Andere Folgen sind Sexismus, Heteronormativität, Macho-Einstellungen. Wir kämpfen gegen Rassismus und für feministische Werte. Außerdem setzen wir uns gegen Krieg und für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein. Natürlich wollen wir keine Pride wie in westlichen Ländern, bei denen politische Forderungen oft in den Hintergrund treten. Wir haben den Vorteil, dass wir immer deren Beispiel warnend vor Augen haben.
Reicht allein dieses Negativbeispiel aus, um politisch zu bleiben?
Wir müssen so etwas gar nicht beschließen, weil die Politik ein zentraler Teil unseres Lebens ist. Die Türkei ist voller Bullshit, und wir müssen uns jederzeit damit auseinandersetzen. Jeden Tag gibt es einen neuen Grund zu kämpfen. Ich denke, das ist der zentrale Punkt: Die meisten Mitglieder der LGBT-Bewegung sind sehr politische Menschen und gehören verschiedenen politischen Gruppen an. Es gibt unter uns Pazifisten und Pazifistinnen, Feministen und Feministinnen, Anarchisten und Anarchistinnen genauso wie liberale Linke. Zu jeder Pride Week organisieren wir zahlreiche Konferenzen und Workshops, die jährlich ein Thema in den Mittelpunkt stellen. Dadurch sind wir beständig in der Diskussion auch mit Menschen, die aus anderen Zusammenhängen kommen.
Vielleicht gibt es in der türkischen Community deshalb weniger Machtkämpfe als in anderen Ländern. Natürlich haben wir unterschied­liche Ansätze. Die eine Gruppe macht eher Lobbyarbeit und steht im Kontakt mit Parlamentariern. Andere wie zum Beispiel Lambda Istanbul sind reine Straßenorganisationen oder konzentrieren sich auf soziale Rechte, etwa die kurdische Organisation Hebun in Diyarbakır. Auch in der kurdischen Gesellschaft haben diese Gruppen schon viel verändert, die Akzeptanz für LGBT auch bei den älteren Leuten ist gewachsen.
Sie haben als zentrales Thema den Kampf gegen Militarismus genannt. Pazifist zu sein, hat in der Türkei eine ganz andere Bedeutung als etwa in Deutschland. Wie geht die Community mit dem Thema Wehrpflicht um?
In der Türkei ist Homosexualität ein Grund für die Ausmusterung. Einerseits könnte man sagen, es ist prinzipiell gut, dem Militärdienst entgehen zu können. Auf der politischen Ebene ist es das aber nicht. Diese Männer werden systematisch erniedrigt. Wer sich freistellen lassen will, muss intime Fragen beantworten. Wer nicht in der Armee war, muss außerdem mit ernsten Folgen rechnen. Arbeitgeber können nach dem Dienstbericht fragen und erfahren so den Grund für die Ausmusterung. Männliche Homosexualität wird immer noch als psychische Krankheit angesehen, was es leicht macht, eine Bewerbung abzulehnen. Andererseits ist es sehr gefährlich, das Recht auf Verweigerung aus politischer Überzeugung einzufordern. Es widerspricht Artikel 301 der Verfassung, der die Verunglimpfung der türkischen Nation unter Strafe stellt.
Mit welchen spezifischen Problemen haben sexuelle Minderheiten in der Türkei zu kämpfen?
Insbesondere Transgender-Sexarbeiterinnen und -Sexarbeiter haben ganz andere Probleme als Angehörige der türkischen, akademisch gebildeten Mittelklasse, die einen großen Teil der Bewegung ausmachen. Transsexuelle Sexarbeiter werden weder von der Regierung noch von der Polizei geschützt. Sie arbeiten im Allgemeinen auf der Straße und werden sehr häufig von der Polizei oder von anderen Leuten angegriffen. Natürlich gibt es auch Hate Crimes und Morde – sehr viele Transfrauen werden ermordet. Und die Mörder sind gewöhnlich ihre Sexpartner. Inzwischen gibt es zwei Transgender-Organisationen in Ankara und Istanbul, die sich an der Organisation der Pride beteiligen und auch eine Trans-Pride durchführen, die eine Woche vor der Pride in Istanbul stattfindet.
