Die Arbeiten der Gruppe GRM zu elektronischer Musik waren wegweisend

Als die Klänge clever wurden

Der französische Komponist Pierre Schaeffer gründete Ende der fünfziger Jahre die Forschungsgruppe GRM, die ihrer Zeit voraus war. Wegweisende Pionierarbeiten elektronischer Musik entstanden hier, deren Einfluss bis heute spürbar ist. Recollection GRM, eine Veröffentlichungsreihe des Labels Editions Mego, macht diese Werke zugänglich.
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Möchte man sich auf musikalische Entdeckungsreisen begeben, so kann man momentan spannende Zeiten erleben. Denn plötzlich tauchen längst verschollen ­geglaubte Veröffentlichungen auf, werden mit geradezu wissenschaftlicher Akribie aufgespürt, archiviert und gepflegt. Was auf zahlreichen MP3-Blogs begann, hat mittlerweile wieder zu seinem Ursprungsmedium zurückgefunden. Vieles wird auf Vinyl wieder zugänglich gemacht. Sei es das größtenteils historisch interessierte Label Mississippi Records, das Platten zwischen Funk aus Mali, Outsider Gospel und allem Erdenklichen dazwischen wiederveröffentlicht; sei es das Label Strut mit südafrikanischem R & B, äthiopischem Jazz und Underground Disco der späten siebziger Jahre; sei es das allgegenwärtige Soul-Jazz-Label, das Raritäten unzähliger Genres wie Dub, deutsche Elektronik aus den achtziger Jahren und Weltmusik auf den Markt bringt – die Zahl der verfügbaren Veröffentlichungen ist so groß, dass man es kaum noch schafft, diesen Wust zu überschauen.
Zu diesen Labels gehört auch Recollection GRM, ein Sublabel des – zumindest für Freunde der experimentellen elektronischen Musik – bekannten Wiener Labels Editions Mego um Peter Rehberg, der in den vergangenen 15 Jahren das Feld zwischen Noise, Laptopmusik, Kunst und Experiment beackerte. Die von Rehberg sowie der GRM, vertreten durch François Bonnett und Christian Zanesi, etablierte Agenda von Recollection GRM besteht darin, ausgewählte Aufnahmen und Schlüsselwerke aus dem Katalog der GRM erneut beziehungsweise erstmalig zu veröffentlichen. »Es ging uns darum, diese Arbeiten zu einem erschwinglichen Preis verfügbar zu machen; abseits der horrenden Summen, die man inzwischen normalerweise für die ursprünglichen Veröffentlichungen zahlt«, erklärt Rehberg.
Hinter der GRM, der Groupe de Recherches Musicales, verbirgt sich eine akademische Forschungsgruppe, die 1959 von Pierre Schaeffer gegründet wurde, einem der Väter der Musique Concrète, auf deren Grundannahmen die GRM aufbaut. Getragen von der Idee des Futurismus, dass jedes Geräusch Klang und somit auch Musik sei, entwarf die Musique Concrète um Schaeffer und Pierre Henry in den späten vier­ziger Jahren eine Musik, die sich ausschließlich aus der Montage von Tonaufnahmen verschiedenster Dinge wie Industrielärm, Stadtgeräusche oder Naturimpressionen speiste. Das Ergebnis ist, verglichen mit den abstrakten Musikentwürfen dieser Zeit, wie etwa Pierre Boulez’ Serialismus oder den Ausläufern der Zwölftonmusik, sehr greifbar, direkt und für das ungeschulte Ohr weitaus eingängiger.
Mögen die Ideen der GRM an die Musique Concrète anschließen, erweiterten sie den Forschungsbereich jedoch um selbst eingespielte Instrumentalpassagen, erste Gehversuch mit Synthesizern und Experimente mit verschiedensten Aufnahmetechniken. Einige der wichtigsten Komponisten der späten Moderne versammelten sich in diesem Kreis. So etwa Bernard Parmegiani und Iannis Xenakis, die für zahlreiche Schlüsselwerke der modernen Komposition zwischen 1959 und den siebziger Jahren verantwortlich sind.
Die klangliche Vielfalt der GRM ist immens. Sie reicht von atonalem Fiepen und Zwitschern, das die Arbeit von Ivo Malec durchzieht, über die dichten Klangwolken Iannis Xenakis’ und Guy Reibels bis hin zu den verfremdeten Atmo-Aufnahmen von Luc Ferrari. All diese Arbeiten stoßen den Hörer darauf, dass es abseits klassischer Komposition eine musikalische Welt gibt, in der Klänge, denen wir alltäglich begegnen, eine zentrale Rolle spielen. Wobei der Verfremdungsgrad oftmals hoch genug ist, um die Grenze zwischen konkreten Geräuschen und neuen Klängen verschwimmen zu lassen. An die Stelle fest definierter Grenzen dessen, was landläufig als Musik verstanden wird, tritt in der Musik der GRM der Klang als Ereignis und Phänomen, der losgelöst von seinem Bedeutungshorizont Verwendung findet.
