Abdruck aus »Im Jahr des Hasendrachen«

Im Jahr des Hasendrachen

Christian Y. Schmidt gibt Einblicke in sein China-Tagebuch aus den vergangenen zwei Jahren.

Zeitenwende

Sollten mich meine immer noch nur ausgedachten Enkel einmal fragen, an welchem Datum denn nun ganz genau China die USA als weltweite Supermacht abgelöst hat, würde ich ihnen mit zittriger Stimme antworten: »Am 22. Januar des Jahres 2011.«
An diesem Samstag kam unser Präsident Hu Jintao gerade von einem historischen Staatsbesuch aus den USA zurück. Dort war er von Präsident Obama aufs Prächtigste empfangen worden, anders als noch vor vier Jahren von George W. Bush. Zu einem eigens anberaumten Staatsbankett kamen neben denen, die sowieso kommen mussten, auch die Ex-Präsidenten Carter und Clinton; außerdem machten Promis wie Barbara Streisand, Microsoft-Boss Steve Ballmer, Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour und Cellist Yo-Yo Ma dem Chinesen ihre Aufwartung. Zum Essen gab es pochierten Hummer, dazu spielten Lang Lang und Herbie Hancock. Weshalb man in den USA neuerdings chinesische Präsidenten so hofiert, hatte – wie Wiki­leaks enthüllte – die amtierende Außenministerin Hillary Clinton bereits am 24. März 2009 dem ehemaligen australischen Premierminister Kevin Rudd anvertraut: »Wie kann man mit seinem Bankier rüde umspringen?«
Zum Schluss des Besuchs kaufte der so umschmeichelte chinesische Bankier seinen besten Schuldnern noch ein paar Sachen ab, im Gesamtwert von 45 Milliarden US-Dollar, darunter 200 Passagierflugzeuge. Gleichzeitig erwarb die Industrial and Commercial Bank of China (ICBC) 80 Prozent der amerikanischen Bank of East Asia. Damit hält erstmals eine staatliche chinesische Bank die Kontrollmehrheit an einem US-amerikanischen Geldhaus, das auch im Privatkundengeschäft engagiert ist.
»Allerdings«, so würde ich den Enkeln sagen, »war es gar nicht dieser Besuch, der mich erkennen ließ, dass sich nunmehr die Zeiten endgültig gewandelt hatten. Viel wichtiger war eine Party, die am Abend des 22. Januar im Neubau des Central Academy of Fine Arts Museum in Peking stattfand und zu der ich gar nicht eingeladen war.« Veranstaltet wurde sie von Prada China, und zwar zur Feier der Tat­sache, dass sich im letzten Jahr der Verkauf von Prada-Produkten in China um sensationelle 51 Prozent gesteigert hatte. Auf diese Party schlich ich mich durch einen Seiteneingang. So war ich mit einem Male einer unter 2 000 Reichen und Nichtganzsoschönen – darunter Miuccia Prada persönlich –, die sich auf Pradas Kosten ein Glas G.-H.-Mumm-Champagner nach dem anderen einverleibten und vom Sashimi-Buffet naschten. Und dann stand plötzlich ER vor mir, nur drei Meter entfernt auf einer gar nicht mal so großen Bühne, und sang »West End Girls«.
Ich war fassungslos, als ich begriff, dass man hier als kleines Party-Schmankerl den wirklichen und leibhaftigen Neil Tennant eingekauft hatte, Sänger des erfolgreichsten Pop-Duos aller Zeiten, der Pet Shop Boys. »Im selben Moment, meine lieben Enkelchen, wusste ich, was die historische Sekunde geschlagen hatte. Ich fragte mich nur ein wenig bang: Wen oder was kauft China als Nächstes? Den Papst? Stephen Hawking? Nabokovs Gebeine? Oder am Ende sogar mich?«

Wann platzt der Klangkokon?