Wie sieht die Medienberichterstattung zu diesem Thema aus?
Die Medien sind grauenvoll. Zunächst einmal benutzen sie nie die Namen der Opfer. Transfrauen wählen eine Identität, einen weiblichen Namen, aber die Medien benutzen diese Namen nie. Stattdessen schreiben sie den männlichen Namen und sprechen von einem »Codenamen«. Dieses Wort evoziert in der Türkei automatisch den Gedanken an Terrorismus. Jahrelang haben die Regierung und die Medien so dafür gesorgt, dass die Opfer kriminalisiert wurden. Die Namen der Mörder dagegen werden nie, absolut nie erwähnt. Transphobe Einstellungen sind sehr weit verbreitet, und die Medien verstärken das. Wer sich nie mit Transsexualität beschäftigt hat, könnte nach der Lektüre dieser Artikel davon überzeugt sein, der Mörder habe »uns« einen Gefallen getan. Zudem breiten die Zeitungen alle möglichen Details über das Leben der Getöteten aus, als sei das eine sinnvolle Information! Wer das liest, fühlt auf jeden Fall nicht mit den Opfern.
Wenn es etwas Positives aus der LGBT-Bewegung zu berichten gibt, schreiben die Zeitungen gar nichts. Als beispielsweise im letzten Jahr 10 000 Menschen an der Pride teilgenommen haben, gab es nur ganz kurze Artikel dazu. Zu ­jeder einzelnen Veranstaltung der AKP füllen die Zeitungen eine ganze Titelseite, auch wenn nur 2 000 Menschen dort waren.
Welche Veränderungen gibt es seit dem Regierungsantritt der AKP? Ministerpräsident Recep Erdoğan hatte anfangs versprochen, Verbesserungen für Minderheiten durchzusetzen.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich den Eindruck, dass alles schlechter wird. Die AKP ist schon zum dritten Mal im Parlament vertreten, aber erst in den letzten Tagen ist sehr viel passiert. Ich habe der AKP nie vertraut, ich habe sie nie für liberal oder demokratisch gehalten. Schon immer dachte ich, dass es eine geheime Agenda gibt – und jetzt haben sie diese Agenda aufgeschlagen. Dazu gehört Erdoğans gerade verkündeter Plan, das Recht auf Abtreibung abzuschaffen, dazu gehören auch die Kündigungen, die streikende Arbeiter der staatlichen Turkish Airlines erhielten. Als ich »Persepolis« ­gesehen habe, hätte ich nie geglaubt, dass ich mich eines Tages genauso fühlen würde, wie es dort beschrieben wird. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich wirklich verzweifelt. Natürlich war der Kemalismus auch Mist, und die europäischen Länder waren froh, dass Erdoğan an die Macht kam. Aber er zeigt erst jetzt sein wahres Gesicht. 2002 hat er in einer Fernsehsendung auf die Frage eines Studenten versprochen, LGBT-Rechte zu stärken. Bei den Vorbereitungen auf die Verfassungsänderung vor zwei Jahren wurden viele Organisationen eingeladen, um ihre Wünsche einzubringen. Dann wurden diese aber einfach ignoriert. Die Türkei ist seither viel komplizierter geworden, und die Toleranz schwindet. Jeden Tag wird jemand an­gegriffen, und die Angreifer sind gewöhnlich türkisch, muslimisch, heterosexuell und männlich. Inzwischen werden jeden Tag zwei Frauen ermordet, mehr als zur Zeit vor Erdoğans Regierungsantritt. Auch die Medien verändern sich. Beispielsweise wurde die Jazzsängerin Jehan Barbur von dem staatlichen Fernsehsender TRT eingeladen, und ihr wurde verboten, ein tiefes Dekolleté zu tragen. Ich bin sehr pessimistisch, was die Zukunft betrifft. Meine einzige Hoffnung sind die jungen Leute, die heute demons­trieren, wie die Frauen auf den Demonstrationen gegen das Abtreibungsverbot.