Al-Jazeera und die Umbrüche in den arabischen Ländern

Keine Frühlingsgefühle

Die Umbrüche in der arabischen Welt wirken sich negativ auf die Quoten von al-Jazeera aus.

Dass der Sender überhaupt existiert, ist ein Paradox in einem Land, das als absolute Monarchie regiert wird. Das Emirat Qatar kennt keine kritische Öffentlichkeit und verfügt dennoch über eine Sendeanstalt, die weltweit bekannt und einflussreich hat: Al-Jazeera, 1996 gegründet als Stimme der arabischen Welt, musste allerdings in jüngster Zeit deutliche Quoteneinbrüche in den arabischen Ländern hinnehmen. Von diesen Problemen können auch die Expansionspläne des Senders nicht ablenken. Im August wird al-Jazeera America in den USA auf Sendung gehen; der britische Sender al-Jazeera folgt im November; auch eine französische und eine spanische Ausgabe sind geplant. Dennoch steckt der Sender in einer Krise. »Die ›Stimme der Araber‹ entgleist«, titelte die algerische Tageszeitung El-Watan am 14. Juli.
Die französisch-tunesische Politologin Olfa Lamloum vertritt in ihrem 2004 in Frankreich erschienenem Buch »Al-Jazeera, rebellischer und zweideutiger Spiegel der arabischen Welt« die These, der Sender habe die Ideologie des politischen Islam unter- und die kontroverse Debatte überschätzt. Dies erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch. Kritik und Kontroverse sind dem Islamismus nicht eigen. Wer sich auf den »göttlichen Willen« zur Rechtfertigung des eigenen politischen oder alltäglichen Handelns beruft, setzt voraus, dass es Entscheidungen gibt, die einer freien Diskussion entzogen sind. Dennoch profitierten die Vertreter des politischen Islam jahrzehntelang vom Image, Rebellen gegen die bestehenden Weltordnung zu sein. Zu den politischen Hinterlassenschaften des Kolonialismus in der Region gehören jene Kräfte, die unter anderen Umständen als bloße Reaktionäre wahrgenommen würden, die sich jedoch als Rebellen gegen eine »importierte« Ideologie profilieren konnten. Tatsatsächlich holten sich die ersten Anhänger des Liberalismus wie auch des Marxismus in der Region ihre Anregungen aus jenen europäischen Ländern, die als Kolonialmächte präsent waren. Daraus resultiert ein widersprüchlicher, aber scheinbar kohärenter Status als Rebellen, die gleichzeitig ein reaktionäres Programm verfolgen.
Solange die Islamisten verschiedener Couleur eine gewisse »politische Unschuld« für sich reklamieren konnten, weil ihre Vorstellungen sich noch nicht vor der Wirklichkeit blamiert hatten oder ihre Anhänger verfolgt wurden, schadete der Meinungspluralismus ihnen nicht. Ihre Ideologie erschien als ein mögliches Angebot unter vielen. Zu offenem Protest gegen den Einfluss der Islamisten auf den Sender kam es erstmals im Mai 2010, als fünf prominente Journalistinnen den Sender verließen und ­gegen Bevormundungen etwa bei der Bekleidungsordnung protestierten. (Jungle World 30/2010)
Mit den Umbrüchen von 2010/11 in den arabischsprachigen Ländern hat sich die Lage ­geändert. Islamistische Parteien kamen in die Regierungsverantwortung und mussten sich dadurch in gewisser Weise einem Realitätstest unterziehen, so in Tunesien und Ägypten, aber auch in Marokko und kurzzeitig in Kuwait. Schnell stellte sich bei der Bevölkerung Enttäuschung ein, gegen konkrete Vorhaben formierte sich Protest. Auch wenn die dominierenden ­islamistischen Parteien in Marokko und Tunesien ihre Verantwortung durch die Bildung von Regierungskoalitionen, die verschiedene ideologische Richtungen vereinten, auf mehrere Schultern zu verteilen und zu relativieren versuchten – sie waren bis zu einem gewissen Grad entzaubert.