Äußerlich gleicht China immer mehr den Ländern des Westens. Angesichts dieses Phänomens kommt unter China-Freaks ab und zu die Frage auf, ob sich denn die Chinesen auch innerlich den Westlern anpassen, oder ob sie sich nicht doch auch zukünftig einen irgendwie ursprünglich chinesischen Gewohnheitskern bewahren werden? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Betrachtet man allerdings die Entwicklung auf dem Krachsektor, dürfte die Antwort nicht schwerfallen.
Traditionell sind die Chinesen völlig geräusch­unempfindlich. Das beweisen sie jedes Jahr wieder anlässlich der Feierlichkeiten zum chinesischen Neujahr. Da werden Hiroshima-Bomben direkt neben Taijiquan-Rentnern gezündet, die sich im Zeitlupentempo ungerührt weiterbewegen, und Säuglinge lächeln selig, wenn in den Straßen Kakophoniker auf Stalinorgelimitaten ihre Krachpartituren herunterspielen. Doch auch den Rest des Jahres macht den Chinesen ein gepflegter Lärm nichts aus. Ich sah hier schon Leute direkt neben Bohrmaschinen und Presslufthämmern schlafen.
Kurz vor Weihnachten besuchte ich dann den McDonald’s bei uns um die Ecke. Hier lief in voller Lautstärke eine getragene Version von »Jingle Bells« – in einer Endlosschleife. Der croonende Sänger begann so lange immer wieder mit »Dashing through the snow/In a one horse open sleigh«, bis ich mein doppeltes Cheeseburger-Menu zusammenpackte und nach draußen stürzte. Von meinen chinesischen Mitbürgern um mich herum dagegen muckste sich keiner. Ich war mir sicher, dass sie die sich permanent wiederholende Albdrucksymphonie noch nicht einmal hörten. Immer noch scheinen Chinesen in einem eigenen Klangkokon eingesponnen zu sein, der verhindert, dass unerwünschte Geräusche wahrgenommen werden.
Langsam scheint sich jedoch dieser Schutzmantel aufzulösen. So wurde anlässlich der diesjährigen Neujahrsfestivitäten in Peking signifikant weniger geballert als in den Jahren zuvor. Das, was einem die Trommelfelle klingeln ließ, war nicht mehr Stalingrad oder Dien Bien Phu, sondern allenfalls die Erstürmung der Düppeler Schanzen. Und dann las ich im letzten Monat die unfassbare Meldung in der Zeitung, dass die Bewohner einer Wohnan­lage im südlichen Pekinger Distrikt Daxing gegen den Betrieb der neuen U-Bahn demons­triert hatten, wegen des Lärms. »Ich kann so lang nicht schlafen, bis der letzte Zug durch­gefahren ist«, beschwerte sich Anwohner Wang Jinan bei der Global Times. »Und ich wache durch den Lärm des ersten Zugs am Morgen auf.«
Ich denke, diese zwei Sätze beweisen, dass die Chinesen langsam auch sensorisch andere werden. Ich hoffe nur, dieser Prozess schreitet schneller voran. Seit Wochen werden in meiner Nachbarwohnung zu Renovierungszwecken mehrere Bohrmaschinen betrieben, und zwar immer genau dann, wenn ich mich an den Schreibtisch setze. Meine offenbar noch nicht verwestlichten chinesischen Nachbarn stört das wenig. Ich dagegen bekomme keinen geraden Satz zustande. Wenn Sie also mit diesem Buch nicht zufrieden sein sollten, beschweren Sie sich bitte nicht bei mir, sondern gleich bei meinen dauerrenovierenden Nachbarn.