Die ästhetischen und philosophischen Diskussionen der Zeit waren – bewusst oder nicht – eng miteinander verknüpft. Während allerorten über die Brauchbarkeit der struktu­ralistischen Perspektive diskutiert wurde, verabschiedeten die Künstler der GRM die klassische Identifikation der Instrumente und Klangfarben und setzten ihr ein Sound-Vokabular entgegen, das von Ambiguität gekennzeichnet ist und sich direkten Zuweisungen entzieht. Hier wird offensichtlich, wie sehr die frühe elektronische Musik von dem Gedanken getragen war, eben neue Klangfarben zu entdecken und zu nutzen – ganz im Gegensatz zu späteren Entwicklungen, die darauf abzielten, mit Hilfe von Synthesizern möglichst genau vermeintlich »echte« Instrumente zu imitieren.
So verkopft und akademisch die Herangehensweise auch erscheinen mag, Recollection GRM verdeutlicht vor allem, welchen Eifer und welche Lust am Experiment die Möglichkeiten neuer Technologien von Aufnahme­geräten, Synthesizern und Effektgeräten bei den Künstlern weckten, so überrascht es wenig, dass den Veröffentlichungen nichts Angestaubtes, Historisierendes anhaftet. So richtig wollen sich die Aufnahmen nicht einer spezifischen Periode zuordnen lassen, sie können ohne Weiteres als aktuelle Arbeiten durchgehen.
Auch Rehberg sieht die Widerveröffentlichung ausgewählter Werke der GRM kaum historisch motiviert: »An den Aufnahmen der GRM hat mich immer begeistert, dass sie ästhetische und technische Pionierarbeit sind. Hier geht es nicht um eine kleine abgekapselte experimentelle Nische, sondern um Arbeiten, die auch heute noch für sich selbst stehen können. Auch wenn es eher ein Klischee ist, zu behaupten, dass man inzwischen mit Hilfe eines Computerprogramms zur Audiobearbeitung in sechs Sekunden das erledigen kann, wofür Parmegiani sechs Monate benötigt hat, so hat er mit seiner Herangehensweise doch stark Einfluss darauf genommen, wie man heutzutage solche Programme überhaupt benutzt. Und da nicht alles, was in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren in der GRM passiert ist, groß­artig war – da stimmen mir sicherlich auch die Protagonisten der GRM zu – sehe ich Recollection GRM auch nicht als eine historisierende Reihe von Wiederveröffentlichungen, die sich um Vollständigkeit bemüht, sondern vielmehr als ein qualitativ motiviertes Projekt«, erklärt Rehberg.
Die Alben sind aufwendig mit Prägedruck gestaltet und erinnern optisch an die Silberdruck-Cover der INA-GRM-Veröffentlichungen – die GRM arbeitete damals mit dem Institut National Audiovisuel zusammen – aus den siebziger Jahren. Alle Platten beinhalten Linernotes, eine gute Einführung in die Arbeitsweisen und Klangwelten der Künstler liefern. Insbesondere »Traces One & Two«, Werkschauen aus bislang unveröffentlichten Stücken des Instituts, verdeutlichen sehr gut die klangliche Vielfalt der Reihe, wenn etwa Dominique Guiots einen elektronischen Urwald mit Vogelgezwitscher zum Leben erweckt oder Francis Régnier mit seinem »Chemins d’avant la Mort« eine schrille Lärmwand entstehen und in morbider Schönheit zerfallen lässt.
Als neunte Veröffentlichung erscheint nun eine weitere Arbeit von Bernard Parmegiani bei Recollection GRM. Auf »De Natura Sonorum« ist Parmegiani den Klängen zwischen fiepsigen Rhythmusminiaturen, zufällig wirkenden Impressionen, die wie ein Windspiel zwischen den einzelnen Tönen pendeln, und elegischen Klangbädern auf der Spur. Gerade Stücke wie »Étude Élastique« mit ihrer Mischung aus federnden Klängen und konterkarierendem Rauschen sind dermaßen einnehmend, dass man erst am Ende, wenn erste tonale Elemente aus dem Nebel aufsteigen, feststellt, wie wenig man diese vermisst hat. Stücke wie »Natures Éphémères« tänzeln hektisch wie Freejazz-Skalen durch den Raum, um in einzelnen Passagen Platz zu machen für Momente kurz vor der endgültigen Stille. Als Ruhepol dazwischen liegen die düsteren Flächen von »Géologie ­Sonore«, die wie frühe, prototypische Dark-Ambient-Entwürfe drohend in der Luft hängen. Wer jedoch meint, dieser Klanggewalt mit Laptop-Lautsprechern oder kleinen weißen Ohrhörern begegnen zu können, wird enttäuscht werden. Parmegianis Klangwelten lassen sich besonders auf ausgewachsenen HiFi-Systemen wiedergeben. Zu viel der filigranen Höhen und der wuchtige Bassakzente, der winzigen Details, die sich zwischen den Sounds verbergen, gehen ansonsten im Transfer zwischen Medium und Hörer verloren. Recollection GRM sorgt dafür, dass diese Veröffentlichungen, deren Schönheit sich auf mittelmäßigen MP3 nur im Ansatz erahnen ließen, endlich zugänglich gemacht werden.