Sarrazin zum ­Niederknien

Anne ist 19 und sitzt im Knast. Gierig nach Freiheit stürzt sie sich von der Gefängnismauer und bricht sich das Sprungbein, den Astragalus. Der Schmerz im Fuß ist so heftig, dass er im Himmel die Sterne explodieren lässt. Doch die Entflohene schnappt schier über vor Glück: »Ich bin geflogen, meine Süßen! Ich bin geflogen, geschwebt und gekreiselt, eine Sekunde, die lang war und gut, ein Jahrhundert.«
Von einem Unbekannten wird die Zerschundene am Straßenrand aufgesammelt. Wie Anne hat der kleine Gauner Knasterfahrung. Die Verletzte verliebt sich, sie werden ein Paar. Doch jeder Schaufensterbummel durch Paris könnte Annes letzter sein: »Der Knast, das ist mein gerader Weg.« Ihr Geliebter lässt sie warten und sagt Sätze wie: »Mein Häschen, ich habe dich betrogen.« Als Anne Geld braucht, geht sie kurzerhand auf den Strich. Warum sie es tut? Weil es schnell geht.
1965 hat Albertine Sarrazin mit ihrem Roman »Astragalus« in Frankreich für eine literarische Sensation gesorgt. Wie konnte eine junge Frau es wagen, mit so unerschrockener Poesie und ohne eine Spur von Reue über das Gefängnis zu schreiben? Simone de Beauvoir war von Sarrazins Debüt begeistert. Nun liegt der Text der im Alter von 29 Jahren Verstorbenen in einer neuen Übersetzung vor, versehen mit einem anrührenden Nachwort von Patti Smith. Ohne Erbarmen beschreibt die Autorin einen Mann als »Walross in einem Meer von Pernod«. Ihre Prosa ist so scharfsinnig und frech, dass sie aufjauchzen lässt.

Albertine Sarrazin: Astragalus. Hanser-Verlag, München 2013, 232 Seiten, 19,90 Euro