Weißer Terror

Immer wieder treffe ich in Deutschland auf Leute, die verwundert sind, wenn ich vom Pekinger Winter erzähle. Das mag daran liegen, dass sie sich China als exotisches Land denken. In exotischen Ländern, so hat es sich in ihre Köpfe eingebrannt, scheint permanent die Sonne und ist es durchgehend heiß. Die Sonne scheint in Peking tatsächlich sehr häufig. Doch obwohl die Stadt auf demselben Breitengrad wie Madrid, Sardinien oder Ankara liegt, ist es hier im Winter meistens genauso kalt wie in Berlin oder Warschau. Nur Schnee fällt seltener, denn die Pekinger Winter sind sehr trocken. Zu trocken, wie das hiesige Weather Modification Center meint. Es nutzt deshalb jede Gelegenheit, um es schneien zu lassen. Dazu wird mit Kanonen, die am Stadtrand stehen, Silberiodid in jede etwas vielversprechendere Wolke geschossen, die sich über dem Stadtgebiet blicken lässt. Auf diese Weise wird sie »gemolken«.
Das ging im Winter 2009 leicht daneben. Nach einer Silberiodidattacke schneite es viel mehr als gedacht. Bäume knickten um, der Flughafen und eine Reihe von Ausfallstraßen mussten gesperrt werden. Problematisch war auch, dass man es bereits am 1. November schneien ließ. Das ärgerte die Pekinger besonders, weil die offizielle Heizperiode erst am 15. November beginnt. Vorher werden die zentral regulierten Fernheizungen nicht angeworfen. Nach dem Schneefall saßen also viele Leute in ihren Büros und Wohnungen und bibberten.
Normalerweise aber sind die Pekinger von Schneefall sehr begeistert, weil er eben so selten ist. Im Winter 2011 war der Enthusiasmus besonders groß, denn das Wetterveränderungszentrum hatte erst am 10. Februar Schnee vom Himmel schießen können. Das war der späteste Schneefall in Peking seit 60 Jahren. Allerdings lieben die Pekinger gar nicht mal so sehr den Schnee an sich. Sie sind einfach nur ganz verrückt danach, ihn sofort wieder aus der Welt zu schaffen.
So machten sich denn auch schon am frühen Morgen nach der Schneefallnacht lachende und lärmende Trupps in der ganzen Stadt auf, um dem Schnee mit Besen, Schaufeln und anderem Gerät auf den weißen Pelz zu rücken. Dabei gehen diese Schneebeseitigungsbrigaden mit großer Gründlichkeit vor. Sie lassen das weiße Zeugs in Kanalisationsschächten verschwinden oder schaufeln es in Windeseile zwischen Büsche und Rabatten. Sofort wird auch das ganze Salz, das man den Winter über für diesen Moment aufgespart hat, auf die Straße geknallt. In diesem Winter lag es auf einigen Straßen so dick, dass der Asphalt auch noch Wochen nach dem Streuen weiß war. Dass das viele Salz den mühsam am Leben gehaltenen Alleebäumen Pekings nicht gerade gut tut, ist den Salzstreuern offenbar egal. Wichtig ist nur, dass man es dem weißen Terror ordentlich gezeigt hat.
Jetzt ist der Schnee fast ausgerottet, und es kann endlich Frühling werden. Es sei denn, das Wetterveränderungszentrum macht uns erneut einen Strich durch die Rechnung und lässt es noch mal schneien. Der 16. März wäre dafür ein guter Termin. Wie in jedem Jahr endet die Heizperiode genau einen Tag vorher.

Ein Loch in der großen Firewall

In Deutschland ins Internet zu gehen, ist langweilig. Wenn nicht gerade der Rechner brennt oder man bei Youtube auf ein GEMA-zensiertes Video klickt, kann man fast jede Seite aufrufen und betrachten. Das ist in China eigentlich nicht anders. Hier braucht man nur ein Virtuelles Privates Network (VPN), dann hat man ebenfalls zu jeder Seite Zugang – wenn auch meistens nicht so schnell.
Manchmal aber wird das Herumcruisen im Netz hierzulande zum Abenteuer. Offenbar wegen der seltsamen »Geisterrebellion« (Frankfurter Allgemeine Zeitung), die hier im Februar und März 2011 lief – eine Revolution, zu der außer einigen Reportern niemand hinging –, hatten die Internetzensoren in der letzten Woche zwei Ports lahmgelegt. Das Resultat: Mein VPN und das vieler anderer funktionierte nicht. Ich kam also nicht mehr durch die Great Firewall of China (GFW), die Inhalte aus dem Netz filtert, die die chinesische Regierung nicht mag. Das hieß: kein Facebook mehr, kein Twitter, kein Youtube, keine Blogspot- oder Wordpressblogs, kaum Pornoseiten und Wikipedia nur ohne Bilder.
So ist es jedenfalls normalerweise. Doch dieses Mal war alles anders. Denn während ich in der Nacht vom 10. auf den 11. März noch ordentlich herumwulackte, um die große Internetmauer wieder zu durchstoßen, stellte ich fest, dass sie ganz offenbar an einigen Stellen zerbröselt war. Youtube funktionierte zum ersten Mal seit dem Frühjahr 2008 wieder ohne VPN, genauso wie Youporn. Auch die ansonsten geblockte, tolle Chinamedien-Seite danwei.org war offen, und selbst die Blogspot-Seiten, auf denen die Geisterrebellen zur Revolution in China bliesen, waren ohne Weiteres zu lesen. Die Seiten bauten sich auch schneller auf, und selbst die Videos streamten. Schnell war klar: Die Zensoren hatten beim Rumfummeln am chinesischen Internet irgendwas kaputtgemacht.
Also lehnte ich mich zurück und sah mir zunächst einmal alle Dalai-Lama-Clips der letzten Jahre an. Das Interview mit Christiane Amanpour, das »Interview by Canadian press in Canada«, das »His Holiness the Dalai Lama – a classic interview«, den »Australia Zoo welcomes Dalai Lama visit«-Clip und – der absolute Hammer: »Sharon Stone talks about the Dalai Lama Land Rover on Ebay«. Dann wandte ich mich Youporn zu, wo ich mir interessante Dokumentationen wie »Helping family doing porn«, »Cat woman begs for it« oder »Japanese coed gets fucked by her professor at home« zu Gemüte führte. Dabei meditierte ich über die Frage, ob die Zensoren diese Seiten vielleicht doch extra freigeschaltet hatten, um die Internetrevo­lutionäre entweder zu ermüden (Dalai Lama) oder aber abzulenken (Pornos).
Inzwischen neige ich allerdings einer anderen Theorie zu. Weil vom kurzfristigen Zusammenbruch der Great Firewall – am nächsten Tag war alles wieder normal – nichts in den Zeitungen stand und auch nichts im Internet, vermute ich mal, dass man das alles bloß für mich gemacht hatte: um mich ein bisschen zu unterhalten. Sollte es so sein, liebe Internetpolizei, sage ich euch an dieser Stelle endlich einmal das, was ich schon länger sagen wollte, wofür es aber bisher noch keinen Anlass gab: Xiexie bzw. Danke.