Vor diesem Hintergrund erschien al-Jazeera vielen nunmehr als islamistischer Propa­ganda- und Regierungssender. Beispielsweise in Tunesien. Dort kam es zuletzt Anfang Juli dieses Jahres zu einem Skandal, als al-Jazeera einen »unabhängigen Analysten« auf dem Bildschirm präsentierte, der die Absetzung der islamistischen Regierung in Ägypten kommentierte. Es handelte sich dabei um Mourad Yaacoubi. Der Sender ließ allerdings unerwähnt, dass Yaacoubi ein Mitarbeiter des tunesischen Präsidenten Moncef Marzouki ist, der zwar selbst kein Islamist, aber heute einer ­ihrer engsten Bündnispartner ist. Noch dreister hatte es der Sender Anfang des Jahres getrieben. Am 8. Februar war ein von mutmaßlich islamistischen Tätern ermordeter linksnationalistischer Oppositionspolitiker beerdigt worden. An dem Tag waren mindestens Hunderttausende, womöglich Millionen von Menschen deswegen auf der Straße. Bei al-Jazeera aber waren Bilder zu sehen und Slogans zu hören, die von der weitaus kleineren Gegendemonstration der al-Nahdha-Anhänger stammten.
Auch die Sichtweise der islamistischen Regierungspartei auf den Sender ist symptomatisch. Am 18. April verbreitete die Partei ein Pressekommuniqué, in dem sie sich gegen eine »Schmutzkampagne gegen Qatar« im eigenen Land verwahrte. Der Einfluss des Golfstaats in Tunesien war zuvor unter anderem aufgrund seiner Unterstützung für al-Nahdha in die ­Kritik geraten. Die Partei antwortete darauf in ihrer Presseerklärung mit dem Argument, al-Jazeera habe durchaus eine positive Rolle »bei der Verwirklichung der tunesischen Revolution« gespielt. Zur selben Zeit sahen viele Bürger des Landes die Revolution als verraten an.
Tunesien ist wohl das Land, in dem der Einbruch der Einschaltquoten für al-Jazeera am spektakulärsten ausfällt. Laut Angaben der marokkanischen Webseite Lakome.com, die Anfang März dieses Jahres den Quotenrückgang in mehreren arabischsprachigen Ländern untersuchte, ging die Zuschauerzahl in Tunesien von 950 000 im Januar 2012 auf nur noch 200 000 im Dezember desselben Jahres zurück. Grund ist neben dem Vertrauensverlust, den die Fernsehanstalt wegen ihrer Nähe zu der stärksten Regierungspartei hinnehmen musste, auch inländische Konkurrenz. Satellitensender wie al-Watanya (Die Nationale) oder Hannibal – ein Name, der auf die Geschichte Karthagos auf dem heutigen Boden Tunesiens anspielt – gewinnen an Einfluss. Hier herrscht ein relativ freier Diskussionsstil in Interviews, Gesprächsrunden und Talkshows, wie er noch vor gut zwei Jahren in einheimischen Medien undenkbar gewesen wäre. Die Berichterstattung hat zudem einen lokalen Schwerpunkt, wie ihn al-Jazeera bisher nicht bieten kann.
Auch in anderen arabischsprachigen Ländern erlebt al-Jazeera einen Rückgang des Interesses. Lakome.com zufolge ging die Einschaltquote in Marokko von einem Spitzenwert bei 2,5 Millionen auf – im Frühjahr – 1,8 Millionen zurück. Dort erscheint die mediale Konkurrenz, die im Falle Marokkos vor allem aus französischen Fernsehanstalten besteht, nicht so attraktiv; und die einheimischen Medien werden noch stärker von den politischen Machthabern kontrolliert. Deutlicher fällt das Phänomen in Libyen und Ägypten aus. In Libyien hängt dies mit der Gründung des Senders Al-Hurra (Die Freie) zusammen, der Anfang des Jahres mit rund 800 000 Zuschauern erstmals mit al-Jazeera gleichauf lag.
In Ägypten ist der Rückgang der Einschaltquote nicht das einzige Problem, mit dem der Sender zu kämpfen hat. Schon bei den Demonstrationen gegen die von den Muslimbrüdern dominierte Regierung im November vergangenen Jahres wurden Büroräume von al-Jazeera in Kairo von aufgebrachten Demonstranten attackiert, weil dem Sender Propaganda für die Regierung vorgeworfen wurde. Mit den Massenprotestmärschen vom 30. Juni dieses Jahres und dem kurz darauffolgenden Sturz von Mohammed Mursi haben sich ähnliche Szenen wiederholt. Mehrfach mussten Kamerateams Demonstrationen überstürzt verlassen, bei denen ihnen »Irhal! Irhal!« (Haut ab!) entgegenschallte. Gleichzeitig geriet der Sender nicht nur von protestierenden Demokratieanhängern, sondern auch vom weniger demokratischen Militär her unter Druck, das am 3. Juli die Redaktionsräume in Kairo durchsuchte und Mitarbeiter einschüchterte. Am 8. Juli kündigten 22 Journalisten bei al-Jazeera in Ägypten und warfen dem Sender vor, »Bürgerkriegs­berichterstattung« zugunsten der jetzt oppositionellen Muslimbrüder zu betreiben. Auch jetzt ist al-Jazeera nach wie vor der einzige Sender, der eine ständige Liveberichterstattung vom Sit-in der Anhänger Mursis in Rabiya betreibt.