Roter Stern über Tigerochsenerde

Hartnäckig hält sich unter westlichen Verlegern das Gerücht, Bücher über China seien schwer verkäuflich. Das Gerücht muss älter sein. Hilary Spurling, die britische Biographin der Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck, berichtete neulich hier in Peking, Bucks Agent habe das erste Buch der Autorin, »Ostwind – Westwind«, zwölf Monate lang vergeblich verschiedenen Verlagen angeboten, bis es endlich von dem kleinen, ums Überleben kämpfenden John-Day-Verlag genommen wurde. Dem Folgeroman »Die gute Erde« erging es 1931 ähnlich. Auch der amerikanische Journalist Edgar Snow hatte offenbar Schwierigkeiten, sein Buch »Roter Stern über China« 1937 an einen Verlag zu bringen. »Niemand dachte«, so zitiert Spurling Snows Ehefrau Helen Foster Snow, »irgendetwas aus oder über China sei für die USA von Interesse. Du konntest es nicht verkaufen.« Deshalb erschien Snows Buch zuerst im Left Book Club in Großbritannien, unter Ausschluss der breiten Öffentlichkeit.
Allerdings wurden chinaphobe Verleger immer wieder eines Besseren belehrt. »Die gute Erde« verkaufte nicht nur in den ersten beiden Jahren nach Erscheinen fast zwei Millionen Exemplare, das Buch wurde auch mit großem Erfolg verfilmt und zu einem Theaterstück umgearbeitet. Außerdem bescherte es seiner Autorin den Pulitzerpreis und 1938 als erster amerikanischer Frau den Nobelpreis für Literatur. Snows Buch war trotz seines Erscheinens in dem linken Buchclub ein solcher Erfolg, dass es im selben Jahr, in dem Buck den Nobelpreis erhielt, bei Random House in New York herauskam. Ebenso wie »Die gute Erde« ist es bis heute in Druck und soll sich inzwischen zwei Millionen Mal verkauft haben. Wie viele Exemplare von Bucks Buch insgesamt über den Ladentisch gingen, ist kaum zu überprüfen, auch weil es in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurde.
Trotz dieser imposanten Zahlen tun sich Verleger weiterhin mit China-Themen schwer. Frau Spurling erzählte, ihr Verlag sei zunächst nicht sonderlich begeistert gewesen, als sie vor ein paar Jahren die Pearl-S.-Buck-Biographie vorschlug. Die alte China-Trulla, so der Tenor, würde doch heutzutage keinen mehr interessieren. Nur weil Spurling zuvor eine erfolgreiche Henri-Matisse-Biographie abgeliefert hatte, ließ man sie gewähren. Das Buch lief dann nicht schlecht, und gewann zudem den James Tait Black Memorial Prize, einen der renommiertesten Literaturpreise Großbritanniens.
Auch ich weiß von Autoren, die ihre China-Bücher bei deutschen Verlagen angeboten haben und eine Absage nach der anderen kassierten: Nach den Olympischen Spielen 2008 und der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2009, bei der China Gastland war, hieß es, China-Themen seien jetzt erst einmal »durch«.
Zum Glück gibt es auch andere Verleger. Zu diesen zählt ein kleiner Berliner Verlag, in dem ein wirklich tolles China-Buch erschienen ist. Oh, ich sehe, Sie halten es gerade in der Hand. Und lesen es sogar. Sie sind ein echter Kenner. Jetzt empfehlen Sie das Buch aber auch bitte weiter. Schreiben Sie eine begeisterte Amazon-Rezension und bekennen Sie in einem sozialen Medium Ihrer Wahl, wie sehr es Ihnen gefällt. Vielleicht wird dann aus dem kleinen Verbrecher-Verlag am Ende noch der John-Day-Verlag unserer Tage. Doch, doch, es liegt an Ihnen.

Sorge um Durs Grünbein

Wenn ich mit meinen Büchern durch Deutschland toure, stellt mir das Publikum am Ende einer Lesung fast immer wieder dieselben Fragen: Wann genau wird China zusammenbrechen? Wie stehen Sie zu den Massenerschießungen in Fußballstadien? Und wo ist eigentlich dieser Ai Weiwei?
Natürlich versuche ich, nach bestem Wissen und Gewissen zu antworten. Bei der ersten Frage verweise ich kurzerhand auf vergangene, längst falsifizierte China-Untergangsprognosen. Auch zu den Massenerschießungen kann ich etwas sagen. Hier zitiere ich den Direktor der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation Dui Hua Foundation, John Kamm, der in der Washington Post vom 16. August 2010 nicht nur betonte, dass öffentliche Hinrichtungen in China schon seit längerer Zeit nicht mehr gestattet sind, sondern auch darauf hinwies, dass sich dort die Zahl der Todesurteile in den letzten zehn Jahren halbiert hat. Kamm fasste zusammen: »Was die Einhaltung der Menschenrechte angeht, hinkt China im internationalen Vergleich noch hinterher. Bei der Reduzierung der Hinrichtungen aber wurden wichtige Fortschritte gemacht.«
Ich würde es begrüßen, wenn man solche sachlichen Informationen nicht nur sporadisch auch in der deutschen Presse läse. Wahrscheinlich dürfte das die Diskussion nach meinen Lesungen verbessern. Doch in Deutschland reagiert man auf die Menschenrechtslage in China am liebsten mit Pathos und Geknatter. Vorneweg ist dabei nicht selten die grüne Ballaballa-Politikerin Claudia Roth, die nach der Festnahme Ai Weiweis im April 2011 ausgerechnet in der Bild-Zeitung die bereits oben genannte dritte Frage stellte: »Wenn die Machthaber in Peking den berühmtesten Künstler Chinas einfach verschwinden lassen, reißen sie sich selbst die Maske vom Gesicht. China muss erklären: Wo ist Ai Weiwei?«
Auch der Staatsdichter Durs Grünbein (diverse Preise, Orden und Stipendien aus öffentlichen Kassen) reihte sich in das Bataillon der Ai-Frager ein. »Wo ist Ai Weiwei?« schrieb er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. April 2011 über einen Kurzbeitrag. Die Frage an sich war natürlich berechtigt. Selbst die chinesischen Gesetze schreiben vor, dass Angehörige eines Festgenommenen ein Recht auf Aufklärung über dessen Verbleib haben.
Doch Grünbein begnügte sich nicht damit, an dieses Recht zu erinnern. Er blies sich selbst zum wagemutigen Kämpfer gegen die chinesische Regierung auf, indem er seinen mit Kafka-Zitaten aufgepimpten Text folgendermaßen begann: »Leg dich nicht mit China an, warnen Freunde. Ich lege mich nicht mit China an, Gott bewahre … « Am Ende aber traute sich der Dichter doch: »Ich bin ganz unbedacht, ich frage nur: Wo ist Ai Weiwei?«
Angesichts dieser zwei Sätze stellen sich mir allerdings ganz andere Fragen: Welche Bestrafungsmaßnahmen fürchtete denn Durs Grünbein von der chinesischen Regierung? Dass sie ihm im Nachhinein das Villa-Massimo-Stipendium aberkennt? Dass sie Hacker auf ihn ansetzt, die ihm die letzten Metaphern von der Festplatte klauben? Oder dass ihm heimlich das große Bundesverdienstkreuz gegen eine Mao-Plakette ausgetauscht wird? Ich habe keinen Schimmer.
Die chinesischen Behörden jedenfalls beantworteten die Frage nach dem Verbleib von Ai Weiwei nach genau 81 Tagen. Sie ließen den Künstler wieder frei, wahrscheinlich ohne auch nur einen Satz von Durs Grünbein gelesen zu haben. Aber auch danach blieb Ai im deutschen Feuilleton dauerpräsent, obwohl es dazu keinen wirklichen Anlass mehr gab. Dabei könnten sich die Feuilletonisten doch endlich einmal ein paar Fragen widmen, die mir schon länger auf der Zunge brennen. Zum Beispiel: Wie geht es eigentlich Durs Grünbein? Ist bei ihm noch alles in Ordnung? Oder platzt dieses lyrische Super-Ich demnächst vor Gespreize, vor Affektiertheit und Bedeutungshuberei?

Hilfe, ich germanisiere!

Diese Kolumne wäre fast nicht fertig geworden. Seitdem ich in Deutschland weile, werde ich nämlich immer fauler. Bekanntermaßen haben es ja die Deutschen nicht so mit der Arbeit – bzw.: Eigentlich ist das eher weniger bekannt. Doch überall ist es abzulesen, zum Beispiel an den Schildern der Berliner Baustellen. Das Mehrzweckbecken im Kreuzberger Prinzenbad sollte angeblich bis Mitte Mai repariert sein; die Wasserleitungen im Bötzowviertel bis April verlegt. Tatsächlich aber sind die Arbeiten auch jetzt, im Juni, noch nicht abgeschlossen. Und genau so sieht es an jeder Baustelle in Deutschland aus, die ich in den letzten Monaten inspizierte. Nichts hat man hier fristgemäß vollendet. Der wahrscheinliche Grund: die deutsche Faulheit eben.
Die wird auch von den Statistiken bestätigt: Nach Angaben des European Industrial Relations Observatory, einer EU-Behörde, arbeitete im Jahr 2008 ein durchschnittlicher Deutscher pro Jahr 1 650,6 Stunden. Innerhalb der EU taten nur noch die Schweden, die Dänen und die Franzosen weniger. Ein durchschnittlicher Rumäne dagegen kam auf 1 856, ein Grieche auf 1 816 und ein Spanier immer noch auf 1 715,8 Arbeitsstunden jährlich. Das heißt, ein Deutscher arbeitet im Schnitt 165,4 Stunden weniger als ein Grieche. Das sind rund 21 Arbeitstage.
Im Vergleich zu einem durchschnittlichen Chinesen aber tut ein Deutscher fast keinen Handschlag. Leider fehlen hier die aussagekräftigeren Jahresarbeitszeitstatistiken. So müssen wir uns mit dem Vergleich der Wochenarbeitszeiten begnügen. Ein durchschnittlicher Hongkonger arbeitet 48,8 Stunden pro Woche (2008), ein Pekinger 47,2 (2006). Die deutsche Wochenarbeitszeit beträgt dagegen 41,2 Stunden (2008). Dabei ist zu berücksichtigen, dass in die letzte Zahl noch nicht die 30 Urlaubstage und die ganzen Feiertage der Deutschen eingerechnet sind. Die tatsächliche deutsche Wochenarbeitszeit liegt also deutlich unter dem genannten Wert. In China hat man dagegen lediglich fünf bis 15 Tage bezahlten Urlaub, weshalb sich hier die Wochenarbeitszeit kaum reduziert.
Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass die Deutschen ziemlich ungern arbeiten. Sie machen sich lieber auf Kosten der Rumänen, Griechen und Chinesen einen lauen Lenz. Sie feiern eine Party nach der anderen, vor allem hier in Berlin, wobei sie große Mengen Alkohol in sich reinschütten. Dabei macht es ihnen besonders viel Spaß, Menschen, die diese Form des Dauermüßiggangs nicht mehr gewohnt sind, einzuladen, abzufüllen und sie auf diese Weise ganz langsam mit dem deutschen Faulfiebervirus wieder zu infizieren.
Und so hat es denn auch mich erwischt. Statt über ein anständiges Kolumnenthema nachzudenken, schob ich es immer wieder auf, dachte: »Kommste heut’ nicht, kommste eben morgen.« Zum Schluss fiel mir dann nur noch ein, die deutsche Faulheit selbst zu thematisieren. Das reichte noch für dieses Mal. Doch was mache ich in der übernächsten Wo … ? Ach, egal. Nur nicht heute. Pfffff. Rrrrrratz. Und schnarch.

Im Keimbett mit sozialen Unruhen

Letzte Woche Dienstag – man schrieb den 14. Juni 2011 – bekam ich einen Heidenschreck. Der Grund: Ich hatte Spiegel Online angeklickt. Und hier konnte ich ganz oben auf der Seite lesen, dass es im gesamten China »brodelt«: »Soziale Unruhen« lautete die Dachzeile, und die Schlagzeile darunter: »Proteststurm lässt Chinas Mächtige zittern«. Ich zitterte sofort mit, um mich selbst, meine demnächst anstehende Rückkehr nach Peking und um meine chinesische Verwandtschaft natürlich.
Dabei hatte SPON mich ja gewarnt, und zwar immer und immer wieder. »Die Gefahr sozialer Unruhen wächst«, meldete man am 11. Juni, und zwar wegen der um 5,5 Prozent gestiegenen Inflation in China. Dasselbe hatte man am 11. Mai geschrieben (»Die Gefahr sozialer Unruhen wächst«), am 27. April (»Dem Land drohen soziale Unruhen«) sowie am 15. desselben Monats (»Dem Land droht soziale Unruhe«). Auch im Jahr zuvor hatte man mich nicht im Unklaren gelassen: »Um soziale Unruhen zu verhindern«, hieß es am 14. Juni 2010, »müssen sie (die Regierenden) die gefährlich wachsende Kluft zwischen Arm und Reich lindern.« Und da natürlich »eine Kluft lindern« gar nicht geht, würden Unruhen unausweichlich sein.
Noch früher aber, am 4. Mai 2010, war das chinesische Internet der Grund für die wachsende Gefahr gewesen. »Wo sich so viele Menschen zusammentun, dort ist ein Keimbett für soziale Unruhe.« Am 5. April 2009 lag’s am sich abschwächenden Wirtschaftswachstum: »Es drohen soziale Unruhen.« So zieht’s sich durchs halbe Jahr 2009, während am 11. Dezember 2008 zur Abwechslung mal die fehlenden Menschenrechte die Schuld trugen: »In der Kommunistischen Partei ist die Nervosität groß – sie fürchtet wachsende soziale Unruhen.« Und weiter geht’s, das ganze Jahrzehnt hinab (Liste gegen 50 Euro in Briefmarken), vom 18.Dezember 2008 (»Bricht das Wachstum ein, fürchtet die Führung in Peking soziale Unruhen«) über den 29. Juni 2007 (»Peking befürchtet soziale Unruhen«) bis beispielsweise zum 15. März 2002: »Chinas Führung (…) fürchtet soziale Unruhen, weil sich die Landbevölkerung gegenüber den Städtern benachteiligt fühlt.«
Spätestens an diesem Punkt erkannte ich, dass SPON bzw. der Spiegel China bereits seit Jahrzehnten jedes Jahr aufs Neue die aufregendsten sozialen Unruhen versprochen hatten, diese aber allenfalls auf lokaler Ebene aufgetreten waren. Und auch der groß aufgemachte »Proteststurm« von letzter Woche flaute sehr schnell ab. Schon Stunden später war die Meldung von der SPON-Startseite verschwunden, und am nächsten Tag war in den restlichen deutschen Medien nichts weiter über Unruhen in China zu vernehmen.
Das beruhigte mich fürs Erste. Inzwischen aber mache ich mir neue Sorgen. Denn wenn einerseits immer nur das Gegenteil von dem stimmt, was im Spiegel steht und prophezeit wird, andererseits dort nie etwas über drohende Unruhen in Deutschland geschrieben wird: Muss dann die Lage hierzulande inzwischen nicht ganz schön brenzlig sein? Vielleicht sollte ich meinen Deutschland-Aufenthalt doch früher abbrechen, um mich in Chinas Hauptstadt in Sicherheit zu bringen. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein.

Heimweh

Auch dieses Kapitel durfte ich aufgrund gewisser Umstände nicht in China schreiben. Es musste in Deutschland entstehen. Das hatte zur Folge, dass mein Heimweh nach Peking immer stärker wurde. Um dieses Gefühl zu bekämpfen, strolchte ich in Asia-Märkten herum und holte mir die dort ausliegenden chinesischsprachigen Zeitungen. So konnte ich endlich einmal wieder auf die vertrauten Schriftzeichen starren, ohne auch nur einen Satz wirklich zu verstehen. Die Zeitungen heißen Ouzhou Xinbao (Europe Times) oder Huashangbao (Chinesische Handelszeitung) und erscheinen allesamt in Deutschland. Seit Ende Juni ist auch die Deutsch-Chinesische Allgemeine Zeitung auf dem Markt. Ein löbliches Experiment, auch weil das Blatt komplett auf Deutsch herauskommt.
Dieser Zeitung entnahm ich, dass es hierzulande einen siebzigköpfigen chinesischen Chor namens Sinophonia gibt, der u. a. 2009 beim »Mondfestkonzert« in Ludwigsburg aufgetreten ist. Das ist natürlich hocherfreulich. Der Chor ist allerdings in Stuttgart beheimatet, wo ich niemals bin und sein werde, weil ich dorthin nie zu einer Lesung eingeladen werde. Zudem kann ich seit dem Stimmbruch nicht mehr singen. Als China-Surrogat kommen die Sinophonen also kaum in Frage.
Auch von einem Besuch im Dong Xuan Center in Berlin-Lichtenberg hatte ich mir mehr versprochen. Zwar sieht es hier tatsächlich so aus wie auf einem Markt in Peking jenseits der vierten Ringstraße, sind doch die drei großen Hallen vollgestopft mit den prächtigsten chinesischen Waren: Johnnie-Walker-Flaschen-Wecker, Plastikfinger als Badezimmerhaken, ja selbst die lang vermissten »frischen Eier aus Käfighaltung« (Original-Verpackungsaufschrift) führt man hier. Betrieben wird der Markt aber hauptsächlich von Vietnamesen, die so klingen, als seien sie direkt aus dem Ruhrgebiet eingewandert. Sie sagen alle »datt« und »watt«.
So bleibt die beste Methode der China-Sehnsuchtsbekämpfung, einfach durch die Berliner Straßen zu schlendern, sich wie zufällig an asiatisch aussehende Menschen heranzupirschen und ihre Gespräche zu belauschen. Die Chance, dabei auf Mandarin sprechende Chinesen zu treffen, ist nicht schlecht. Die Festlandchinesen haben, wie die Berliner Morgenpost im Juli 2011 meldete, im Mai desselben Jahres die Japaner als größte Gruppe unter den asia­tischen Berlin-Besuchern überholt; in diesem Monat besuchten bereits über 5 000 von ihnen die Hauptstadt.
Ich jedenfalls hatte neulich sofort Glück, als ich mich einer asiatisch aussehenden Frau und ihren zwei Kindern im Volkspark Schöneberg näherte. »Kan! Xiao tuzi!« rief die Mutter, und wies damit ihre Kleinen auf ein paar Kaninchen hin, die über die Wiese hoppelten.
Ich freute mich fast schimmelig, und das nicht nur aufgrund der vertraut klingenden Vokabeln. Ich dachte auch daran, wie viel zukünftige Entwicklung in dieser bukolischen Szene lag. Denn die zukünftige Rolle von Deutschland und dem Rest Europas wird ja wohl die eines großen Freizeitparks sein, in dem chinesische Mütter ihren Kindern Sachen zeigen, die es in chinesischen Städten nicht mehr gibt. Wenn also dieser Park irgendwann einmal komplettiert ist, kann es gut sein, dass man mich noch öfter im alten Deutschland herumstromern sehen wird.
Kommentar auf taz.de zu diesem Beitrag von einer gewissen Nele: »Dieser Artikel ist Rentner-Humor. Aber total okay.« Über diese Formulierung habe ich mich sehr gefreut. Und überlege seitdem, ob ich nicht bestimmen soll, dass sie in abgewandelter Form dereinst auf meinen Grabstein gemeißelt wird: »Rentner-Humorist – aber total okay.«

Christian Y. Schmidt ist freier Autor, Senior Consultant der Zentralen Intelligenz Agentur und Rotationskom­munist. Gegenwärtig arbeitet er an der Entwicklung einer solarbetriebenen Zeitmaschine, die 2017 auf den Markt kommen soll. Von Mitte April an ist er mit seinem Buch auf Lesetour ().

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Christian Y. Schmidt: Im Jahr des Hasendrachen. Kolumnen. Verbrecher-Verlag, Berlin 2013, 217 Seiten, 14 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.